Die Schwierigkeiten der Beantwortung diese Frage sind angesichts des historischen Vermächtnisses, das auf ihr lastet, enorm. Um sich anzunähern, versuchen wir zunächst die Fragestellung selbst zu untersuchen, ohne in der darauf folgenden Abhandlung eine vollständige Antwort zu versprechen.
1. Welche gesellschaftliche Alternative?
Wir befinden uns nicht mehr am Ausgang des 19. Jahrhunderts, an dem der Sozialismus als einzige Alternative am Horizont leuchtete. Das „kurze 20. Jahrhundert“ von 1917-1989/91, wie es der große britische Historiker Eric Hobsbawm nannte, war durch und durch geprägt vom Versuch der Etablierung eben dieses Sozialismus. Dementsprechend ist der Ausgang dieses kurzen 20. Jahrhunderts von dessen Scheitern geprägt. Dieses Faktum muss unweigerlich der Ausgangspunkt jeder Wiederaufnahme der Debatte sein.
Die Dekonstruktion nicht nur des Realsozialismus, sondern auch der diversen Stränge und Strömungen des Marxismus und selbst des Marxschen Werkes wurden nicht nur in feindlicher Absicht, sondern auch von jenen, die am Ziel der Überwindung des Kapitalismus festhalten, vielfach unternommen. Dabei haben sich Elemente des Neubeginns herauskristallisiert, die es nun in einem langen und notwendigerweise unabgeschlossenen Prozess zusammenzutragen gilt.
2. Status und Methode
Ganz entscheidend hierbei ist die alte Kantsche Frage nach den „Bedingungen der Möglichkeit“ des Unternehmens. Auf der einen Seite wären da die Schärfe des Konflikts zwischen den globalen Eliten und dem Widerstand sowie die Aktualität der Krise, auf der anderen Seite die offensichtliche Inaktualität der Revolution im Weltmaßstab und insbesondere im Westen angesichts eines abwesenden Subjekts, dem die dafür notwendige Machtentfaltung zugedacht werden könnte.
So augenfällig notwendig die Konjunktion zwischen einer unmittelbaren Antwort auf diese Krise und einem alternativen Gesellschaftsmodell ist, so konstruiert und mechanisch erscheint die marxistische Lösung in Form eines „Übergangsprogramms“. Ein Programm, das quasi automatisch von den Interessen der Unterklassen zum Sozialismus führt, hat sich als Wunschdenken erwiesen.
Die Kritik an der Spaltung in Minimal- und Maximalprogramm bleibt indes hochaktuell. Jede Diskussion um die Züge einer alternativen Gesellschaft, die sich nicht die Frage des Übergangs und der konkreten politischen Kräfte, die diese bewirken können, stellt, ist Zeitverschwendung, es sei den man will Wolkenkuckucksheime konstruieren.
Eine ganz entscheidende Frage ist also, welche Rolle ein alternativer Gesellschaftsentwurf für eine unmittelbare und konkrete antikapitalistische Opposition spielt. Und in welcher Weise können sie mit einander verbunden werden? Die vorgeschlagene Arbeitshypothese besteht jedenfalls darin, dass eine antagonistische Kraft verschiedene Gesellschaftsentwürfe zulassen muss und sich nicht auf einen einzigen festlegen kann und darf. Zu notwendig unabgeschlossen sind die Ideen, denn um auszugären, fehlt ihnen die Praxis. Die kollektive Erinnerung an die zerschmetternde Niederlage ist zu frisch. Der Weg zu einem neuen hegemonialen Projekt ist sehr weit und wir stehen erst ganz am Anfang.
Neben der angesprochenen Frage des Grades der Abgeschlossenheit stellt sich jene des Anspruchs auf Systematik, Wissenschaftlichkeit usw. All das sind nicht nur theoretische Erwägungen, sondern diese haben schwerwiegende politische Implikationen.
3. Name
Im Vergleich scheint die Frage banal, doch es bestätigt sich immer wieder, dass Form und Inhalt einen Zusammenhang aufweisen. Alles dreht sich dabei um die historische Referenz, die Beziehung zum historischen Sozialismus, Kommunismus, Marxismus und zur alten Arbeiterbewegung. Wenn es unbestritten bleibt, dass die Anläufe des 20. Jahrhunderts sich in die lange Reihe der historischen Emanzipationsversuche in der Zivilisationsgeschichte einreihen, so ist es eine politisch eminent wichtige Frage, ob man sich den alten Mantel umhängen will oder nicht. Die Frage bedarf keiner sofortigen Antwort. Ab einem gewissen Reifegrad wird die Bewegung lesbare Signale absetzen.
Ausgangspunkt jeder Überlegung über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus muss das Scheitern des Realsozialismus sein. Der Versuch, sich stillschweigend dieses schmutzigen Hemdes zu entledigen und einen Neubeginn von Null, aus dem Nichts zu unternehmen, ist zum Scheitern verurteilt.
Denn der Realsozialismus und noch mehr die globale kommunistische Bewegung lassen sich nicht auf die Machinationen sowjetischer Eliten reduzieren, sondern sie repräsentieren den historischen Versuch der Emanzipation der Unterklassen im Weltmaßstab, wie er sich real vollzogen hat. Nicht nur, dass man vom Gegner immer wieder darauf hingewiesen wird, auch mögliche Unterstützer werden berechtigterweise Vergleiche anstellen.
Es gilt die Lehren aus der historischen Erfahrung zu ziehen, für die Millionen von Menschen ihr Leben opferten. Diese verflossenen Projekte muss man als unendlichen Reichtum betrachten und nicht nur als Last, denn an ihnen lassen sich die Vorstellungen einer alternativen Gesellschaft historisch konkret überprüfen. Darauf zu verzichten, heißt ein wenig brauchbares Abstraktum zu konstruieren.
Wir wollen hier allerdings keine Analyse dieser Geschichte durchführen. Ansätze dazu haben wir vielfach vorgelegt , im Gegensatz zu einem großen Teil derjenigen, die am Sozialismus als Ziel festhalten. Man muss sich vielmehr die Freiheit des Neuen nehmen, auf der Basis einer knappen Synthese der Schlussfolgerungen der Analyse.
4. Lehren des Realsozialismus
Der Realsozialismus stellte sich als schlechte Kopie des kapitalistischen Produktivismus heraus. Als höchstes Maß des Fortschritts galt der Massenkonsum, zu dessen Wachstum die Steigerung der Produktion und damit der Arbeitsproduktivität angestrebt wurde. Etwaige andere Kriterien der Emanzipation blieben dem Ziel des „Einholens und Überholens“ des Kapitalismus untergeordnet.
Doch hinsichtlich der industriellen Ausgangsbasis, der unendlich kleineren Kapitalausstattung, war und blieb die Sowjetunion heillos unterlegen und ist auch zukünftig jeder neue Versuch der Emanzipation von der kapitalistischen Elite, so er nicht in ihrem Zentrum selbst beginnt, dazu verurteilt, unter diesem Problem zu leiden.
So sehr es die russischen Eliten auch versuchten, auf der Basis des mit dem Westen geteilten positivistischen Wertekanons (Ökonomismus) gelang es ihnen nicht einmal einen Abklatsch des kapitalistischen Systems von Antrieb und Anreiz zu etablieren. Mit dem Massenkonsum des Westen vermochten sie nie und nimmer mitzuhalten. (Allein schon der westliche Neokolonialismus und der damit verbundene Werttransfer in die Zentren reproduziert den Vorsprung beständig und macht ihn uneinholbar.)
Sinnbild dieses ungleichen Wettlaufs ist die Konkurrenz zwischen Sputnik und amerikanischem Weltraumprogramm. Letztlich zeigt diese, dass der Bluff des Igels gegenüber dem Hasen historisch nicht durchzugehen vermag.
Ursprünglich hatte der Sozialismus die Aufhebung von Unterdrückung und Entfremdung verheißen. Marx hatte analysiert, dass der soziale Prozess den Menschen, den Akteuren desselben Prozesses, fremd und undurchsichtig wird. In heutiger Terminologie könnte man vom Sachzwang des Marktes sprechen. Das Gegenprogramm dazu: die Masse der Subalternen zu den Herrschenden, zu den bewusst ihr Schicksal Bestimmenden zu machen. Selbstbestimmung der assoziierten Individuen also.
Tatsächlich erschuf der Realsozialismus jedoch ein noch viel schlimmeres Monster als das Diktat des Marktes. Die kurzzeitige revolutionäre Diktatur eines „Wohlfahrtsausschusses“ wandelte sich in eine dauerhaft fremde Macht über die Arbeiterklasse. Diese Herrschaft war nicht mehr gedeckt durch den undurchsichtigen Sachzwang des Marktes, in dessen Schatten sich die kapitalistischen Eliten immer wieder als Hüter des Gemeinwohls darzustellen vermögen. Sondern sie erschien hart, direkt und manifest in Form der bürokratischen Eliten des Kremls. Trotz aller eingestandenen sozialen Unterschiede drängt sich in der Erscheinungsweise der Vergleich Stalinismus-Zarismus unweigerlich auf. Mit den entsprechenden sozialen und liberalen Reformen gelang es im Gegenzug dem imperialistischen Westen sich den Alleinvertretungsanspruch auf die „Demokratie“ zu sichern. Damit war der Kampf um die Hegemonie für den Kommunismus endgültig verloren.
Die Arbeiterklasse hat sich zur Rolle des revolutionären Subjekts unfähig erwiesen. Je mehr soziales spezifisches Gewicht sie in der UdSSR erlangte, desto politisch bedeutungsloser wurde sie. Der Kommunismus regredierte in einen aufgeklärten, technokratischen Absolutismus. So kam es, dass die Arbeiterklasse die Rückumwandlung der bürokratischen Eliten in eine kapitalistische Oligarchie letztlich nicht nur nichts entgegensetzte, sondern sich tatsächlich den Kapitalismus zurück wünschte.
5. Impotenz abstrakter Kritik
Gegen den Stalinismus gab es aus der revolutionären Bewegung von Anfang an Kritik. Deren Schwäche bestand darin, dass sie der autoritären Entwicklung nur höchst abstrakte Konzepte von (Arbeiter)demokratie entgegensetzte. Nach den Möglichkeiten und potentiellen Trägern ihrer Umsetzung wurde weniger gefragt. Den Stalinismus reduzierte und denunzierte man als moralisch schlecht. Über die Tendenzen und Interessen, die ihn entstehen ließen, legte man sich indes zu wenig Rechnung ab. Dies wäre jedoch die Voraussetzung dafür gewesen, die demokratischen Forderungen auch einführen und durchsetzen zu können).
Es sei daran erinnert, dass Lenin selbst am Vorabend der Revolution noch ultrademokratische Konzepte vertrat. So sollte jede Köchin dazu befähigt werden, den Staat zu leiten. Somit sollte in Grunde der Staat selbst aufgehoben werden.
Als er dann nach dem gewonnenen Bürgerkrieg sich der Eigendynamik des neu geschaffenen und unter extremen Opfern verteidigten Staatsapparates gewahr wurde, war er der erste Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die von ihm angeregte Arbeiterkontrolle wurde jedoch genauso oder sogar noch mehr vom Moment der Bürokratisierung erfasst als die Partei.
Retrospektiv betrachtet, scheint es nach dem frühen Tod Lenins nur eine Lösung gegeben zu haben, die paradoxer Weise der Forderung nach direkter und unmittelbarer Demokratie diametral entgegenläuft. Ein Militärputsch und die eiserne Diktatur der revolutionären Elite, die den Aufstieg des Stalinismus als Interessensvertreter des Apparates anknüpfend an die ererbte Kultur des Zarismus hintanhalten hätten können. Die notwendigen und langwierigen Maßnahmen zur Demokratisierung hätten so von oben gegen die sich formierenden Eigeninteressen des Apparats durchgesetzt werden können, bis zu einem Punkt wo die revolutionäre Elite wieder genug direkte und aktive Unterstützung aus den Massen hätte schöpfen können. (Das führt uns zur Bedeutung der Gewalt, des Staates, der Repräsentanz sowie der Zentralisierung, die weiter unten behandelt werden.)
Ein weiteres Problem der antistalinistischen Opposition war, dass sie sich in vielerlei Hinsicht in gewissen Grundprämissen vom Stalinismus nicht unterschied, Prämissen die sie vom orthodoxen Marxismus ererbt hatte und die teilweise bis auf Marx selbst zurückgehen. Da ist einmal der bereits erwähnte Ökonomismus und Produktivismus. Nicht umsonst waren es die Kader der linken Opposition, die zu Stalin übergingen, als dieser die Große Kollektivierung und die anschließende Industrialisierung unternahm. Stalin plagiierte nur ihre Theorie und prägte ihr die extrem autoritäre Form auf.
Die Massendesertion der Opposition zu Stalin kann nicht ohne den Historismus, den Glauben in die selbstentfaltende Logik der Geschichte, der der Sozialismus als Ziel unterschoben wird, erklärt werden. Wenn schon in der altehrwürdigen deutschen Sozialdemokratie die Entwicklung der (kapitalistischen) Produktivkräfte als Schritt zum Sozialismus angesehen wurde und selbst Engels den Wechsel der Macht nur mehr als letzten Stein in der Kette ansah, um wie viel mehr musste das für die Sowjetunion gelten, in der die Macht der Bourgeoisie bereits gebrochen war? Selbst Isaac Deutscher, der große aus der trotzkistischen Opposition stammende Historiker, hoffte nach dem Tod Stalins auf die selbstheilende Dynamik des Systems, nachdem die „Drecksarbeit“ der Industrialisierung endlich erledigt schien. Der Glaube an den unaufhaltbaren Fortschritt, insbesondere dessen materiellen Aspekt, war organischer Bestandteil des alten Sozialismus.
6. Kontingentes Ziel
Wie lässt sich nun auf der Basis der verarbeiteten historischen Erfahrung ein neues emanzipatorischer Projekt oder, weniger prätentiös: dessen Hauptmomente, positiv formulieren. Bevor wir das unternehmen, sei in Absetzung zum historischen Sozialismus jede Teleologie, jede Vorstellung von einer zielgerichteten Geschichte verworfen: In der Geschichte liegt kein Ziel beschlossen, sei es nun in den Produktivkräfte, im Widerspruch dieser mit ihrer gesellschaftlichen Organisationsform oder auch im Wesen des Menschen selbst. Der Sozialismus ist kein notwendiges Ergebnis der Geschichte, sondern, soviel hat die Geschichte gezeigt, maximal ein mögliches. Unser Gesellschaftsmodell ist bewusst als kontingentes konzipiert. Wir versuchen unser Ziel der Gesellschaft und Geschichte aufzuprägen, unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen und Möglichkeiten, dem was man mit großer Vorsicht als ihre Bewegungsgesetze fassen mag.
7. Entmachtung von der Peripherie aus
Wie für den historischen Kommunismus bleibt der Dreh- und Angelpunkt die Entmachtung und Enteignung der globalen Oligarchie. Diese blockiert die Emanzipation der Massen nicht aus schierer Boshaftigkeit und Schlechtigkeit, sondern aus den organischen Notwendigkeiten des Kapitalismus. Kapital will und muss sich verwerten, anhäufen und konzentrieren. Die Bedingung dafür ist und bleibt die exklusive Macht dieser winzigen Elite. Wir haben die unumgängliche Notwendigkeit einer Revolution im Sinne der Entmachtung dieser Eliten mehrfach argumentiert und wollen das hier nicht wiederholen.
Die Frage ist vielmehr, was man mit der errungenen Macht zu unternehmen gedenkt. Wie die Geschichte gezeigt hat, erfolgt die Entmachtung zuerst in der Peripherie, nicht im Zentrum. Das heißt, es ist wie im vergangenen Jahrhundert damit zu rechnen, dass es staatliche Konflikte mit den imperialistischen Staaten gibt. Tatsächlich ist die Welt wesentlich von diesen neokolonialen Kriegen geprägt, die alle Staaten und Kräfte der Botmäßigkeit des Westens unterwerfen sollen.
Ein Entwurf, eine Theorie einer alternativen Gesellschaft muss im Kern ein Modell jener Übergangsgesellschaften enthalten, die unweigerlich von der Peripherie ausgehen und entsprechend deren Bedingungen berücksichtigen müssen.
Das Modell für den Westen muss davon als Spezialfall abgeleitet werden und nicht wie bisher umgekehrt. Dabei müssen sich die revolutionären Kräfte auf die Position einer strukturellen Minderheit einstellen, die nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen die Oligarchie, die historisch auf einer breiten Mittelschicht, einem die übergroße Mehrheit umfassenden sozialen Block ruht, stürzen wird können. Der Kampf um Hegemonie im Gramscischen Sinn kann also im Westen nicht den Kampf um die Mehrheit bedeuten, sondern die Schaffung einer überlebensfähigen antagonistischen Minderheit, die ihre Chance nur im Rahmen eines globalen Konfliktes oder Bürgerkrieges erhält – mit den antiimperialistischen Massen der kapitalistischen Peripherie im Rücken.
Im klassischen marxistischen Kanon wäre man an diesem Punkt zur Verwaltung der Wirtschaft übergegangen, als Kernstück des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Wir wollen allerdings einen Umweg wählen.
8. Selbstbestimmung und Diversität
Selbstbestimmung ist einer der Schlüsselbegriffe, wenn nicht das Zentrum der Emanzipation. Allerdings hat er den Nachteil, vorerst einmal völlig abstrakt zu sein. So kann jeder das in ihn hineininterpretieren, was ihm gerade gefällt.
Dass das Modell der „westlichen Demokratie“ nichts mit Selbstbestimmung zu tun hat, ist jedem offensichtlich, der nicht das damit verbundene Wertesystem teilt. Es handelt sich um eine Inszenierung im Zusammenspiel mit dem alles durchdringenden Medien- und Kulturapparat, die die Macht exklusiv bei der winzigen kapitalistischen Elite hält – nicht ohne die passive Duldung des Mittelstandes, der dieses System trägt.
Wer ist nun das Subjekt, das sich selbst bestimmen soll? Der Einzelne, das Kollektiv, welches Kollektiv? Und wie geht man mit Konflikten zwischen verschiedenen kollektiven Subjekten um? Wem kommt da der Vorrang zu?
Bei Marx war das noch so abstrakt wie einfach. Der Kapitalismus erschafft in Form der Arbeiterklasse ein global homogenes Subjekt, das die Allgemeininteressen der gesamten Menschheit vertritt und in das die alten Klassen nach Erringung der Staatsmacht Schritt für Schritt assimiliert werden. Eine globale Polis , global assoziierte Individuen also, die totale Homogenität unterstellt und differenzierte, konfligierende kollektive Interessen mit dem Schwinden der alten Klassen für denkunmöglich erklärt. Die Interessen des Individuums können demnach also mit jenen des einzigen Kollektivs in exakte Deckung gebracht werden.
Dass es diese Homogenität nicht gibt und auch nie geben wird, selbst wenn die Verfügungsgewalt der Oligarchie über die Welt, die den Kern aller Konflikte konstituiert, gebrochen ist, ist nach Durchleben des 20. Jahrhunderts offensichtlich.
Kulturen, Nationen, Geschlechter, Menschen sind unterschiedlich, auch wenn diese Unterschiede nicht naturgegeben sind, veränderlich bleiben und sich historisch auch verändert haben. In ihrer Historizität und Dynamik hängt ihnen aber ein irreduzibles, selbständiges, nicht weiter zurückführbares Moment an. Diese Inhomogenität gilt nicht nur jeweils nach außen, sondern immer auch im Inneren der kollektiven Subjekte oder Kategorien. Ziel der Emanzipation ist es nicht die Unterschiede gänzlich aufzuheben oder zu nivellieren, sondern die daraus resultierenden Konflikte zu regulieren und zu minimieren, ihnen jedenfalls ihren antagonistischen Charakter zu nehmen und für möglichst viele Selbstbestimmung zu ermöglichen und zu verwirklichen. Das Recht auf Differenz und Andersartigkeit ist ein anderer Ausdruck für Selbstbestimmung.
Alles dreht sich also um die Art der Konstituierung der kollektiven Subjekte und ihre Beziehungen zu einander. Dabei gehen wir davon aus, dass die Organisationsform der kollektiven Produktion und die damit verbundene Aneignung – in Wechselwirkung und Überformung mit kulturellen Aspekten – diese Subjektkonstituierung bestimmt.
Dabei hat die kleine Gemeinschaft, die räumlich beisammen bleibt, die gemeinsam produziert oder zumindest ihr tägliches Leben gemeinsam reproduziert, in der man sich persönlich kennt, einen gewaltigen Vorteil. Sie kommt am ehesten dem Modell der Polis gleich, ist stark partizipativ und kommt mit einem Minimum an Repräsentation aus. Der Interessensausgleich ist auf unmittelbarer und täglicher Basis möglich. Was immer sich an wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sonstigen gesellschaftlichen Tätigkeiten auf diese unterste Ebene verlagern lässt, muss dorthin abgegeben, dezentralisiert werden. Diese Gemeinschaften können als die untersten Bausteine einer emanzipierten Gesellschaft gedacht werden.
Doch eine industrielle Gesellschaft produziert unweigerlich nicht nur lokal, sondern weist als eines ihrer grundlegenden Charakteristika Spezialisierung und Arbeitsteilung bis auf die globale Ebene auf. Natürlich ist das Delirium der Globalisierung der kapitalistischen Form geschuldet mit all den bekannten Auswüchsen. Doch es bleibt ein Rest an übergeordneten industriellen Strukturen, der unvermeidlich ist, will man ein gewisses, historisch erreichtes Niveau an Produktivität halten. (Die Konsequenzen, diese nicht zu halten oder gar nicht halten zu wollen, sind enorm – siehe weiter unten.) Diese übergeordneten Strukturen erfordern unweigerlich Repräsentation, auch berufsmäßige.
Die so konstituierten Kollektive verbinden und verschachteln sich zu größeren Einheiten entlang wirtschaftlicher Kooperation, sowie politischen und kulturellen Traditionen, möglichst so, dass die Interessen der Mehrheiten durchgesetzt werden, ohne jene der Minderheiten zu beeinträchtigen.
Bisher blieben die Ausführungen noch sehr abstrakt. Nun geht es darum, diese allgemeinen Vorstellungen historisch konkret zu machen. Die den Kapitalismus bestimmende und nach wie vor bedeutendste kollektive Organisation ist die Nation, weil sie staatsbildend ist, das heißt den Staat als Organ der Politik hervorbringt.
9. Nation und Staat
Die emanzipatorisch motivierte Kritik am Konzept der Nation und des Nationalstaates war und ist massiv, insbesondere nach 1989/91 – und vielfach berechtigt.
Der Nationalismus wird attackiert, weil er die Konflikte vor allem zwischen den europäischen Nationen entfacht und den ideologischen Überbau dafür geliefert hat. Oft genug von diesen Kritikern vergessen, ist da natürlich der mit den westlichen Nationen verbundene Kolonialismus und seine zivilisatorische Mission, die bis heute andauert (Stichwort: Demokratieexport). Aber auch in der Dritten Welt haben sich schon vor geraumer Zeit Stimmen erhoben, die das Konzept der Nation für ihre Verhältnisse als ungeeignet ansahen. Zu sehr wirkte es homogenisierend und damit unterdrückend, denn Nationen im europäischen Sinn gab es oftmals nicht einmal im Ansatz. So weit so gut.
Nun setzte nach 1989/91 die Kampagne der Eliten zur Globalisierung ein. Wie mit einem Bulldozer sollte der Widerstand der Staaten und Nationen gegen den Siegeszug des freien Marktes niedergewalzt werden. Der Westen vereint hinter den USA gegen den Rest der Welt. Der Nationalismus hatte als Legitimationsideologie ausgedient. Dabei bedienten sich die Neoliberalen nicht ungern auch Versatzstücke linker Ideologie. Nicht umsonst nannten sie sich ab und an sogar „Internationalisten“. (In einer Reihe von zahlreichen anderen Begriffen, die sie in ihr Gegenteil verkehrten.) Sie versuchten durchzuführen, was Marx im Kommunistischen Manifest als die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie bezeichnete: alle sich dem Weltmarkt entgegenstellende Hindernisse mit Gewalt aus dem Weg zu räumen, alle Subjekte aus ihren althergebrachten Bindungen zu befreien und über den Weltmarkt direkt zu assoziieren. Die Nationen und Nationalstaaten konnten dabei nur stören.
Das reflektiert sich übrigens auch im Weltrechtsprinzip, ebenfalls so ein Recyclingprodukt linker Versatzstücke, betrieben vom herrschenden Linksliberalismus. Das auf der nationalen Souveränität beruhende System des Völkerrechts, das als Subjekte nur Staaten kennt, soll zugunsten eines Prinzips ersetzt werden, wo das einzelne Subjekt einem Weltgericht gegenübersteht. Wenig erstaunlich, dass als Richter die globale Oligarchie selbst posiert. Bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass die USA nicht einmal das akzeptieren, denn für sie ist es undenkbar, dass Nichtamerikaner über sie richten.
Ziel ist, Politik überhaupt im Markt aufzulösen. Markt und Demokratie werden zu Synonymen. Dem Staat soll die Prärogative, das Vorrecht der Politik, die zumindest formal mit der Souveränität des Volkes legitimiert werden, gänzlich entzogen werden. Seine Aufgabe bleibt einzig die Verteidigung der Oligarchie – durch Repression und neuerdings durch Geldgeschenke.
Erschüttert nicht die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftskrise die antistaatliche Verve der Eliten? Könnte sie nicht letztlich zur offiziellen Rehabilitierung des Staates führen? Sicher, die Marktreligion hat viel Glaubwürdigkeit verloren. Wenn die Eliten sich Billionen vom Staat holen, warum müssen dann die Subalternen darben? Tatsächlich wird der Druck zu keynesianistischer Staatsintervention größer. (Die bisherigen Bankenrettungen haben mit Keynes jedoch denkbar wenig zu tun.) Dennoch wird das globale Freihandelsregime bisher noch nicht angezweifelt. Aber das kann noch kommen.
In diesem Kontext wird der zumindest ambivalente Charakter der Konzepte, die Politik jenseits von Staat und Nation konzipieren, augenfällig. Die Krise muss die Zweifel sogar noch verstärken. Nicht um die Macht im Staat zu kämpfen bedeutet, sie schlicht der Oligarchie zu überlassen, denn ignorieren kann man getrost die Machtlosen, die wirklich Mächtigen jedoch nicht.
Zuerst einmal das Offensichtliche: Insbesondere an der Peripherie ist die Entfernung der Oligarchie von den Schalthebeln des Staates die einzige Möglichkeit sich vor dem ständigen Zugriff des Imperialismus zu schützen. Nicht umsonst beantwortet dieser jeden bedeutenderen derartigen Versuch mit militärischer Gewalt. Politik, die nicht darauf abzielt letztlich den Staat in die Hand zu bekommen, ist im besten Fall impotent und illusionär. Ausgangspunkt sind dabei notwendigerweise die gegebenen Territorialstaaten und (mit Einschränkungen) auch die Nationen.
Gerade in der Peripherie gibt es kaum Nationen, die mit den europäischen vergleichbar wären. Nicht nur, dass deren Grenzen von den Kolonialisten auf dem Reißbrett gezogen wurden, ohne Berücksichtigung bestehender Entitäten. Das ist nur der offensichtlichste Ausdruck dessen, dass die Staats- und Nationsbildung vor allem unter den Bedingungen äußerer Intervention stattfindet.
Selbstbestimmung heißt heute zu allererst das Selbstbestimmungsrecht der Völker (auch jener, die keine Nationen sind) gegen den Imperialismus zu verwirklichen. Das ist der wichtigste Hebel zur Entmachtung der globalen Oligarchie. Das schließt sowohl die Verteidigung jener Staaten mit ein, die sich gegen den Imperialismus auflehnen, als auch das Recht der Völker und Nationen sich zu neuen Staaten zu konstituieren.
Hier kann wieder eine berechtigte Kritik einsetzen: Die Durchsetzung der Selbstbestimmung kann zu einer zunehmenden Zersplitterung größerer Staaten führen, die dementsprechend weniger Widerstand gegen den Imperialismus zu leisten vermögen. Nach dem Motto Teile-und-Herrsche fördert der Westen sogar Sezessionen.
Die Antwort darauf ist jene, deren Grundprinzip schon Lenin formuliert hat. Was wirklich zählt, ist letztlich die Völkerverständigung, die nur auf der Basis der Selbstbestimmung möglich ist. Ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis ist nur ohne systematische Unterdrückung möglich. Daraus kann sich dann ein größerer und festerer Zusammenschluss auf höherer Ebene ergeben.
Dazu muss aber das homogenisierende Konzept von Nation verworfen und durch ein einschließendes, Diversität und Differenz zulassendes ersetzt werden. In einem Staat müssen mehrere Nationen, Nationalitäten oder andere kollektive Identitäten und Entitäten Platz finden.
Das scheint auch ein Weg zu sein, alte kollektive Lebensformen wie beispielsweise bei den indigenen Gemeinschaften in Amerika oder Indien, viel mehr noch in Afrika zu erhalten und für die moderne Gesellschaft zu adaptieren. Es gibt natürlich auch Stimmen von außerhalb dieser Gemeinschaften, die dafür plädieren, diese Gemeinschaften überhaupt isoliert zu halten und die ihnen von der Anpassung abzuraten. Doch auch das ist eine Illusion, denn diese vollbringt bereits die blinde, zerstörerische, alles durchdringende Quasinaturgewalt des Weltmarktes. Es kann nur darum gegen die Integration in die Welt anders zu gestalten, sie aufzuhalten ist unmöglich.
In einer Nation können eventuell auch mehrere Nationen Platz haben, ohne sich aufzulösen. Das alte sozialistische Jugoslawien war dafür vielleicht das fortgeschrittenste Experiment. Erwachende Nationen wurden ohne sie aufzulösen eine Zeit lang in einer höheren, gesamt-jugoslawischen vereinigt. Die Gründe für das Scheitern liegen nicht vor allem in der Nationalitätenpolitik, sondern sind jenen, die auch die Sowjetunion zur Fall brachten, ähnlich. Dass sich das eine vom anderen nicht ganz trennen lässt, ist indes selbstverständlich. Das größte Problem der titoistischen Politik lag meines Erachtens darin, dass Selbstbestimmung an Territorium geknüpft wurde, trotz der Tatsache, dass die Nationalitäten vermischt lebten bzw. die Einsprengselungen historische Ursachen hatten, die noch nachwirkten und teilweise im kollektiven Bewusstsein noch Präsenz aufwiesen. Der Fehler geht bereits auf Lenin zurück, der Selbstbestimmung nur territorial konzipierte (und das gegen Otto Bauer aus gutem Grund, aber das würde hier zu weit führen).
Doch was bleibt von der alten marxistischen Idee der Aufhebung des Staates zumindest nachdem der Kapitalismus auch in seinen Zentren überwunden werden konnte?
Eins scheint klar: Wenn es den Imperialismus nicht mehr geben sollte, wenn also die Hauptquelle der globalen Konflikte endlich beseitigt sein wird, dann kann die Tendenz zur Zentralisierung, die die Konfrontation mit dem Imperialismus organisch erzwingt, zurückgenommen werden. Das Prinzip der Subsidiarität, der möglichst lokalen Selbstverwaltung, selbst des Rückbaus globaler ökonomischer Strukturen, kann sich nun voll entfalten. Der Zentralstaat muss einem verschachtelten System von Selbstverwaltungsorganen unterhalb der Nationsebene, aber auch oberhalb Platz machen. Damit muss wohl auch die Bedeutung der Nationen selbst zurückgehen. (Das darf nicht heißen, dass es nicht schon vorher in diese Richtung gehen darf. Es muss sogar. Aber im Hintergrund wird immer das aus dem Konflikt mit dem Imperialismus resultierende zentralisierende Moment wirksam bleiben.)
Marxistisch gesprochen, soll sich der Staat als Instrument des Klassenkonfliktes intern und vor allem extern überlebt haben. Das bedeutet aber nicht, dass sich damit Politik als bewusste Gestaltung der Gesellschaft aufhört. Im Gegenteil, die emanzipierte Gesellschaft kann nur als eine auf das äußerste politisierte Gesellschaft gedacht werden. Marx hatte sich den allseitigen Menschen nur als jenen vorstellen können, der seine eigene Gesellschaft ständig bewusst selbst produziert.
Da es die globale Polis nicht geben kann, bleibt Repräsentation in der Politik eine unumgängliche Notwendigkeit. Im Rahmen der spezialisierten Arbeitsteilung ist ein System ohne professionelle, berufsmäßige Politik nicht denkbar. Wenn man den Staat als Ausdruck dieser Form der Politik versteht, dann bleibt er eine anthropologische Konstante.
10. Gemeinschaft, Ethik und Neuer Mensch
„Homo homini lupus est“. Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagt Thomas Hobbes im „Leviathan“ und begründet damit eine grundlegende ethische Prämisse des Liberalismus. Nach dieser überwiegen immer die Interessen des Einzelnen und gegenüber dem Anderen ist der Mensch moralisch schlecht. Dieses Theorem blieb bis zuletzt einer der Kernargumente des alten Bürgertums gegen den Kommunismus.
Dem könnte man eine einfach invertierte, ins Positive gekehrte Anthropologie entgegensetzen, was vielfach auch getan wurde. Marx selbst sieht in seinen Frühschriften die Gemeinschaftlichkeit im Wesen des Menschen begründet, der sich allerdings noch seiner Entfremdung entledigen müsse.
Wir wollen da vorsichtiger vorgehen. Wir behaupten lediglich, dass der Mensch zur Gemeinschaft fähig sein kann, wenn er die dafür notwendigen Rahmenbedingungen vorfindet. Wenn er erlebt, als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden, dann hat er alles Motiv, sich gegenüber anderen reziprok zu verhalten. Bedingungen und Verhaltensweisen stehen jedenfalls in einer Wechselwirkung zu einander. Die Gemeinschaftlichkeit stellt sich als bewusste, kontingente Kulturleistung dar, zu der eine dazugehörige Ethik entwickelt und verbreitet werden muss. Eine emanzipierte, selbstbestimmte Gesellschaft ist also nur mit einem veränderten, neuen Menschen möglich, der einer gemeinschaftlichen Ethik verpflichtet ist. Selbstbestimmung und Gemeinschaft sind nur zwei Aspekte ein und derselben Sache, die bedeutet, individuelle Interessen mit kollektiven in Einklang zu bringen.
Wie wir gesehen haben, gibt es aber nicht nur ein globales Kollektiv Menschheit, sondern zahllose Untergliederungen in unterschiedliche kollektive Subjekte, die sich immer auch gegenüberstehen können. Emanzipation bedeutet, dass die legitime Selbstaffirmation den anderen ebenfalls zukommt. Gemeinschaftlichkeit kann nicht bedeuten, die jeweils eigene Gemeinschaft anderen über- oder unterzuordnen, sondern dem Anderen die gleichen Rechte zuzugestehen. Gemeinschaftlichkeit funktioniert letztlich nur, wenn sie universell konzipiert wird, also allen Menschen zukommt, auch ohne die globale Polis.
11. Verfügung über produktiven Apparat
Nach einem weiten Bogen über die Konzepte der der politischen Organisation kehren wir unter einem neuen Blickwinkel zur Frage der Wirtschaft zurück. Es ist offensichtlich, dass der produktive Apparat des Kapitalismus nicht so ohne weiteres in ein emanzipatorisches System übernommen werden kann. Zu sehr ist er von der spezifisch kapitalistischen Form der Jagd nach Profit geprägt. Umbauten im Sinne der Interessen der Mehrheit sind auf vielen Ebenen notwendig. Schon lange thematisiert ist die drohende ökologische Katastrophe. Eigentlich hat diese schon längst begonnen und es geht vielmehr um die Minimierung der Schäden oder gar nur die Abwendung der Selbstvernichtung.
Wenn nun die Oligarchie entmachtet wird (wenn vorerst nur in Teilbereichen), dann wechselt das treibende Prinzip der Produktion. Die Verteilung der Ressourcen erfolgt dann entsprechend politisch festgelegten Kriterien. Eines davon muss sein, dass Produktion und entsprechende Aneignung sowie Konsum auf der möglichst untersten, lokalen Ebene erfolgt und damit einer weitestgehenden direkten Kontrolle und Steuerung durch die Produzentenkonsumenten selbst unterworfen werden kann. Diese unmittelbare Selbstverwaltung, die die gesellschaftliche Arbeit in direkte Deckung mit dem eigenen Interesse bringt, gibt auch ohne neue Ethik und Moral ein sehr starkes Motiv für Engagement ab. Dafür kann durchaus auch in gewissen Maßen ein Absinken der Produktivität in Kauf genommen werden.
Insgesamt bedarf es der Dämpfung der Globalisierung, des Zurückfahrens der Großstrukturen, der Einschränkung der internationalen Arbeitsteilung auf das möglichst geringste Maß, denn je kleiner desto direkter die Kontrolle. Ganz verzichtet kann auf die Großindustrie jedoch nicht werden, denn es ist nicht anzunehmen, dass die bereits geschaffenen Bedürfnisse der gegenwärtigen Zivilisation gänzlich zurückgeschraubt werden können. Wünschenswert wäre es vielmehr, sie in eine vernünftige Richtung zu lenken. Der Charakter der Gesellschaft als globaler, als eine Welt, ist zum unverrückbaren Faktum geworden.
Der Konsumismus ist zwar ein globales Muster, dem auch die Ärmsten folgen, doch das darf darüber nicht hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der Menschen Mangel leidet. Wie geht man mit der Tatsache um, dass es im Slum oft statt der Reis- die Satellitenschüssel gibt? Ist es zu verurteilen, dass die, die nichts haben, zumindest Drogen konsumieren wollen? Nur dort, wo offensichtlicher Überfluss herrscht, lässt sich der Konsumismus frontal angreifen. Anderswo ist die Grenze zwischen Konsum und konsumistischem Auswuchs nur schwer zu ziehen, um so mehr als sie nicht verordenbar, sondern von den Menschen selbst zu wählen ist.
Jede Revolution an der Peripherie (und vermutlich nicht nur dort) wird zuerst einmal (zum größten Teil legitimer Weise) mit einem schier unstillbaren Konsumhunger konfrontiert sein. Klar, die Bedürfnisse müssen umgebaut werden, ein neues Wertesystem geschaffen werden. Soziale Anerkennung kann nicht mehr zuerst über materielle Symbole vermittelt werden. Doch all das braucht Zeit und darf nicht von oben dekretiert werden. Der Traum vom Mercedes Cabrio hat sich als hartnäckig erwiesen, auch ganz unten. Man darf unterstellen, dass selbst die Aktivisten von al Quaida trotz all der Verheißungen des Paradieses gegen diese irdischen Verlockungen nicht immun sind.
Das Problem der Arbeitsproduktivität, unter dem auch der Realsozialismus litt, bleibt also eminent wichtig. Der Produktivität kann und darf nicht alles andere untergeordnet werden, die politische Beteiligung, Selbstbestimmung, ja Selbstverwirklichung der Massen hat unbedingten Vorrang. Das um so mehr als die politische Motivation gleichzeitig Motor der Produktion ist. Aber wenn die materiellen Bedürfnisse der Massen auf Dauer nicht gestillt werden können, dann kann das ebenfalls zu einer politisch gefährlichen Abwendung führen.
Zudem ist die Produktivität ein wesentlicher Faktor dafür, die notwendige Arbeitszeit zu reduzieren. Kürzere Arbeitszeiten geben einer der wesentlichen Maßstäbe der Emanzipation und Freiheit ab. Sie stoßen den Weg zur Bildung und Politik für die Massen auf. Es stimmt, dass es ein Ziel sein muss, die kapitalistische Trennung von Arbeit und Freizeit aufzuheben, doch das ist der Endpunkt eines langen Weges. Die Verkürzung der Arbeitszeit liegt hingegen ganz am Beginn dieses Weges.
12. Aufhebung der Arbeitsteilung
Ein ganz prominentes von Marx proklamiertes Ziel ist die Aufhebung der Arbeitsteilung, weil diese letztlich die Wurzel der sozialen Stratifizierung bildet. Marxens Ausspruch, dass er am „Vormittag jagen, am Nachmittag fischen und am Abend kritisieren“ wolle, tendiert zu einer Fehlinterpretation dahingehend, dass die funktionelle Arbeitsteilung überhaupt aufgehoben werden solle. Das würde das Ende der Industriegesellschaft überhaupt bedeuten, was niemals in Marxens Sinn gelegen wäre.
Vielmehr muss es darum gehen, dass jeder Mensch über sein Leben hinweg eine Vielzahl von Professionen erwerben und Tätigkeiten ausüben kann, so dass letztlich die hierarchisierten Kasten Arzt und Putzfrau verschwinden. Insbesondere soll sich jeder in der professionellen Politik versuchen können. Zudem sollen die notwendigen Tätigkeiten, die heute das geringste Sozialprestige aufweisen, auf alle verteilt werden. In einer armen, unproduktiven Gesellschaft käme das einer unzulässigen Verschwendung von Reichtum gleich. Für eine produktive Gesellschaft stellt das die Freiheit dar, die erst Gleichheit der Möglichkeiten und damit die Gemeinschaft herstellen kann – eine Freiheit, die ihrerseits wieder zu mehr Produktivität anspornt.
Die Arbeit soll so weitgehend als möglich vom Zwang der Notwendigkeit befreit zu einer Form der Selbstverwirklichung, der freien Lebensäußerung, der Selbstbestimmung werden.
Erst mit dieser Aufhebung der lebenslangen Arbeitsteilung kann auch die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern hergestellt werden. Denn erst wenn die Kindererziehung beiden Geschlechtern gleichermaßen obliegt, kann das Unterdrückungsverhältnis aufgehoben werden.
13. Übergang und Dissens
Bei der bisherigen Darstellung sind wir überall auf das Problem des Übergangs von den gegenwärtigen Verhältnissen inklusive der kulturellen und psychologischen Konstitution der Individuen selbst hin zur angestrebten neuen Ordnung gestoßen. Das ist notwendigerweise so. Jede Theorie einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus muss als Kernstück die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Übergangs behandeln. Alles andere ist politisch wertlose Träumerei.
Ein Problem bisheriger Übergangsgesellschaften war, dass Maßnahmen meist von oben verordnet wurden und nicht auf Freiwilligkeit beruhten. Das war vielfach der Zwangslagen geschuldet, in denen sie sich befanden. Allerdings wurde aus dem Ausnahmezustand Normalität. Hat man zu einer gewissen Stabilität gefunden und scheint die Existenz des Systems nicht tagtäglich akut bedroht, dann muss man der breiten Bevölkerung zunehmend Raum geben, sich demokratisch auszudrücken. Dazu gehört es unbedingt auch Dissens zuzulassen. Konflikt zu erlauben und damit zu absorbieren, zeigt nicht die Schwäche, sondern im Gegenteil die Stärke eines Systems an.
Damit müssen von den revolutionären Kräften für notwendig oder wünschenswert gehaltene Maßnahmen nicht mehr vom Staat für alle angeordnet werden, sondern man kann sie als freiwilliges Experiment vorantreiben, das mit seinem Beispiel wirkt. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um kulturrevolutionäre Unternehmen handelt, die das alte Wertesystem in Frage stellen.
Hält man die Aufspreizung der Löhne als Motivation für eine Mehrheit oder zumindest gewisse Gruppe für notwendig, können andere Sektoren zu einem weniger materiell geprägten System der Anreize übergehen. Oder man bietet kürzere Arbeitszeiten, dafür aber auch weniger Anteil am Gesamtprodukt. So können die verschiedenen Sektoren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und über unterschiedliche Wege in Richtung einer neuen Gesellschaft gehen. Entscheidend ist dabei, dass sie selbst entscheiden, selbst über sich bestimmen. So können Unterschiede, kann Differenzierung letztlich zu mehr und nicht zu weniger Konsens beitragen.
Zu guter Letzt: Ein entscheidendes Problem der Vergangenheit war die exklusive Macht der revolutionären Partei über den Staat. Der Staat, bedroht durch den äußeren Feind des Imperialismus und durch enorme innere Konflikte, wurde zum Bonaparte, der von oben den Kompromiss vermittelte. Opfer davon war die revolutionäre Partei selbst, deren Legitimität sich der verselbständigte Staatsapparat bediente. Auch so lässt sich der Stalinismus erklären.
Nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts scheint der postkapitalistische Staat als Resultante verschiedenster Interessen, nicht nur der revolutionär-kollektivistischen, eine unumgängliche Notwendigkeit. Wenn also die revolutionäre Partei vom Staat verschlungen zu werden droht, dann drängt sich die Idee auf, die Partei vom Staat zu differenzieren. Das heißt nicht, dass die Partei nicht entscheidenden Einfluss auf diesen ausüben soll. Doch sie muss darstellen, dass auch andere Kräfte wirken, diesen auch Artikulationsmöglichkeiten einräumen, um sich von ihnen auch entsprechend distanzieren zu können. Anderenfalls wird die Partei, im Versuch die anderen zu unterdrücken, ein vermitteltes Organ jener vermeintlich ausgeschalteten Interessen. Es wäre nicht zum ersten Mal in der Geschichte, dass schließlich die Sieger das Programm der Besiegten auszuführen gezwungen sind.
Eine Übergangsgesellschaft hin zur Emanzipation muss auf die Dauer artikulierten Dissens, das heißt Parteien zulassen. Das erste Opfer der vorgeblich konfliktlosen Gesellschaft, wie sie Stalin mittels des Gulags zu etablieren versuchte, ist die revolutionäre Partei selbst. Diese braucht zu ihrer Existenz selbst das manifeste Gegenüber, von dem sie sich abgrenzen kann, gegen das sie mit den probaten Mitteln kämpfen kann. Andernfalls geht sie unweigerlich ihres revolutionären Charakters verlustig.
Die Revolution ist immer ein gewaltsamer diktatorischer Akt, zumindest gegenüber der alten Herrschaft. Sie erfordert per se höchste Zentralisation, sei es Einparteienherrschaft oder gar Militärdiktatur. Doch die demokratisierenden Maßnahmen müssen halbwegs schnell folgen, sonst ist die Revolution zum Tode verurteilt. Ohne Pluralismus, ohne die Artikulation verschiedener Ideen, ohne letztlich die Zulassung ihrer Organisation in Parteien kann es keinen Übergang zu einer emanzipierten Gesellschaft geben.