Im Vergleich mit dem Einsatz von Sumud 2009, bei dem gemeinsam mit der lokalen Organisation „Naschet“ (Aktivist) im Lager ein zerstörtes Haus renoviert und als Kulturzentrum eröffnet wurde, hatte die Delegation dieses Jahr eine vielschichtige Aufgabe. Unter dem Motto „Solidarität ist politisch, konstruktiv und kreativ“ hatte die Delegation drei Ziele: politische Treffen mit den palästinensischen und libanesischen Widerstandskräften abzuhalten; die Möblierung des Kulturzentrums fortzusetzen sowie einen Kurzfilmworkshop für Jugendliche aus dem Lager abzuhalten und eine Filmdokumentation über das Lager zu erstellen. Siebzehn Freiwillige aus Österreich, Italien, Deutschland und Ägypten nahmen an der Delegation teil.
Beim Verlassen des libanesischen Militärschrankens am Ostrand der Stadt Saida betritt man eine andere Welt, in der der libanesische Staat, die Weltordnung und die Gegenwart aufhören und ein fiktives Palästina beginnt. Zuerst stößt der „Eindringling“ auf die Sperre der PLO, wo unter von der Sonne gebleichten Arafat-Bildern fünfzigjährige Veteranen des „Bewaffneten Kampfes“[fn]„Bewaffneter Kampf“ ist die Bezeichnung für die PLO-Militärpolizei in den palästinensischen Flüchtlingslagern.[/fn] die Bewegungen beim Lagereingang uninteressiert beobachten. Über der Straße proklamiert ein verrostetes Metallgestell „Jerusalem ist unser“ und „Wir kehren zurück“. Darüber weht neben der Palästina-Fahne eine türkische Fahne, die offensichtlich seit dem israelischen Überfall auf den türkischen Frachter Mavi Marmara im Mai 2010 dort hängt.
Die kaum asphaltierte Hauptstraße des Lagers führt in das fiktive Palästina: Auf den Mauern hängen die Bilder der Märtyrer der unterschiedlichen Organisationen. Flaggen, Wappen und Logos aller Gruppen sind zu sehen. Auch Gruppen, die in den Geschichtsbüchern als verschollen gelten, kommen wieder zum Vorschein. Unterschiedliche Kampfparolen schmücken die Wände, wobei im Zentrum das Rückkehrrecht steht. Vor den offiziellen Büros der Organisationen sitzen bewaffnete Männer im mittleren Alter. Das waren die Kämpfer der 1970er Jahre. Junge Kämpfer sind nur in den von Fatah kontrollierten Vierteln zu sichten. Die Fatah ist durch ihre angestrebte Lagerpolizeitruppe zum größten Arbeitgeber im Lager geworden. Junge Kämpfer gibt es auch rechts vom Lagereingang im „Taware’“-Viertel, das von der salafitischen Gruppe „Usbat al Ansar“ kontrolliert wird. Diese zeigen sich jedoch nicht.
Das Alltagsbild ähnelt allen anderen palästinensischen Flüchtlingslagern: eine hohe Menschendichte, Kinderscharen mit neugierigen Blicken, lebhafter Markt und lärmende Autos, die sich ihren Weg durch die engen überfüllten Straßen erkämpfen.
Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1992) mussten die Palästinenser im Libanon die Waffen abgeben. Die meisten Flüchtlingslager wurden entwaffnet und unterstanden den syrischen und danach den libanesischen Sicherheitskräften. Ein-El-Hilweh, das größte Lager mit 90 000 Einwohnern, war die letzte Hochburg der PLO im Libanon. Das Lager musste zwar die schweren Waffen abgeben, behielt jedoch seine Autonomie, da die libanesische Armee kein Interesse hatte, es zu stürmen. Es wurde von der libanesischen Armee umzingelt, welche die Bewegung von Menschen und Waren streng kontrollierte. Im Lager setzte sich das palästinensische politische Alltagsleben fort: Blockade durch die Armee und prekäre Lage der zivilen Infrastruktur, innere Kämpfe der Fraktionen und steigender Einfluss der islamischen Gruppen, Arbeitslosigkeit und Migrationsdruck sowie das Beharren auf das Rückkehrrecht nach Palästina.
Derzeit zeigt sich der größte Widerspruch zwischen der salafitischen Usbat al Ansar, die im Lager einen Fluchtort gefunden hat, und der Fatah, die mit „Ruhe und Ordnung“ nach einer PNA-ähnlichen Rolle strebt. Die letzte heftige Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen fand im Mai statt. Danach scheint Ruhe eingekehrt zu sein. Beide Seiten tendieren zur Deeskalation, denn keiner will ein zweites Nahr el Bared.[fn]2007 kam es im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr el Bared im Norden des Libanon zu Auseinandersetzung zwischen salafitischen Gruppen und der libanesischen Armee, wobei das Lager vollkommen zerstört wurde.[/fn]
Fernab von den Entwicklungen im Libanon ist das Lager eine Miniatur der palästinensischen Gesellschaft und Politik unter Besatzung und Belagerung wie im Westjordanland und im Gazastreifen.
Willkommen im Sumud-Zentrum!
Zurück zum Lagereingang. Hundert Meter nach dem Schranken, noch vor der UNRWA-Schule, steht auf der rechten Seite das Kulturzentrum „Sumud“, das als Frucht der Zusammenarbeit von Sumud und Naschet im Sommer 2009 entstanden ist. Kaum angekommen, schritten die Internationalen zur Tat: Die für das Computernetzwerk nötigen Teile wurden eingekauft und die Installationsarbeiten begannen. Ein Plan von politischen Treffen mit den verschiedenen Organisationen wurde erstellt. In den nächsten Tagen fanden im Lager Treffen mit der PFLP, Fatah, Hamas, Islamischer Jihad und Salafiten statt. Die Teilnehmer/innen bekamen erste Eindrücke vom Lager und nahmen das erste Bildmaterial auf.
Bald traf aus Kairo die libanesische Regisseurin und politische Aktivistin Arab Loutfi ein. In Saida geboren und aufgewachsen, ist Arab als alte Kampfgenossin bekannt. Die Tatsache, dass sie den Kurzfilmworkshop leitete, verlieh dem Anti-NGO-Charakter von Sumud Nachdruck. Ein weiteres Highlight war der Besuch von Leila Khaled, der palästinensischen Legende aus den Zeiten der „Außenoperationen“. Die Sumud-Teilnehmer/innen lernten die Palästina-Frage hautnah kennen. Reisen nach Beirut und in den Süden erweiterten den Blick hinter die Kulissen des palästinensischen und libanesischen Widerstands durch Besuche der Gedenkstätte der Märtyrer in Beirut sowie der Kriegsaustellung der Hezbollah im Süden. Ergänzt wurde die Erfahrung durch weitere Treffen mit libanesischen progressiven Kräften, darunter Hezbollah und einige Organisationen der libanesischen Linken.
Unter dem Titel „Show me your Camp“ startete Sumud eine Filmdokumentation, in der Ibrahim, ein junger Teilnehmer des Kurzfilmworkshops, die Kamera auf eine Reise durch das Flüchtlingslager mitnimmt.
Am Ende des Aufenthalts stand das Netzwerk im geplanten Medienzentrum bereit. Beim Abschlussfest präsentierten die palästinensischen Jugendliche den anwesenden Verwandten, Interessierten aus dem Lager und Vertretern politischer Organisationen ihre Kurzfilme, die sie im Rahmen des Workshops unter Anleitung von Arab Loutfi produziert hatten. Mit dem erworbenen Know-how und den von Sumud zur Verfügung gestellten Videokameras sind weitere Workshops und Dokumentationen geplant.
Wie geht es weiter?
Mit Sumud 2010 wurde das Konzept von Sumud als einer politischen Initiative mit Volontärs- und künstlerischem Charakter bestätigt. Die Vielzahl an Interessenten aus unterschiedlichen Milieus und Ländern (Italien, Österreich, Deutschland, Ägypten) hat gezeigt, dass in der hiesigen Gesellschaft noch Raum für Solidarität ist, die über bloße Wohltätigkeit hinausgeht. Es ist möglich, eindeutigere politische Positionen zu ergreifen als das, was im Rahmen der typischen NGOs erlaubt ist. Finanziert durch Spenden im Rahmen politischer und kultureller Aktionen und kombiniert mit freiwilligem Einsatz, künstlerischer Betätigung und Erfahrungsaustausch scheint dieses Konzept der politischen Solidarität durchaus attraktiv zu sein.
Der internationalistische Charakter von Sumud drückt sich nicht nur durch die Herkunft der Teilnehmer aus, sondern auch durch die Vielfältigkeit der Zielländer und der Arbeitskonzepte. Im Februar bringt eine Delegation von Sumud eine Ladung an Medikamenten ins umkämpfte Adivasi-Gebiet in Indien. Dieser Besuch hat unter anderem das Ziel, Möglichkeiten von künftigen Sumud-Projekten in der Region zu erörtern.
Weitere Ziele von Sumud-Initiativen sind Venezuela, Ägypten, Nepal und Palästina (Gaza), wo in den kommenden Jahren verstärkt mit lokalen Organisationen Arbeitskonzepte von Freiwilligenbrigaden erstellt werden sollen.
In Europa arbeiten währenddessen Sumud-Lokalgruppen am Ausbau ihrer lokalen Kommunikationskanäle und finanziellen Ressourcen, um künftige Aktionen materiell und personell decken zu können. Eine vielversprechende neue Form antiimperialistischer Solidarität ist im Entstehen, die im Sinne des alten Ziel des Aufbaus einer antiimperialistischen Front der Widerstandskräfte betrachtet werden kann.