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Die Lüge von der israelischen Selbstverteidigung
30. Januar 2009 - Wilhelm Langthaler

Die Schuld bleibt dennoch letztlich immer bei den Palästinensern. Diese Darstellung wird von den westlichen Staatskanzleien sekundiert und zwar nicht nur in Washington, sondern auch in Europa.

Tatsächlich gelingt Israel hier die Verkehrung der Realität. Über viele Monate hat die von der Mehrheit der Palästinenser gewählte Hamas den Waffenstillstand eingehalten, während Israel das Embargo und die Morde aus der Luft fortsetzte. Irgendwann musste diese Einseitigkeit ein Ende haben, zumal den Palästinensern Schritt für Schritt die Existenzgrundlage entzogen wird und der Widerstand elementare Selbstbehauptung darstellt. Zudem hat israelischen Medienberichte zufolge der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak bereits vor einem Jahr die Vorbereitung des Angriffs in Auftrag gegeben, und damit die präsentierte Kausalkette Lügen gestraft. Israel wartete lediglich auf einen politisch günstig scheinenden Augenblick.

Eigentlich führt Israel gar keinen Krieg im strengen Sinn, denn dieser setzt zwei Seiten voraus. Es handelt sich im Grunde um staatlichen Terror aus der Luft, gegen den die Angegriffenen über keinerlei Handhabe verfügen. Wir sind mit der feigsten Form der Kriegsführung konfrontiert, die deutlich von der Luftkrieg-Doktrin der USA inspiriert ist.

Im westlichen Medienapparat geht diese völlige Unverhältnismäßigkeit unter. Bei den Raketen der Hamas handelt es sich um nichts mehr als Symbole des Widerstands, denn militärisch sind sie bedeutungslos. Das sieht man an den sehr geringen Opferzahlen und minimalen materiellen Schäden. Man kann an der politischen Zweckmäßigkeit solcher symbolischer Handlungen zweifeln – wir tun das, denn sie helfen Israel international das Verhältnis von Angreifer und Angegriffenen in absurdester Weise zu verkehren.

Aber man muss gleichzeitig verstehen, dass solche Symbole in einer Situation der totalen Asymmetrie und Waffenungleichheit für die Unterdrückten und Entrechteten eine moralische Bedeutung gewinnen. Jede eingeschlagene Rakete durchbricht das Gefühl der völligen Ohnmacht gegenüber den zionistischen Kolonialherren, die den Palästinensern jedes Menschenrecht verweigern, ja für die sie gar keine Menschen sind, und denen es noch dazu gelingt sich als Opfer darzustellen.

Wohlerprobtes Muster

Die israelische Argumentation ist nicht neu. Im Gegenteil, es handelt sich um eine der ungezählten Wiederholungen des zionistischen Narrativs, denn die von Ben Gurion selbst ausgesprochene Wahrheit ist im Zeitalter der Political Correctness nicht mehr gut verkäuflich: „Warum sollten die Araber Frieden schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her, und was interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das Einzige, was die sehen ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land. Warum sollten die das akzeptieren?“1

So stellt man den palästinensischen Widerstand gegen den kolonialen Freiheits- und Landraub systematisch als Terror und zudem auf infame Weise in Kontinuität der europäischen Judenverfolgung dar. Und schon schlüpft der Aggressor in die Opferrolle. Jeder weitere Schritt in der Vernichtung der Palästinenser als Nation, in ihrer Erdrosselung, wird zur Selbstverteidigung der jüdischen Existenz stilisiert und legitimiert härteres koloniales Zuschlagen.

So kommt es, dass es heute niemanden mehr erstaunt, wenn 1,5 Millionen Häftlingen, die aus ihren Land vertrieben wurden und im größten Freiluftgefängnis der Welt eingepfercht vegetieren müssen, Essen, Wasser und Brennstoffe verweigert werden, und ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit dennoch als „Ausübung des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung“ gilt. Diejenigen, die es wagen Protest anzumelden, werden als notorische Antisemiten abgestempelt.

Vernichtung des Widerstands als Ziel

Israel posaunte in den Welt hinaus, es wolle der Hamas den Kopf abschlagen. Washington pflichtete stereotyp dem politischen Völkermord bei: „Die Terroristen müssen eliminiert werden“.

Was bedeutet das im Grunde? Die Hamas repräsentiert die Kontinuität des antikolonialen Widerstands der Palästinenser, der eine jahrzehntelange Tradition aufweist. Die Hamas vernichten zu wollen, bedeutet die Palästinenser als Teil der arabischen Nation auszulöschen. Zweifellos ist das das historische Ziel des Zionismus und der gegenwärtige Angriff ein Versuch es zu erreichen.

Doch warum sollte das gerade jetzt gelingen? Der tiefste Punkt des Widerstands ist schon lange überwunden und die Schutzmacht Amerika hat in ihrem globalen Krieg einige Dämpfer einstecken müssen. Und wurde Israel selbst bei der proklamierten Vernichtung der Hisbollah im Libanon nicht eine unvergessene Lektion erteilt?

Sicher, mit einer Eskalation in Richtung Massenvernichtung wäre einiges zu erreichen. Israel und die USA arbeiten unentwegt daran, solche Schritte politisch durchsetzbar zu machen, insbesondere einen atomaren Schlag gegen den Iran, bei dem man en passant die Palästinenser gleich mitnehmen könnte. Doch (noch) scheint die westliche Öffentlichkeit dafür nicht reif.

Bodenoffensive

Israel rasselt mit den Säbeln, stellte den Einmarsch mit Bodentruppen als Rute ins Fenster und begann schließlich mit dessen Durchführung. Doch darf man nicht erwarten, dass die israelische Armee einen systematischen Kampf Haus um Haus oder sogar eine neuerliche Besetzung des Gaza-Streifens plant. So absurd das klingen mag, für den palästinensischen Widerstand wäre das eine Chance, tatsächlich zu kämpfen. Es verhieße die Möglichkeit auf einen Guerillakampf, der bereits im Libanon und im Irak mit Erfolg geführt werden konnte. So hoch der palästinensische Blutzoll auch sein würde, wer hätte mehr Grund sein vom Zionistenstaat auf die bloße Existenz reduziertes Leben zu opfern als jene, die nur mit dem Märtyrertod ihre Menschenwürde zurückgewinnen können?

Die israelische Armee mag einige Teile des Gaza-Streifens dem Erdboden gleich machen, Menschen vertreiben, Abschnitte besetzen etc. je nach militärischen Erfolgen. Doch sie wird möglichst vermeiden, dem Widerstand die Möglichkeit des Guerillakrieges zu bieten. Es ist anzunehmen, dass sie sich darauf konzentrieren werden mit kombiniertem Luftangriffen und Kommandoaktionen die Führung der Hamas möglichst auszuschalten und so politische Erfolge zu erzielen.

Ein Planszenario könnte darin bestehen, die Hamas-Regierung so zu zerrütten und eine humanitäre Katastrophe zu schaffen, sodass nach einem Einmarsch international legitimierter Truppen die Möglichkeit eröffnet wird, wieder eine Kollaborateursverwaltung der Fatah an die Macht zu hieven.

Ausstiegsszenarien

Seine Maximalziele wird Israel nur sehr schwer erreichen, wie der kurze Waffengang gegen den Libanon vor zwei Jahren nahe legt. (Wobei die Bedingungen für den palästinensischen Widerstand viel ungünstiger sind.) So sehr sie von ihrer militärischen Überlegenheit geblendet sein mögen, dämmert es zumindest einigen führenden Zionisten, dass sie im Falle von signifikantem militärischen Widerstand die Ziele zurückstecken müssen, um nicht schon wieder eine politische Niederlage einzustecken. Nicht umsonst lies sich das offizielle Israel eine Hintertür offen und platzierte ein propagandistisch leichter vertretbares Kriegsziel, nämlich den Raketenbeschuss zu unterbinden. Das würde eine Form des Waffenstillstands bedeuten.

In jedem Fall dient der Angriff einmal dazu Macht, Härte und militärische Überlegenheit zu demonstrieren. Dabei befolgt man scheinbar die Lehre aus dem Libanon, sich vor allem auf Terror aus der Luft zu konzentrieren. Israel verliert nichts dabei und die Bombardements zeigen dennoch politisch-symbolische Wirkung. Die Zustimmung der Mehrheit der israelischen Bevölkerung geniest die Armee jedenfalls solange, solange sich keine Niederlagen einstellen. Die gegenwärtige zionistische Führungsgruppe der Kadima-Partei rechnet sich mit der Militäraktion sogar bessere Wahlchancen gegen Netanjahu aus. Scheinbar gilt: je näher am Likud, desto besser – auf jeden Fall solange man am Schlachtfeld nicht gedemütigt wird.

Noch mehr geht es um die internationale öffentliche Meinung und die völlige Gleichschaltung des Westens hinter Israel, so wie es Washington seit Jahren vorexerziert. Selbst wenn das gegenwärtige Massaker nicht zum finalen Schlag wird, so dient es dennoch dazu, propagandistisch den Boden weiter für Steigerungen der Brutalitäten und Gräueltaten aufzubereiten, denn ohne diese sind Israels Ziele nicht zu erreichen.

Der Zeitpunkt des Angriffs steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Übergang des US-Präsidentenamtes an Obama, dem man in Tel Aviv trotz seiner rituell bekundeten Treue zu Israel nicht über den Weg traut. Obama soll gezwungen werden, die neokonservative Nahostpolitik fortzusetzen.

Vorbereitungen für neue Aggressionen in der Region

Die Niederlage im Libanon 2006 stellt für Israel eine tiefere Zäsur dar, als es aufgrund der Begrenztheit des Waffenganges erscheinen mag. Der von der Hisbollah geführte Widerstand bestätigte eindrucksvoll, dass auch unter den gegenwärtigen Bedingungen israelische Aggressionen abgewehrt, ja dass dem Zionistenstaat sogar Niederlagen beigebracht werden können. Es ist einsichtig, dass Israel seine angestammte Position als überlegene und unantastbare Großmacht in der Region wiederherzustellen bestrebt ist.

Dazu bedarf es allerdings des weiteren Einklangs mit den USA. Diese sind mit ihrem permanenten Präventivkrieg und ihrer militärischen Neugestaltung der Region unter dem Namen „Greater Middle East“ am Schlachtfeld stecken geblieben. Zwar versuchen Israel und die Neokonservativen das Projekt des American Empire fortzusetzen, doch es bildeten sich erhebliche Gegenkräfte. An Obama wird nun von allen Richtungen gezogen und gezerrt. Dabei will Israel die Nase vorne haben.

Israel, die USA und seine Verbündeten haben im Nahen Osten einige manifeste Feinde, wobei Staaten und Volksbewegungen oft ineinander übergehen oder verfließen. Da ist auf der einen Seite die Regionalmacht Iran, die auf den Irak, Syrien und den Libanon erheblichen Einfluss ausübt. Da sind auf der anderen Seite die Widerstandsbewegungen Hamas und Hisbollah, sowie die vielgestaltige und fragmentierte irakische Guerilla. Beide Seiten hängen zusammen, wenn auch linear.

Wo versucht Israel nun die Brechstange anzusetzen? Nachdem der Weg nach Teheran derzeit einmal versperrt ist und ein Angriff auf den Libanon eine neuerliche blutige Nase bringen kann, bietet sich als unmittelbares Opfer die Hamas an. Dem palästinensischen Widerstand eine entscheidende Niederlage beizufügen, könnte Bewegung in die anderen Fronten bringen und den Weg zu dem von Israel gewünschten Kriegen ebnen.

Einer Entscheidung näher

Die israelische Aggressionsstrategie führt auch dazu, dass die Entscheidung über die Struktur des Weltsystems beschleunigt wird. Entweder das US-amerikanische Reich kann sich fest etablieren und die über den Globus verstreuten Widerstandsnester ausräuchern, also seinen „Krieg gegen den Terror“ gewinnen. Oder die Überdehnung seines Machtanspruchs führt zu Niederlagen, die letztlich den Weg zu einer multipolaren Welt freigeben. Israel wäre dadurch gezwungen sich etwas zurückzunehmen.

Wir sind davon überzeugt, dass es gute Chancen gibt, dem Zentrum des imperialistisch-kapitalistischen Weltsystems, einen Schlag zu versetzen und das American Empire zu Fall zu bringen. (Das bedeutet noch nicht, die Vorherrschaft der USA zu brechen. Dennoch müsste diese anderen Mächten mehr Platz einräumen.) Damit erhielten Widerstandbewegungen mehr Spielraum und der Kampf um die Emanzipation vom Kapitalismus und Imperialismus käme wieder auf das Tapet.

Nicht nur deswegen stehen wir fest auf der Seite des palästinensischen Widerstands und der Hamas. Die Solidarität mit den Unterdrückten für das Recht auf Selbstbestimmung und gegen den Kolonialismus ist auch ein elementares demokratisches Prinzip.

(1) Goldmann, Nahum: Das jüdische Paradox. Zionismus und Judentum nach Hitler, Hamburg (EVA) 1978, S. 99.