Die wirklich neue Entwicklung des letzten Jahres ist die strategische Niederlage Al Qaidas. Diese kann nicht in erster Linie mit dem militärischen Druck der USA erklärt werden. Sie hängt mit der grundlegenden politischen Unfähigkeit des Salafismus zusammen, Konsens und Hegemonie zu schaffen.
Im Grunde hätten die Ausgangsbedingungen im Irak für Al Qaida & Co nicht besser sein können. Auf der einen Seite stand eine bewaffnete Volksbewegung gegen die amerikanische Besatzung, in der sie schwimmen konnten. Auf der anderen Seite bot sich ein schiitisch dominiertes Marionettenregime als Feind dar, das, unter dem Vorwand gegen Baath vorzugehen, die über tausendjährige sunnitische Herrschaft an den Wurzeln auszureißen versuchte.
Nach einer anfänglichen Phase der sunnitisch-schiitischen Einheit gegen die Besatzer blieb Washington nichts anderes übrig, als auf das Spektrum des schiitischen Islamismus zu setzen. An diesem Punkt setzte Al Qaida den Hebel an und konnte – auch dank ihrer überlegenen Ressourcen – für ihre antischiitische Linie starken Zulauf gewinnen. Zwar gingen den meisten Sunniten und vor allem auch den Widerstandsgruppen die Anschläge auf Schiiten zu weit, doch gelang es Al Qaida diese eine Zeit lang als Schläge gegen die Kollaboration zu rechtfertigen. Die schiitischen konfessionellen Milizen, selbst nicht ohne Chauvinismus, reagierten heftig.
So setzte sich 2006-2007 die Spirale eines konfessionellen Bürgerkriegs in Gang, in dem sich die schiitische Seite durch die Kontrolle des Staatsapparats zunehmend als überlegen herausstellte. Fast ganz Bagdad wurde in schmutzigen Straßenkämpfen von Sunniten „gesäubert“, die sich in ganz wenige Viertel zurückziehen mussten, unterbrochen immer wieder von hinterhältigen Anschlägen auf Schiiten.
Der Zyklus, der Al Qaida zunächst die Rolle als sunnitische Schutztruppe zu spielen erlaubte, belegte in der Folge deren Unfähigkeit als solche. Die sunnitische Bevölkerung und insbesondere die Widerstandgruppen, die Al Qaidas Anmaßungen bisher hingenommen hatten, erkannten Al Qaida zunehmend als eines ihrer zentralen Probleme und sahen sich schließlich gezwungen sich zum Selbstschutz an die Besatzer zu wenden.
Bruch mit Al Qaida
Im Gegensatz zur anfänglichen amerikanischen Propaganda, die undifferenziert alle unter Terrorismus subsumierte, war die sunnitische Widerstandsbewegung und Al Qaida nie deckungsgleich, auch wenn es Überlappungen gab. Der Widerstand mag von starken antiiranischen Ressentiments geprägt sein, in dem antischiitische Untertöne unweigerlich mitschwingen. Der autochthone Salafismus, den es auch im Irak gibt, hat natürlich auch antischiitischen Charakter. Insgesamt gibt es geschichtlich bedingt in beiden Konfessionen konfessionalistische Tendenzen. Doch keine einzige Gruppe hätte je den Angriff auf Schiiten als Schiiten gerechtfertigt. Selbst Al Qaida getraute sich das nicht. Sie versuchte immer eine politische Rechtfertigung zu finden oder stritt die Urheberschaft der schlimmsten Attentate ab.
Doch aufgrund ihrer Kampfkraft gegen die Besatzer, ihrer Ressourcen und der Eskalation des konfessionellen Bürgerkriegs versuchten die Widerstandsgruppen mit Al Qaida ein stillschweigendes Bündnis oder zumindest einen Nichtangriffspakt zu schließen. Solange sie nicht mehr als eine unter vielen Gruppen waren, schien dies mehr schlecht als recht zu funktionieren.
Am Höhepunkt des Bürgerkriegs, als Al Qaida zu einer der dominanten Kräfte aufgestiegen war und in ihrem Größenwahn einen islamischen Staat proklamierte, kam es zum unüberbrückbaren Bruch nicht nur mit den Stammesstrukturen, sondern vor allem auch mit dem Widerstand. Al Qaida forderte nicht nur die bedingungslose Unterordnung aller anderen Gruppen. Ihre extremistische Interpretation des Islam ging selbst den meisten Salafisten zu weit und verletzte die traditionellen Gepflogenheiten und Hierarchien. Zudem konnte man die antischiitische Überspitzung, die sich nun in eine blutige Niederlage verwandelte, nicht mehr weiter hinnehmen.
All das führte dazu, dass Al Qaida im sunnitischen Bereich zunehmend als Feind im Inneren angesehen wurde. Das von Al Qaida produzierte Fiasko zeigt die grundsätzliche Unfähigkeit des militanten Salafismus, in einer modernen, kapitalistischen Gesellschaft, die der Irak letztlich ist, seinem politischen Projekt Hegemonie zu verleihen. Selbst in konfessionell homogeneren Gesellschaften gelingt ihm das nicht, geschweige denn im mehrheitlich schiitischen Irak. Dieser reaktionäre, militaristische und extremistische Antiimperialismus führte letztlich zum Gegenteil des Intendierten, zum Hilferuf an den Imperialismus.
Verrat des Widerstands?
In der Zwischenzeit hatten auch die USA die Notwendigkeit eines abermaligen Strategiewechsels begriffen. Die antisunnitische Schlagseite musste zurückgenommen werden, auch insofern als man sich mit der Konsolidierung des schiitischen Regimes den iranischen Einfluss eingehandelt hatte. Der Iran war zwischenzeitlich zu Washingtons neuem Hauptfeind avanciert.
Erster Testballon war 2006 die westliche Provinz Anbar, die als Hochburg des Widerstands und auch Al Qaidas galt. Man instrumentalisierte die Stammesstrukturen, um Al Qaida Herr zu werden. Das konnte nur gelingen, weil signifikante Teile der Bevölkerung einem solchen Unterfangen letztlich positiv gegenüber standen. Unter dem Namen „Sahwa“ (Erwachen) wurden Scheichs finanziell ausgestattet und auch bewaffnet, um gemeinsam mit den US-Truppen gegen Al Qaida vorzugehen und gleichzeitig auch der Bevölkerung eine politische Repräsentanz zu geben. Denn die rachitischen sunnitischen Parteien, die an den Wahlen Ende 2005 teilgenommen hatten und im Bagdader Parlament nur den Zweck des sunnitischen Aufputzes erfüllen, konnten nicht als solche dienen. Mit der zumindest einigermaßen erfolgreichen Herstellung der öffentlichen Ordnung kam auch eine gewisse Wiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Innerhalb eines Jahres wurde Anbar von einer der Provinzen mit den meisten Anschlägen auf US-Truppen zu einer der ruhigsten überhaupt.
Der zweite, viel wichtigere Streich gelang im städtischen Bereich Ende 2007 und 2008. Die in einem aussichtslosen Dreifrontenkrieg gegen schiitische Milizen, Al Qaida und die Besatzer verstrickten Widerstandsgruppen traten in Gespräche mit der US-Armee ein. Sie erhielten von dieser gegen Al Qaida Unterstützung und man ließ sie in der Selbstverteidigung gegen die schiitischen Milizen gewähren. Schließlich errichtete man hohe Betonmauern um die verschiedenen Viertel, die zwar heftig abgelehnt wurden, insofern sie die konfessionelle Trennung im wahrsten Sinne des Wortes zementierten, die aber der drangsalierten Zivilbevölkerung dennoch zusätzlichen Schutz boten.
Daraus entstanden die sunnitischen Sahwa-Milizen, die heute ca. 100.000 Mann umfassen und einen Sold erhalten. Sie bestehen zum großen Teil aus ehemaligen Kämpfern des Widerstands. Die Bildung dieser Verbände brachte den Durchbruch im Kampf gegen Al Qaida. Denn insofern auch Al Qaida in der lokalen Bevölkerung rekrutierte, kannte man sich. Mit der Militärmacht der USA im Rücken und der Unterstützung der Bevölkerung konnte Al Qaida aus den meisten Gebieten vertrieben, oder doch stark zurückgedrängt werden. Gleichzeitig bedeutete das die weitgehende Einstellung des Guerillakampfes gegen die USA. Der erste große Erfolg der USA ist also durch einen politischen Kurswechsel induziert.
Heißt das, dass die hunderttausenden Kämpfer des Widerstands und ihre millionenfache Unterstützung von heute auf morgen Freunde der Besatzung geworden wären? Unter den Sunniten, und entsprechend auch im Widerstand, ist es weit verbreitet von der iranisch-amerikanischen Besatzung zu sprechen und damit die Übermacht der schiitischen Bagdader Regierung zu meinen. Dieses Weltbild trägt so abstruse Blüten, wie Al Qaida als iranische Machination anzusehen, fast so wie auch Bush seinen jeweiligen Feinden ein Naheverhältnis zu Al Qaida unterstellt. So absurd solche Annahmen zu einem Zeitpunkt erscheinen, wo der Konflikt Washington-Teheran das wichtigste globale Krisenmoment darstellt, so sehr gab und gibt es teilweise in Form des Bagdader Regimes doch eine ungewollte amerikanisch-iranische Interessenkoinzidenz im Sinne der Herstellung von Stabilität. So unterstützte Teheran das von den USA eingesetzte, aber vom schiitischen politischen Islam dominierte Regime sowie alle Schritte zu seiner Stabilisierung. Für viele Sunniten stellt sich also der Kampf gegen die Besatzung zuerst als Abwehr des Iran dar, gegen den man auch die Amerikaner instrumentalisieren zu können glaubt. Übrigens genauso wie der schiitische politische Islam letztlich die USA zur Errichtung einer schiitischen Herrschaft über den Irak zu verwenden vermochte – zumindest bis auf weiteres.
Die USA haben mit der Anwendung von divide et impera unbestritten einen Teilerfolg erzielt. Doch die Unwägbarkeiten bleiben groß. Washington betreibt die Eingliederung der Sahwa-Milizen in den Sicherheitsapparat. Doch die schiitische Regierung sperrt sich und will ihren Staat nicht von konfessionellen Feinden unterwandern lassen. Bleiben die Versprechungen von der Beteiligung an der Macht, bei der oft auch die Wiederherstellung der sunnitischen Vorherrschaft mitschwingt, unerfüllt – und das werden sie ohne neuerlichen Krieg wohl –, dann geht von diesen Milizen erhebliches Unruhepotential aus, zumal sie ebenfalls gegen die amerikanische Besatzung gerichtet sind.
Von einem einheitlichen, die Konfessionen integrierenden Staatsapparat im Irak sind die USA weiter denn je entfernt.
Iranische Unterstützung der Guerilla?
Bush & Co führen die anhaltenden Probleme im Irak letztlich immer wieder auf eine Ursache zurück: die iranische Hand, die den politischen und militärischen Widerstand gegen die USA dirigiert. Als deren schlimmster Finger wird Muqtada as Sadr angesehen. Doch man muss nur etwas näher hinsehen, um zu erkennen, dass es sich dabei um ein Geflecht aus Halbwahrheiten, Selbsttäuschung und antiiranischer Propaganda handelt. Versuchen wir das aufzulösen.
Es ist eine leicht zu überprüfende Tatsache, dass es die in Bagdad herrschende Koalition der „moderaten Schiiten“ ist, die über die besten Beziehungen zu Teheran verfügt, auf politischer, kultureller und militärischer Ebene. Die Koalition ist nicht einheitlich. Ihr Kern ist die klerikale Dynastie der Familie al Hakim, die den „Islamic Supreme Council of Iraq“ (ISCI) sowie die Badr-Milizen führen. Sie waren die einzigen im heute relevanten schiitischen Spektrum im Irak, die sich im Krieg Iran-Irak auf die Seite des Gegners gestellt hatten. Zudem wird den Badr-Milizen nachgesagt, dass sie Teil der iranischen Revolutionsgarden seien oder zu ihnen zumindest ein sehr enges Verhältnis hätten. Die Hakim-Familie ist gleichzeitig mit den wichtigsten Klerikern in Teheran und Qom, dem religiösen Zentrum, eng verbunden. Die Badr-Milizen waren es, die unmittelbar nach dem Sturz Saddams die Jagd auf Baathisten begannen und die (neben den kurdischen Peschmerga) als erste lokale Kraft von den Amerikanern adoptiert wurden.
Der heutige Regierungschef Maliki kommt von der Dawa-Partei. Diese ist Teheran nicht gleichermaßen hörig wie der ISCI. Er vertritt einen weniger radikalen Föderalismus und lehnt die Vereinigung der südlichen ölreichen und fast homogen schiitischen Provinzen zu einem quasi unabhängigen schiitischen Ministaat, wie sie vom ISCI vertreten wird, ab. Welche Linie dem Regime in Teheran näher ist, kann nicht leicht gesagt werden. Historisch sicher jene der panschiitischen Angliederung des Südirak. Doch im Sinne eines dem Iran freundlich gesinnten und stabilen Regimes in Bagdad, dem bisher obersten Ziel des Mullah-Regimes, erscheint Malikis Variante günstiger.
Das dritte Schwergewicht der Regierung ist Großayatollah Sistani. Obwohl der Nationalität nach selbst Perser, befindet er sich theologisch über Kreuz mit dem politischen Klerus in Qom, denn er lehnt in vorrevolutionärer schiitischer Mehrheitstradition die direkte politische Herrschaft des Klerus ab (vilayat-e fakih). Im Sinne der Stabilität unterstützt er die heutige Regierung im Irak von außen. Die Besatzung wird so gegenüber dem Widerstand zum kleineren Übel.
Diese gegenwärtig an der Macht befindliche Koalition repräsentiert letztlich die schiitischen Eliten und die Mittelklasse. Sie sind mit dem Sturz Saddams zufrieden, wünschen sich eine rasche Stabilisierung und Normalisierung auch mit den USA, und sind – in unterschiedlichem Ausmaß – an guten Beziehungen zu Teheran interessiert. Den Widerstand – einschließlich eines möglichen schiitischen – lehnen sie entschieden ab. Paradoxerweise stützen sich sowohl Washington als auch Teheran auf diese Koalition. So sehr sich Maliki im Kampf gegen seine Feinde im Inneren auf die Amerikaner verlässt, so sehr getraut er sich gleichzeitig gegen eine unbegrenzte amerikanische Truppenpräsenz aufzutreten, in einer Weise wie es für ein klassisches Marionettenregime undenkbar wäre. Dies erklärt sich nur aus der Rückendeckung durch Teheran.
Sadr als Hauptfeind
Indes scheint es von Washington zumindest in erster Lesung nicht irrational, die Bewegung Sadrs zum Hauptfeind zu erklären. Es hat sich bis zum Boulevard durchgesprochen, dass es sich um eine Bewegung der Unterklassen handelt. Muqtada selbst hat die amerikanische Besatzung heftig kritisiert und einen verbindlichen Zeitplan hin zum vollständigen Truppenabzug der Besatzer gefordert. Seine Mahdi-Armee neigt zu Attacken auf die US-Armee, auch wenn sie letztlich entscheidende Konfrontationen scheut, zumindest gegenüber den USA letztlich defensiv bleibt und sich zurückzieht.
Die Sadr-Bewegung lehnt auch die Auslieferung der Ölreserven an die westlichen Öl-Multis, so wie sie die neue neoliberale Gesetzgebung vorsieht, ab. Saddam hatte die gesamte Erdölwirtschaft verstaatlicht.
Doch im Gegensatz zu den amerikanischen Behauptungen ist ihr Verhältnis zum Iran sehr gespalten. Die Sadristen gelten als eingefleischt arabisch, die sich auch öffentlich immer wieder gegen die iranische Einflussnahme stellen. Sie lehnen den Föderalismus strikt ab und treten für einen einheitlichen Irak ein. Das heißt jedoch nicht, dass Sadr im Iran keinen Unterschlupf erhalten würde. Teheran hält sich die Kanäle zu allen offen. Die Badr-Milizen sind sein Stand-, Sadr sein Spielbein.
Bisher haben die Iraner deswegen gezögert, die Sadristen mit Waffen zu versorgen. Das belegen ihre schlechte Bewaffnung und die im Vergleich zum sunnitischen Widerstand dilettantische Form antiamerikanischer Anschläge. Nicht umsonst wichen sie jedem ernsthaften Zusammenstoß mit der US-Armee aus, denn sie wären im Grunde nichts als Kanonenfutter.
Der Mahdi-Armee wird der konfessionelle Bürgerkrieg gegen die Sunniten angelastet – und zu einem guten Teil zu recht. Aber nicht, weil die regierungsnahen Kräfte so viel besser wären. Die Badr-Milizen haben ihr blutiges Werk schon hinter sich und ihnen fehlt nunmehr einfach die flächendeckende Verankerung in der Bevölkerung. Die Sadristen sind auch keineswegs konfessionalistischer oder fundamentalistischer als die Regierungsschiiten, so sehr das von der westlichen Propaganda auch herausgestellt wird.
Sadr hatte immer einen Fuß inner- und den anderen Fuß außerhalb des Regimes. Er spielte mit der Möglichkeit des Widerstands, um letztlich doch das Regime zu stützen, aber zu einem möglichst hohen Preis.
Die USA haben Maliki und die Regierungsschiiten bisher in jedem Feldzug gegen Sadr unterstützt, zuletzt beim Angriff auf die sadristischen Bastionen in Basra und in Bagdad im Frühjahr 2008. Sadr musste jeweils zurückweichen und Stellungen aufgeben. Wie beschrieben vermied er bisher frontales Kräftemessen. Angeblich vermittelten die Iraner hinter den Kulissen, um den aus ihrer Sicht schiitischen Bruderkrieg nicht eskalieren zu lassen. Jedenfalls konnten im Gegensatz zu den amerikanischen Jubelmeldungen die Sadristen nicht substanziell geschlagen werden. Die Mahdi-Armee tauchte bisher unter, um unverhofft immer wieder aufzutauchen.
Für den einseitigen Waffenstillstand vom August 2007 und die Inaktivität insgesamt, die Sadr seiner Mahdi-Armee diktierte, gibt es auch eine zusätzliche plausible Interpretation. Ihre größte Machtentfaltung verzeichnete die Mahdi-Armee während des konfessionellen Bürgerkriegs. Der Krieg gegen die Sunniten, der zumindest notdürftig durch die Selbstverteidigung gegen Al Qaida gerechtfertigt wurde, entwickelte eine Eigendynamik. Schnell gewachsen und ohne starken Zusammenhalt oder Kommandostruktur, degenerierten Teile in den Banditismus. Nicht nur Sunniten wurden beraubt, erpresst und ermordet, sondern auch die schiitische Mittelklasse. Hier diente die politische Gegnerschaft oft als Legitimation für die Aneignung ihres Eigentums oder für Gewaltverbrechen. Teile der Unterklassen sahen in der Situation des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung die Gelegenheit ihrer Notlage durch bewaffnete Kriminalität zu entkommen. Einzelne Kommandanten wurden zu regelrechten Mafiabossen. Die Zugehörigkeit zur Mahdi-Armee diente manchmal nur mehr als Vorwand, als politische Fassade.
Diese untragbare Situation führte zu heftigen Gegenreaktionen, die die Regierung und die USA zum Aufbau von Sahwa-Kräften auch im schiitischen Bereich zu nutzen versuchten. Diese sind bislang aber nur eine Randerscheinung geblieben.
Jedenfalls zog Muqtada mit dem Befehl, alle militärischen Aktivitäten einzustellen, die Notbremse. Auch einige der Milizenführer, die sich Verbrechen zu Schulden kommen ließen, wurden entfernt. Die zweifellose militärische Schwächung bedeutet aber aus dieser Sicht gleichzeitig auch eine Wiedergewinnung verlorenen politischen Terrains.
Stabilisierung nicht in Sicht
Die USA mögen für kürzere oder auch längere Zeit den sunnitischen Widerstand neutralisiert haben. Diesen Schachzug können sie guten Gewissens als Erfolg verbuchen. Ein nennenswerter Schritt zur Schaffung eines stabilen Regimes ist es indes nicht.
Das Problem der Schaffung eines Staatsapparates, der sowohl Schiiten als auch Sunniten, integriert und gleichzeitig einen modus vivendi mit den Kurden findet, bleibt völlig ungelöst. Das zeigt sich in der Diskussion um den Föderalismus und die versprochene und unerfüllt bleibende Verfassungsänderung gegen eine all zu große Dezentralisierung.
Die Regierungsschiiten wollen unter dem Vorwand der Angst vor der Rückkehr der Baathisten die Kontrolle über den Staatsapparat nicht mehr abgeben und sunnitische Kräfte nicht substanziell beteiligen. Die Sadristen, die gegen die De-facto-Abspaltung der Schiiten auftreten und damit trotz der Wunden des Bürgerkriegs eine mögliche Brücke zu den Sunniten bilden könnten, werden vom herrschenden Block von den Schalthebeln der Macht fern gehalten; gerade auch von Maliki, der selbst eine ähnliche Position vertritt, trotzdem aber lieber mit dem ISCI geht.
Die einzig wirklich proamerikanische Kraft mit Wurzeln im Volk, die kurdische Führung, besteht nicht nur auf die Föderation, sondern zielt sogar auf eine Abspaltung hin. Das ist für die meisten Araber völlig inakzeptabel, vor allem angesichts der ölreichen und demografisch gemischten Stadt Kirkuk, die sich die Kurden gerne einverleiben würden.
Die für Oktober 2008 vorgesehenen regionalen Wahlen könnten eine wesentliche Verschiebung der Kräfte weg von der Regierungskoalition und hin zu Formationen einschließlich jener Muqtadas bringen, die sowohl den Föderalismus als auch die amerikanische Präsenz ablehnen. Daher versucht die Regierung Maliki die Wahlen entweder nicht stattfinden zu lassen, zu verschieben oder aber als gefährlich angesehene Gegner mit allerlei Tricks von der Teilnahme auszuschließen. An sich müssten sich die USA über die Schwächung ihres störrischen und gleichzeitig proiranischen Partners freuen. Weitsichtigere Berater empfehlen daher die Abhaltung der Wahlen ohne allzu parteiliches Eingreifen zu garantieren. Doch Washington hat panische Angst vor der Stärkung Muqtadas, gegen den es weiterhin militärisches Vorgehen unterstützt. Damit liefert es sich jedoch seinen proiranischen Freundfeinden aus. Wo immer man dreht, um ein Problem zu lösen, wird ein anderes aufgerissen.
Auf der Basis von Teile-und-Herrsche scheinen die USA den Widerstand höchstens neutralisieren zu können. Die US-Truppen empfehlen sich dadurch zumindest als ein scheinbar über den Konflikten stehender Richter und können ihre verlängerte Präsenz rechtfertigen. Ein stabiler Staat kann aber auf diesem Weg nicht geschaffen werden. Der wichtigste mögliche Faktor der Stabilität wäre das Einvernehmen mit dem Iran, mit dem auch bisher schon nolens volens kalkuliert werden musste. Doch genau das will Washington gerne aufkündigen.
Denkt man diese Variante konsequent zu Ende, kann sie nur den Sturz des heutigen Regimes bedeuten – und der wäre wiederum nur mit einem neuen Krieg zu bewerkstelligen, denn freiwillig werden die neuen Machthaber die eroberten Positionen wohl nicht räumen. Ein solcher Krieg ist aber nur denkbar bei einem gleichzeitigen Angriff auf den Iran, wofür man sich wohl die Unterstützung sunnitischer Hilfstruppen sichern würde. (Also praktisch zurück an den Start 2003.) Entscheiden sich die USA, dieses enorme Risiko nicht einzugehen, dann können sie jedenfalls nicht verhindern, dass es vor allem der Iran ist, der letztlich die Früchte ihres Krieges und ihrer Besatzung erntet.