Vor einem Jahr, kurz nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 haben wir, damals noch in den bruchlinien, erklärt, dass eine Rezession unausweichlich wäre. Zumindest in den USA. Nach einem Jahr hier nun der erneute Versuch den Zustand der Weltwirtschaft aufzurollen:
Nach der kurzen US-Rezession Anfang des Jahrtausends ist die Weltwirtschaft in eine Phase sehr rascher Expansion eingetreten. Gerade die letzten drei Jahre waren von außergewöhnlich hohen Wachstumsraten gekennzeichnet (jeweils über fünf Prozent), Werte, die seit 30 Jahren nicht mehr zu beobachten waren. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass die Schwerpunkte der Expansion, Indien und China, in der Spätphase des Zyklus auch Russland und die Erdöl produzierenden Länder waren, die ein verhältnismäßig geringes Gewicht in der Weltwirtschaft aufweisen, wenn ihre Wirtschaftsleistung in Dollar berechnet wird. (China entspricht dann in etwa Deutschland, Indien und Russland in etwa Kanada). Ein solches Maß täuscht ein wenig: China verbraucht ein Drittel der Weltproduktion an Stahl und 40 % des Zements.
Die Expansion hat zu einer nachhaltigen Hausse der Rohstoffpreise geführt, am auffälligsten wohl beim Öl, das sich 2005 von der Marke von 25 Dollar gelöst hat und im Frühjahr 2008 in der Spitze auf 147 Dollar gestiegen ist (getrieben wohl auch von exzessiver Spekulation). Andere Rohstoffe sind gefolgt: Agrarprodukte, Stahl, Industriemetalle, zuletzt auch die Kohle – und haben auch damit verbundene Produkte in die Höhe gerissen, etwa Frachtraten für den Roherztransport, oder die Charterraten für Schiffe für die Erdölexploration. (Die Ölindustrie investiert heute etwa doppelt so viel in das Auffinden neuer Ölfelder wie noch 2003, weil die Kapazität der spezialisierten Schiffe und geologischen Teams aber nicht so schnell erweitert werden kann, wird kaum mehr nach Öl gesucht als vor fünf Jahren. Nur die Preise der entsprechenden Dienstleister haben sich verdoppelt.)
Noch im Frühjahr 2008 kann man bei oberflächlicher Betrachtung der Zahlen glauben, dass die Weltwirtschaft nach einem seit Jahrzehnten beispiellosen Boom eher mit einer Überhitzung zu kämpfen hat, als mit einer Rezession: Chinas Wachstum liegt 2007 über elf %, und Russland revidiert seine Wachstumsprognosen nach oben. Ein scharfer Anstieg der Inflation wird von den Rohstoffpreisen befeuert, Richtung vier % in den Industriestaaten, in den USA ein bisschen mehr, und Richtung 10 % in den Schwellenländern. Es fehlen auch nicht die typischen Zeichen der Hybris in der Spätphase einer solchen Überhitzung: Etwa größenwahnsinnige Tourismus- und Airlineprojekte in Dubai (die angeblich der Diversifizierung der Wirtschaft dienen und tatsächlich am Tropf der Petrodollars hängen). Oder die Idee, das höchste Gebäude der Welt in Riad zu errichten (wo die wirtschaftliche Rechtfertigung eines Hochhauses einzig im hohen Bodenpreis liegen kann – denn Platz gibt es in der arabischen Wüste eigentlich reichlich). Dazu eine auf den ersten Blick extrem lockere Geldpolitik: Die US-amerikanische Notenbank verschenkt Geld, ihr Leitzinssatz liegt mehr als 2 % unter der Inflationsrate, negative Realzinsen gibt es aber auch in Ländern Osteuropas (Tschechien), in Lateinamerika und Asien. In der Eurozone beträgt der Leitzinssatz real etwa einen Viertel %punkt. Noch einmal: oberflächliches Betrachten dieser Zahlen deutet auf eine überhitzte Weltwirtschaft, mit einer Inflationsrate, die möglicherweise gleich außer Kontrolle gerät – weil die Notenbanken nicht gegensteuern.
Tatsächlich ist der Boom allerdings zu Ende: Seine Grundlagen brechen eine nach der anderen zusammen wie Dominosteine. Die Rezession in den USA ist mittlerweile Realität, weitere Länder werden folgen.
Boom and Bust
Wenn man sich ein etwas vereinfachtes Bild der Weltwirtschaft bis in das Frühjahr 2007 ansieht, dann ergibt sich folgender Eindruck: Ein wesentlicher Teil der weltweiten Nachfrage kommt aus einer US-amerikanischen Kreditblase – aus der in der Folge die Luft entweichen wird.
1. Eine Immobilienblase aus hoher Kreditvergabe, steigenden Hauspreisen und in der Folge weiter steigenden Hauspreisen und neuen Krediten treibt den Konsum rasend voran, natürlich auf Kosten der Ärmeren, die keine Häuser besitzen. Die Hauspreise in den USA sind seit 1997 etwa um das 2,5-fache gestiegen, in Großbritannien um das dreifache. Seit dem Jahr 2000 sind die Kredite an Private (also die Schulden privater Haushalte) in den USA um 80 Prozent gestiegen, in Großbritannien um 125 Prozent und in Spanien um mehr als 250 Prozent. Bereinigt um steigende Einkommen und Geldentwertung sind die Zahlen zumindest für die USA weniger schockierend, aber es bleibt ein deutlicher Aufbau privater Verschuldung. In den USA (aber auch in Großbritannien oder Spanien) expandiert der private Konsum praktisch hemmungslos und kreditgestützt. Bei einer Sparquote von null bis ein Prozent müssen gigantische Mengen Kapital importiert werden, um Investitionen zu tätigen und Immobilienkredite zu geben. Interessant ist dabei allerdings der Hintergrund der Kreditblase, das billige Geld. Die letzten Jahre waren eine Phase außergewöhnlich niedriger Zinssätze, welche wiederum durch äußerst niedrige Inflationsraten ermöglicht wurden. Und deren Hintergrund ist wiederum eine praktisch global sinkende Lohnquote, der Angriff auf den Lebensstandard breiter Massen. Sinkende Löhne ermöglichen niedrige Preise. Niedrige Preise ermöglichen niedrige Zinsen. Niedrige Zinsen führen zur Kreditexpansion – was freilich dann zum Problem wird, wenn die Überschuldung eintritt.
Der rasch steigende Privatkonsum, gemeinsam mit der Verlagerung industrieller Arbeitsplätze in die Schwellenländer, hat dann für einen gewaltigen Importsog gesorgt. Ein US-Leistungsbilanzdefizit von zuletzt über 700 Milliarden Dollar ist die Folge – doppelt so hoch wie zu Beginn des Booms im Jahr 2003.
2. China (und mit ihm eine Reihe anderer Schwellenländer) kann den amerikanischen Konsum voll nützen, exportiert am Ende etwa zehn Prozent seines BIP direkt in die USA, ein großer Teil des Rests wird von gigantischen Investitionen getragen (welche, ähnlich wie der US-Konsum, auch auf sehr billigem Geld beruhen.) Das Exportwachstum ist die Lokomotive der rasenden chinesischen Konjunktur, die ihrerseits die Rohstoffpreise in die Höhe treibt und damit rohstoffproduzierende Volkswirtschaften mit in die Hochkonjunktur reißt.
3. 2006, relativ spät und auf Grund der restriktiven rot-grünen Finanzpolitik ausschließlich vom Außenhandel getragen, erreicht der Aufschwung dann Deutschland. Deutschland baut die Maschinen, die das Zeug produzieren, das die Amerikaner konsumieren. Sehr vereinfacht. Der japanische Fall ist übrigens ähnlich.
Das konnte so nicht ewig gut gehen und bald ist der Zeitpunkt gekommen, als die ersten Investoren ob der Zahlungsfähigkeit der Schuldner im US-Immobilienmarkt und der Nachhaltigkeit der explosiven Hauspreisentwicklung Sorgen bekamen. Die ersten Mittel fließen ab, und die steigenden Hauspreise, einer der wesentlichen Gründe für die Kreditexpansion in den USA, beginnen schon 2006 zu stagnieren, um dann langsam zu sinken. Im Sommer 2007 lassen Zahlungsausfälle und sinkende Preise dann den Markt für Anleihen aus US-Hypothekarkrediten zusammenbrechen. Dabei sind die tatsächlichen Zahlungsausfälle gar nicht das Hauptproblem (diese summieren sich bis jetzt auf 50 bis 80 Milliarden Dollar), sondern die zusammengebrochenen Sekundärmärkte für Kreditderivate. Die Risikoneigung der Investoren schlägt um, Kredite verknappen sich, Anschlussfinanzierungen für auslaufende kurzfristige Schuldpapiere sind nicht mehr verfügbar.
Im Juli 2008 war Merrill Lynch gezwungen, einem Hedgefonds ein Kreditpaket zu verkaufen, für das man 22 Cent für den Dollar erhalten hat. Das ist die Finanzkrise: Nachdem in eine überhitzte Wirtschaft Billionen Dollar Kredit getrieben wurden (was den überhitzten Privatkonsum erst ermöglicht hat), wird einer sich rapide abkühlenden Wirtschaft genau dann die Kreditlinie entzogen, wenn sie am nötigsten wäre. Eigentlich ein alter Hut: Finanzmärkte verstärken konjunkturelle Trends. Global deregulierte Finanzmärkte offensichtlich noch mehr.
Der US-Konsum sinkt seit Ende 2007, weil keiner mehr Geld borgt und im vierten Quartal 2007 ist die US-Wirtschaft geschrumpft. Im Rest der Welt hatte die Expansion genug Impuls, um noch eine Zeit lang alleine zu laufen, während haufenweise überschüssige Liquidität (die Kreditmärkte waren ja wegen fallender Preise keine besonders attraktive Investitionsgelegenheit) in die Rohstoffmärkte geflossen ist, um eine letzte, aber um so massivere Rallye einzuleiten. Die US-Wirtschaft konnte sich durch massiv expandierende Exporte (wegen des gefallenen Dollar auf monatlicher Basis etwa 30 Milliarden mehr, bei gleichzeitig schrumpfenden Importen) über Wasser halten. Es war die Rede vom de-coupling, vom Abkoppeln der Weltwirtschaft von der US-Konjunktur, vom Ende des Dollars als Weltreservewährung und immerwährender kontinentaleuropäischer Prosperität unter der weisen Führung Angela Merkels. Irgendwann im Juni 2008 hatte die Weltwirtschaft einen Jack Coyote-Moment: Ähnlich dem dümmlichen Wolf, der einer Ente namens „Roadrunner“ über eine Schlucht hinterherläuft, stellt sie fest, dass sie eigentlich keinen Boden unter den Füßen mehr hat – und fällt. Ohne US-Konsum keine Weltkonjunktur: Die chinesischen Exporte sinken bereits, die Aufträge der deutschen Kapitalgüterindustrie brechen ein, die Arbeitsmärkte drehen, Rohstoffpreise korrigieren massiv nach unten. Und schließlich wird die US-Exportindustrie feststellen, dass die Handelspartner kaum noch wachsen. Dann fällt die letzte Stütze der US-Wirtschaft und wir haben eine volle Rezession – falls es diese nicht sowieso schon gibt. Die US-Arbeitsmärkte sind bereits in der Rezession, die Hauspreise von ihrem Höchststand real um etwa 20 Prozent gefallen, das BIP Ende 2007 schon geschrumpft. Die aktuellen (besseren) Wachstumsraten sollte man erst glauben, wenn sie in einigen Monaten nach unten revidiert werden.
Überschuldung und Deflation?
Wie tief wird der Fall? Das lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit beantworten, aber: Eher tief. Ein mögliches Szenario ist eine ganze Reihe von wichtigen Volkswirtschaften (USA, Großbritannien, Spanien, Irland, aber auch eine Reihe osteuropäische Länder) in einer Falle aus Überschuldung und Deflation, ähnlich der japanischen seit dem Anfang der 90er Jahre. Wie ist das zu verstehen? Die gesteigerte Kreditvergabe der letzten Jahre wurde durch steigende Vermögenswerte mehr als aufgewogen. Ein 200 000 Euro Kredit stellt kein so großes Problem dar, wenn das damit gekaufte Haus 300 000 Euro wert ist – im Gegenteil, man kann sogar argumentieren, dass steigende Vermögenspreise mehr Geld und Kredit erforderlich machen, um die Vermögenswerte handelbar zu halten. Der 200 000 Euro Kredit wird aber zu einem Problem, wenn die Vermögenswerte zu sinken beginnen, und gleichzeitig das Einkommen fällt. „Negative Equity“ heißt das dann, die Schulden übersteigen das Vermögen. Ein Teufelskreis kann entstehen: Sinkende Vermögenspreise, Überschuldung, ausfallende Kredite, Banken in Schwierigkeiten und daher weitere Kreditverknappung, Notverkäufe zu einem Zeitpunkt, zu dem niemand kaufen will, und damit weiter sinkende Vermögenspreise. Die Kreditverknappung stürzt dann nicht nur die Finanz-, sondern auch die Realwirtschaft in Zahlungsprobleme, zum fehlenden Privatkonsum kommen dann noch Unternehmenszusammenbrüche und Investitionszurückhaltung. Die Gesamtnachfrage kontrahiert, die Preise fallen (Deflation). Sollten die Preise beginnen nachzugeben, ist auch die Notenbank nur mehr schwer in der Lage, die Geldpolitik weiter zu lockern (mehr Kredite in die Wirtschaft zu pumpen, um Nachfrage und Vermögenspreise zu stabilisieren), weil sie die Leitzinsen nicht unter die Marke von null Prozent senken kann.
Angesichts derzeit hoher Inflationsraten erscheint die Idee einer Deflation etwas abwegig. Man kann aber durchaus argumentieren, dass für diesen Fall nicht die allgemeine Inflationsrate, sondern eher die Kerninflationsrate (ohne Energie und Lebensmittel) relevant ist. Diese zeigt die Preissetzungsmacht inländischer Anbieter und ist viel niedriger. Ein echter Kollaps der US-Wirtschaft würde übrigens die Rohstoffpreise ebenfalls kollabieren lassen.
Oder doch kein Zusammenbruch?
Wie wahrscheinlich ist dieses Überschuldungs-Deflations-Szenario? Eine Sammlung der Gegenargumente:
Erstens: Blicken wir zuerst auf den Ausgangspunkt, auf die Finanzkrise und den Immobiliensektor. Bisher wurden mehr als 500 Milliarden Dollar Verluste der Finanzwirtschaft gemeldet (nicht nur in den USA), der Großteil auf Derivate aus US-Hypothekarkrediten, aber auch auf Unternehmens- und Kreditkartenschulden. Nämliches findet in Großbritannien statt, dessen Fall sehr ähnlich gelagert ist, nur kleiner. Die tatsächlichen Zahlungsausfälle liegen aber bei nur maximal 80 Milliarden. (Zahlungsausfälle bei Unternehmen hat es noch kaum gegeben, weder in den USA, noch in Europa, allerdings werden wohl zumindest ein paar Fluglinien und wenigstens einer der drei US-Autobauer zusammenbrechen.) Die gigantischen Verluste des Finanzsystems entsprechen bisher also erwarteten Zahlungsausfällen (nicht tatsächlichen) und einer allgemeinen Kreditverknappung (der man durch mehr Zentralbankgeld begegnen könnte).
Wichtig ist obendrein, wie weit die Immobilienpreise noch fallen werden. Ohne Zweifel kann man sagen, dass die japanische Immobilienblase vom Ende der 80er Jahre bis zu ihrem Platzen weit irrationalere Bewertungen erzeugt hatte (mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen konnte man in Tokio gerade vier Quadratmeter Wohnraum kaufen) und von einer Blase am Aktienmarkt begleitet war. Demgegenüber ist die Bewertung amerikanischer Immobilien sehr moderat. (Für Spanien oder Irland lässt sich das nicht sagen, dort wird eine katastrophale Rezession nicht zu vermeiden sein.) Nach einer überschlagsmäßigen Rechnung wäre nach weiteren 15 % Preisverfall (20 % sind die Preise schon zurückgefallen) ungefähr das Niveau von 1997 – vor dem Boom – erreicht (modifiziert um Wirtschaftswachstum und Geldentwertung). Das entspricht nicht ganz den 16 Jahren fallender Immobilienpreise in Japan. Es kann aber eintreten, dass die Preise nach unten überschießen – wir sind nicht in der Lage, die genauen Auswirkungen auf die entsprechenden Kreditpakete vorherzusehen.
Von großer Wichtigkeit ist aber ein weiterer Unterschied zu Japan: Dem japanischen Bankensystem wurden alle Rettungslinien entzogen – die USA ist jedoch das Zentrum der Welt. Das Bankensystem hat Kapitalerhöhungen von mehr als 400 Milliarden Dollar durchgebracht (europäische Banken sind hier mitgerechnet). Staatsfonds aus Kuwait, Singapur und Dubai, Versicherungen aus China … sie alle pumpen Geld hinein. Die Financial Times hält sie deshalb für etwas naiv, aber es ist wohl gefehlt, dem ultraprofessionellen Staatfonds aus Singapur derartigen Kretinismus zu unterstellen, nicht zu wissen, dass man hier Geld verlieren wird. Es ist eine politische Entscheidung, die US-Banken zu retten. Ein völliger Zusammenbruch des Finanzsystems muss verhindert werden und es ist keine zu gewagte Annahme, dass China, wenn nötig, auch seine gigantischen Dollarreserven (1,3 Billionen) einsetzen wird. Wenn der Dollar völlig zusammenbricht, wären sie ohnehin wertlos.
Ebenso auffällig ist der feste Wille der Regierungen, keine einzige wesentliche Bank zusammenbrechen zu lassen. Die britische Northern Rock wurde samt ihrer Schulden verstaatlicht (womit natürlich die Allgemeinheit für die Exzesse der Spekulanten bezahlen muss), die amerikanischen Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac werden wohl ebenfalls verstaatlicht oder mit Hilfe gigantischer staatlicher Garantien gerettet. Man kann davon ausgehen: der aufgeblähte Bankapparat wird schrumpfen, das Bonanza in der Londoner Innenstadt ist vorüber, aber das Finanzsystem wird überleben und in der Lage sein, eine neue Kreditexpansion abzuwickeln. Ob das schnell genug passiert, um Überschuldung und Deflation abzufangen, ist natürlich fraglich. Gerade die Europäische Zentralbank macht wenig Anstalten die Geldpolitik zu lockern, durch die Kreditverknappung sind die Zinsen für Haushalte und Unternehmen sogar deutlich gestiegen – für die spanische oder irische Volkswirtschaft ist das der Todesstoß und der Beginn einer jahrelangen Rezession. Für die Weltkonjunktur sind Spanien oder Irland allerdings nebensächlich.
Zweitens, US-Leistungsbilanz: Seit Ende 2006 steigt der Wert der US-Importe real nicht mehr, während die Ausfuhren zulegen, das Leistungsbilanzdefizit schrumpft, wenn auch langsam. Das Defizit der Handelsbilanz liegt im zweiten Quartal 2008 immer noch bei etwa 60 Milliarden pro Monat, statt bis zu 75 vor zwei Jahren. Die Inflation mitbedacht, ist das immerhin etwa ein knappes Viertel weniger. Allerdings hat sich die Struktur des Leistungsbilanzdefizits geändert: Im Juni hat die Erdölrechnung 44 Milliarden ausgemacht, zu (viel niedrigeren) Ölpreisen von 2005 wäre das Defizit daher nur mehr knapp 30 Milliarden pro Monat und zu Preisen von Mitte August 2008 etwa 50 Milliarden. Immer noch sehr viel, vor allem in einer Rezession. Aber nach Jahrzehnten der Deindustrialisierung braucht es auch Zeit die Exportindustrie neu aufzubauen. Insgesamt kann man mit gewisser Vorsicht davon ausgehen, dass der Dollar nicht völlig verfallen wird. Einzelne Stimmen hatten ja von Euro/Dollarkursen von 2,50 Dollar für den Euro gesprochen, was einem Zusammenbruch der Weltwirtschaft gleichkommen würde.
Drittens: Als nächstes Element sehen wir mittlerweile einen Rückfall der Rohstoffpreise, typisches Zeichen einer Rezession, aber auch ein stabilisierendes Element, weil mittelfristig die Inflation gebremst und der Privatkonsum gestärkt wird. Und sollte sich das Erdöl bei 80 bis 120 US-Dollar stabilisieren, ist auch nicht damit zu rechen, dass die Nachfrageimpulse aus den Ölexportländern zurückgehen. Sollten die Energiepreise tatsächlich wegen einer schwerwiegenden Angebotsverknappung so hoch sein (was einige glauben), dann kehrt sich dieses Argument um. (Ölpreise von 200 Dollar können von Saudi-Arabien ohne Inflationsgefahr nicht mehr aufgenommen werden. Die Gesamtnachfrage der Weltwirtschaft verschiebt sich nicht an den Golf, oder nach Russland, sie bricht einfach weg, weil den Ölkonsumenten das Geld fehlt, und die Produzenten nicht wissen wohin damit.) Uns scheinen die Preissteigerungen allerdings zu großen Teilen nachfragegetrieben – als Resultat eines jahrelangen Booms. Dafür spricht der Gleichschritt der Preissteigerungen aller Rohmaterialien. Die Ölverknappung kann höhere Kohlepreise oder steigende Lebensmittelpreise erklären (über die Biotreibstoffe), nicht aber teureres Roherz oder Bauxit.
Viertens: China. Deregulierte globale Finanzmärkte wirken prozyklisch und werden den Abschwung verstärken. Nur, Chinas Finanzmarkt ist nicht dereguliert und die Banken wurden in den letzten Jahren zu hoher Reservehaltung gezwungen. Von einer Überschuldung der Privathaushalte kann man keineswegs sprechen, die Staatsbetriebe sind überschuldet, aber das staatliche Bankensystem wird niemals mitten in der Krise die Kreditlinien kappen. Bei einem deutlichen Abschwung wird der Staat im Gegenteil anweisen, die Kreditvergabe zu verstärken und das eigene Budgetdefizit ausweiten. Schon während der Asienkrise hat China die Überlegenheit robuster Staatsintervention über die Rezepte liberaler Dogmatiker bewiesen. Ein Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft steht daher nicht auf der Tagesordnung.
Fünftens und am wichtigsten: Profitraten wie Unternehmensgewinne kommen zurück, sind aber nach wie vor sehr hoch. Ein Jahr nach dem Ausbruch der Finanzkrise hat es außerhalb des Finanzsektors noch keinen einzigen größeren Unternehmenszusammenbruch gegeben, Unternehmen wie Wal Mart melden sogar Rekordgewinne. Ungewöhnlich für eine Weltwirtschaft, die aus einer Situation der Überhitzung recht frontal gegen die Wand gefahren ist, auch wenn die Zusammenbrüche sicher noch kommen werden. Weiters fehlen die großen Überkapazitäten, die etwa den Beginn der großen Weltwirtschaftskrise gekennzeichnet haben. Diese sind sektoral, etwa im Finanz- und im Bausektor (nicht überall), in der Automobilindustrie (nicht überall) oder vielleicht bei Halbleitern. Andere Bereiche haben aber immer noch Kapazitätsengpässe – etwa die Energiewirtschaft. Die wirkliche Grundlage der Expansion der kapitalistischen Weltwirtschaft seit dem Beginn der 90er Jahre scheint nach wie vor aufrecht: eine auf dem Rücken der Beschäftigten wieder gewonnene Profitabilität. Der Aufschwung ist an der Masse der Bevölkerung vorbeigegangen, der Abschwung wird jetzt doppelt treffen.
Das ergibt unter dem Strich ein vorläufiges Fazit: Die Folgen der Kreditkrise sind gewaltig und keinesfalls bewältigt. Den totalen Zusammenbruch halten wir aber für unwahrscheinlich. Auf der Grundlage der in den letzten Jahrzehnten gewaltig gesteigerter Ausbeutung wird sich die Weltwirtschaft früher oder später in die nächste Kreditblase retten können.