1. Nürnberg und die ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien, Ruanda und Sierra Leone
Schuld an den „Menschenrechtsverletzungen“ im Krieg ist letztlich und in der Hauptsache der, der schuld am Krieg ist. Das war die Rechtsauffassung, die am Nürnberger Internationalen Militärtribunal (IMT) herrschte. Deshalb setzte die Londoner Charta des Tribunals das Verbrechen gegen den Frieden an oberste Stelle, deshalb erklärten die Richter im Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher:
„Die in der Anklageschrift enthaltenen Beschuldigungen, dass die Angeklagten Angriffskriege geplant und durchgeführt haben, sind äußerst schwerwiegende Beschuldigungen. Der Krieg ist seinem Wesen nach ein Übel. Seine Folgen beschränken sich nicht nur auf die kriegführenden Staaten, sondern betreffen die ganze Welt.
Einen Angriffskrieg zu eröffnen ist daher nicht nur ein Verbrechen zwischen Völkern; es ist das oberste Verbrechen zwischen Völkern, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur darin unterscheidet, dass es das aufgehäufte Übel im Ganzen in sich schließt.“1
Wegen dieser Weisheit verdient das IMT für alle Zeiten Anerkennung. Sie erklärt auch, warum es sich in Nürnberg nicht um „Siegerjustiz“ handelte: Es ging gar nicht um eine Aufrechnung, wer wann wo welche Konvention verletzt hat, (wobei die Nazis auch hier alles in den Schatten gestellt hätten,) sondern es ging um die grundsätzliche Frage, wer denn dieses Unheil für die ganze Menschheit, den blutigsten Krieg in der Geschichte, über die Welt gebracht hat. „Kriegsverbrechen“ aufzuzählen, ohne sie in den allgemeinen Zusammenhang zu stellen, welche Seite einen gerechten, welche einen ungerechten Krieg führt, wäre völlig sinnlos gewesen. Und welche Verhöhnung der Völker, die gegen den Faschismus gekämpft hatten, hätte es dargestellt, ihre Angehörigen wegen Verstößen gegen das Kriegsrecht zu belangen, wo doch in jedem Krieg die Aggressoren die Spielregeln vorgeben!2
Das Recht der Siegermächte, die Rechtsprechung über Deutsche innerhalb der ehemaligen deutschen Grenzen auszuüben, gründete sich übrigens auf die Tatsache, dass Deutschland bedingungslos kapituliert hatte, der deutsche Staat vollständig zerschlagen war, wodurch allein der Krieg hatte beendet werden können. Die Siegermächte hatten nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, auf deutschem Boden eine Militärverwaltung einschließlich einer Militärgerichtsbarkeit aufrechtzuerhalten.
Man kann nicht gerade behaupten, dass eine solche historische Ausnahmesituation bestanden hätte, als der UNO-Sicherheitsrat 1993 per Resolution 827 einen „Internationalen Strafgerichtshof zur Verfolgung von Personen, die für schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts verantwortlich sind, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit 1991 begangen worden sind“, (engl. Kurzform: International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY,) errichtete. Im Gegenteil: Alle Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien waren UNO-Mitglieder und damit als vollberechtigte Inhaber der Staatssouveränität anerkannt.
Das ICTY wird seitdem als ein „Unterorgan“ des Sicherheitsrats behandelt. Die Tatsache, dass das höchste Exekutivorgan der UNO ein judikatives Organ unter seiner Kontrolle einrichtet, sollte schon genügen, um die rechtliche Untragbarkeit dieser Entscheidung klarzumachen. Als Sahnehäubchen kommt noch oben drauf, dass dieses judikative Organ gemäß seinem Statut „Rechtsprechung über natürliche Personen“ besitzen und das Prinzip der „individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ anerkennen soll – im Gegensatz zum höchsten judikativen Organ der UNO, dem ICJ, vor dem, wie bereits im Ersten Teil erwähnt, nur Staaten als Rechtssubjekte gelten! Es ist also, noch einmal zur Verdeutlichung, so, als würde die Regierung eines Landes ein ihr direkt unterstelltes „Gericht“ gründen, an dem völlig andere Rechtsgrundsätze gelten als an den regulären Gerichtshöfen dieses Landes – genau so verhielt es sich allerdings mit dem „Volksgerichtshof“ der Nazis.
In der Absicht, die Gründung des ICTY durch den Sicherheitsrat zu rechtfertigen, ist oft gesagt und geschrieben worden, dass der Sicherheitsrat „gemäß Kapitel VII der UN-Charta“ gehandelt habe. Das ist eine sehr vage Erklärung, denn im Kapitel VII der Charta steht, welche Befugnisse der Sicherheitsrat im Falle einer „Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit“ hat. Hier heißt es, dass der Sicherheitsrat zuerst die beteiligten Parteien dazu aufrufen soll, sich an die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zu halten, wobei diese Maßnahmen keine Partei in ihren Rechten verletzen dürfen; dass er im nächsten Schritt Sanktionen verhängen kann: „Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen“; als letzte Maßnahme erlaubt Artikel 42 dem Sicherheitsrat, „mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durch[zu]führen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.“
Weit und breit steht hier nichts von einer Befugnis zur Einrichtung eines Strafgerichtshofs – und anders kann es auch gar nicht sein, denn das würde die Grundsätze und den Aufbau der UNO verletzen, die Charta widerspräche sich mithin selbst. Die Tatsache, dass das Statut des ICTY Zuständigkeit nicht nur für jugoslawische Staatsbürger, sondern für Bürger aller Staaten der Welt beansprucht und die SR-Resolution 827 alle UNO-Mitglieder zur Zusammenarbeit auffordert, bedeutet, dass alle Staaten der Welt ihrer Justizhoheit beraubt wurden, was dem oben zitierten siebten Grundsatz der UNO offen widerspricht!3
Was aber ist von der inzwischen zu einem Allgemeinplatz gewordenen Behauptung zu halten, die Errichtung des ICTY stehe „in der Tradition von Nürnberg“?
Bekanntlich hatte Jugoslawien keinen Raubkrieg gegen seine Nachbarländer und die ganze Welt vom Zaun gebrochen. Der Krieg, der sehr irreführend als „jugoslawischer Bürgerkrieg“ bezeichnet wird, war im Gegenteil ein Angriffskrieg der NATO gegen diesen Staat. Es wurde die divide-et-impera-Balkanpolitik Hitlers und Mussolinis wiederbelebt, die darin bestand, den Nichtserben, vornehmlich Kroaten und Albanern, Honig ums Maul zu schmieren und sie als Verbündete gegen die serbischen „Untermenschen“ zu gewinnen. Im Zweiten Weltkrieg hatte es einen „Unabhängigen Staat Kroatien“ gegeben, regiert von der Ustaša, die Hunderttausende Serben, Juden und Roma ermordete. Es hatte kroatische, bosnisch-muslimische und kosovo-albanische SS-Divisionen gegeben.
1991 erklärten die Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina mit starker westlicher Unterstützung einseitig ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die Sezession Mazedoniens verlief völlig reibungslos; auch Slowenien wurde fast ungehindert ziehen gelassen, obwohl slowenische Separatisten Grenzsoldaten der Jugoslawischen Volksarmee ermordet hatten. In Kroatien und Bosnien-Herzegowina gab es allerdings große zusammenhängende serbische Siedlungsgebiete, und die dort lebenden Serben hatten den berechtigten Wunsch, weiterhin zu Jugoslawien zu gehören. Als ihnen dies gewaltsam verwehrt wurde, griffen sie, unterstützt von Serbien, zu den Waffen, um ihr Recht zu verteidigen. Die NATO-Länder, die eben noch die Unabhängigkeit Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas ohne Wenn und Aber anerkannt hatten, verteufelten daraufhin die Serben als Monster, die ein „Großserbien“ schaffen wollten, und griffen auf Seite der Separatisten in den Krieg ein.
Hätte das ICTY tatsächlich „in der Tradition von Nürnberg“ gestanden, dann hätte sein Statut das Verbrechen gegen den Frieden ebenfalls an erste Stelle gesetzt. Aber von einem Verbrechen gegen den Frieden oder einem vergleichbaren Verbrechen ist im Statut des ICTY nicht die Rede.
Die Rechtsauffassung des ICTY enthält genau, was das IMT ausschließen sollte: Eine willkürliche Verfolgung einzelner – angeblicher! – Kriegsverbrechen, die von der grundlegenden Situation, der Frage, wer der Aggressor ist und wer sein Selbstverteidigungsrecht ausübt, absieht.
Nein, das ICTY hatte von Anfang an nicht das geringste mit Nürnberg zu tun, sondern es stellt gerade das Gegenteil dar: Hier wird nicht über die Aggressoren zu Gericht gesessen, sondern die Aggressoren selbst verurteilen ihre Opfer als „Kriegsverbrecher“!
Das vom Sicherheitsrat beschlossene Statut des ICTY wurde übrigens vom damaligen UNO-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali verfaßt. Was den grundlegenden Aufbau und die Rechtsgrundsätze des ICTY betrifft, folgt dieses Statut dem „Entwurf eines Statuts“, den die damalige US-Botschafterin bei der UNO und spätere Außenministerin Madeleine Albright an den UNO-Generalsekretär geschickt hatte.
Auch durfte im Statut des ICTY der Straftatbestand des Völkermordes nicht fehlen. Denn dass die Verleumdung Jugoslawiens als eines „Völkergefängnisses“ bald den gegen die Serben gerichteten Vorwurf des „Völkermords“ nach sich ziehen würde, war bereits kalkuliert. Hier konnte man es sich schon wiederholt zunutze machen, dass die Definition des Völkermordes in der internationalen „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ von 1948 geradezu zum Missbrauch auffordert. Es wird nämlich eine Tat (wie Tötung, Deportation, Sterilisation und andere), selbst im Falle, dass sie nur an einer einzigen Person verübt wird, als Völkermord bezeichnet, sobald sie „in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Hier soll also das Tatmotiv das entscheidende Kriterium für den Straftatbestand des Völkermordes bilden – nicht die physisch begangene Tat. Abgesehen von der Einzigartigkeit einer solchen Straftatsdefinition zeigt sich doch bei geringer Überlegung, dass diese Definition das Gegenteil von dem enthält, was der gesunde Menschenverstand unter Völkermord verstehen sollte, nämlich dass es dabei auf die Radikalität und Systematik der Tat ankommt und nicht auf das subjektive Tatelement.
Überragende Bedeutung bei der Fabrikation von Urteilen kommt der Zurechnungstheorie des „gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens“ (Joint Criminal Enterprise, JCE) zu, die zwar nicht im Statut des ICTY vertreten, aber von Anklägern und Richtern wie selbstverständlich angewandt wird. Teilnehmer am JCE sind Personen, die ein gemeinsames kriminelles Ziel verfolgen. (Zum Beispiel: Ethnische Säuberung zwecks Errichtung eines „Großserbien“). Damit sind sie für alle Taten verantwortlich, die zur Erreichung dieses Ziels begangen werden.
Die Rolle des ICTY bestand von Anfang an nicht nur darin, der Goebbelsschen Kriegspropaganda der NATO ein richterliches Siegel zu verpassen, sondern auch in der moralischen Unterstützung laufender politischer und militärischer Kampagnen.
Der spektakulärste ICTY-Prozess fand bekanntlich gegen den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević statt. Milošević war im Oktober 2000 nach dem Bombenkrieg, unter dem Druck von Sanktionen und erneuter direkter militärischer Bedrohung durch die NATO von der desillusionierten jugoslawischen Bevölkerung abgewählt worden. Am 28. Juni 2001, dem höchsten serbischen Feiertag, an dem der Schlacht auf dem Amselfeld gedacht wird, wurde Milošević nach Den Haag verschleppt – die nationale Demütigung hätte nicht vollkommener sein können. Der Prozeß zog sich über vier Jahre hin, und der sich selbst verteidigende und aller Mittel beraubte „Angeklagte“ brachte den hoch-organisierten NATO-Propagandisten eine Niederlage nach der anderen bei – während der Beweisaufnahme der Anklage durch vernichtende Kreuzverhöre, dann durch die von ihm selbst geladenen Zeugen. Nach Ablauf der Anklagezeit mussten die Richter bereits die propagandistisch so wichtige Völkermordanklage aus der Anklageschrift streichen, später musste die Anklage den Vorwurf zurückziehen, Milošević habe die Errichtung eines „Großserbien“ angestrebt, was doch seit Jahren der Dreh- und Angelpunkt aller Anschuldigungen gegen ihn gewesen war. Bevor Milošević seine wichtigsten Zeugen laden konnte, starb er unter ungeklärten Umständen.
2. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC)
1998 wurde in Rom das Statut über die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) unterzeichnet, das 2002 in kraft trat. Der ICC hat seine Arbeit in Den Haag aufgenommen. Inzwischen haben 105 Länder diesen internationalen Vertrag ratifiziert. Diese Art des Zustandekommens gibt dem ICC den Anschein einer höheren Legitimität als ICTY und ICTR (ähnliche Tribunal, mit Zuständigkeit für Ruanda) sie besitzen.
Natürlich kann das nichts daran ändern, dass der ICC, indem er ein internationales Organ darstellt, an das die Mitgliedsstaaten (wie „freiwillig“ auch immer) teilweise ihre Justizhoheit auf ihrem Territorium abgegeben, sich damit im Gegensatz zum 7. Grundsatz der UNO befindet, und, indem er so das Prinzip der Staatssouveränität untergräbt, mindestens eine Hintertür für die Wiederherstellung des imperialistischen Rechts des Stärkeren bildet.
Sehen wir uns diese Hintertür genauer an: Das Statut führt wie das ICTY und das ICTR in der Liste der zu ahndenden Verbrechen an erster Stelle Völkermord auf – nach der zum Missbrauch einladenden Definition von 1948. Dann folgen die drei Verbrechen, die den Verbrechen der Londoner IMT-Charter entsprechen – allerdings in genau umgekehrter Reihenfolge: Verbrechen gegen die Humanität, Kriegsverbrechen und das Aggressionsverbrechen.
Das Aggressionsverbrechen entspricht, wenn auch unvollständig, dem Verbrechen gegen den Frieden, das in Nürnberg nicht nur an oberster Stelle stand, sondern auch von den Richtern als „das oberste Verbrechen zwischen Völkern“ aufgefasst wurde. Es bildet in Den Haag das Schlusslicht. Aber damit nicht genug. Die Rechtsprechung über das Aggressionsverbrechen bleibt am ICC so lange ausgesetzt, bis sich die Mitgliedsstaaten auf eine Definition dieses Verbrechens geeinigt haben – das haben sie nämlich noch nicht getan. Und dieser Umstand ist wiederum höchst bemerkenswert, da es doch, im Ersten Teil bereits zitiert, seit 1974 eine von der UNO-Generalversammlung beschlossene Definition des Aggressionsverbrechens gibt, die in ihrer Einfachheit und Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Es wurde eine Arbeitsgruppe damit betraut, eine Definition des Aggressionsverbrechens zur Aufnahme ins Statut auszuarbeiten, der die Mitgliedsstaaten zustimmen können. Sollte diese Arbeitsgruppe tatsächlich irgendwann einmal zu einem Ergebnis kommen, dann würde es zwei unterschiedliche internationale Definitionen einer und derselben Sache geben. Schon an diesem Fall wird überdeutlich, dass der ICC keineswegs nur eine harmlose „Ergänzung“ des bestehenden Völkerrechts darstellt, sondern es dreist ignoriert.
Als oberstes Kontrollorgan des ICC fungiert die Versammlung der Staaten, die das Statut von Rom unterzeichnet haben (Assembly of States Parties, ASP). In der ASP sitzen also Länder wie Burundi, Liberia, Niger oder Malawi, deren jedes bis heute weniger als 300 Euro zum Budget des ICC beitragen konnte, mit Deutschland, das bis Ende 2006 41 Millionen Euro beisteuerte, oder England und Frankreich, die beide jeweils 28 Millionen Euro gezahlt haben. Die 25 westlichen Mitgliedsländer kamen insgesamt für 88 % aller bisher gezahlten Beiträge auf, die 29 afrikanischen Mitgliedsländer für weniger als 1 Prozent. Ländern, die mit ihren Zahlungen im Rückstand sind, wird automatisch das Stimmrecht entzogen. Die Vertreter der ärmsten Länder können übrigens nur dank freiwilliger Spenden überhaupt zu den ASP-Sitzungen in Den Haag und New York anreisen. Von den ohnehin bestehenden politischen Abhängigkeitsverhältnissen ganz zu schweigen. Man kann sich die von vielen Gelehrten gerühmte „demokratische Struktur“ des ICC also leicht vorstellen: Differenzen werden innerhalb einer kleinen Clique mächtiger Staaten ausgetragen, die übrigen dienen ihren Herren nur als Stimmvieh.
Diese ASP entscheidet über die Einsetzung und Abberufung von Richtern und Anklägern, Definition einzelner Verbrechen, Aufstellung und Änderung der Prozeßordnung, Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit. Das heißt: Die ASP kann alle Aktivitäten des ICC so steuern, daß Richtern und Anklägern nur noch eine ausführende Rolle zukommt.
Das vom Statut vorgesehene Prozessrecht des ICC öffnet der politischen Manipulation Tür und Tor: Als wichtigste „Innovation“ muss die Abschaffung der Anklageschrift betrachtet werden.4 Prozesse am ICC werden auf Grundlage von „Vorwürfen“ geführt, die sich im Wesentlichen auf den Haftbefehl stützen, aber offenbar jederzeit nach Belieben ergänzt, fallengelassen oder verändert werden können. Hatte Milošević im dritten Jahr seines Prozesses am ICTY es noch als Farce gebrandmarkt, daß die Ankläger selbst nicht mehr wissen, was sie ihm eigentlich vorwerfen, soll dies am ICC wohl der Normalzustand sein.
Es wird auch die Möglichkeit geboten, dass die Richter selber vorläufige Änderungen der Prozessordnung beschließen. Judikative und Legislative haben wieder zueinander gefunden.
Das im Statut verbriefte Recht eines Angeklagten, sich durch einen Verteidiger „seiner Wahl“ vertreten zu lassen, wird durch die Prozessordnung konterkariert, die nur die Wahl aus einer vom Obersten Rechtspfleger des ICC genehmigten Liste von Anwälten zulässt.
Man darf sich also von vornherein keine Illusionen über den ICC machen. Ein abhängiges Land, das ihm beitritt, unterschreibt, dass im Falle eines bewaffneten Konflikts die Rechtsprechung über die beteiligten politischen und militärischen Führer an einen von imperialistischen Mächten beherrschten Gerichtshof übergeht, der mit allen in Jugoslawien, Ruanda und Sierra Leone erprobten Wassern gewaschen ist, und an dem kein einziger fairer Prozess geführt werden wird, sowie die Verpflichtung zur Auslieferung jeglicher auf seinem Territorium befindlicher Personen, gegen die der ICC Haftbefehl erlassen hat – es unterschreibt also nichts anderes als die Aufgabe seiner nationalen Souveränität.
Drei ICC-Mitgliedsländer – die „Demokratische Republik“ Kongo, die Zentralafrikanische Republik und Uganda, alle derzeit von treuen Verbündeten des Westens regiert – haben den Ankläger selber ersucht, gegen Führer von in ihrem Land operierenden Rebellengruppen zu ermitteln. Im Fall der DR Kongo begann bereits der erste Prozess am ICC gegen Thomas Lubanga Dyilo, und im Fall Ugandas sind Haftbefehle erlassen worden. Im Fall der Zentralafrikanischen Republik wurde kürzlich der kongolesische Oppositionsführer Jean Pierre Bemba in Brüssel verhaftet und an den ICC überstellt. Fünf Wochen später wurde die Freilassung des Thomas Lubanga Dyilo angeordnet, angeblich, weil die Anklagebehörde die Prozessordnung verletzt hätte. Man darf wohl eher vermuten, dass so verhindert werden sollte, dass der eine dem anderen als wichtiger Zeuge dient.
Vom UNO-Sicherheitsrat wurde der Ankläger ersucht, Ermittlungen bezüglich der Ereignisse in Darfur im Sudan einzuleiten. Der Rat forderte den Sudan, der kein ICC-Mitglied ist, auf, mit dem ICC zusammenzuarbeiten, was natürlich die Ausführung von Haftbefehlen einschließt. Damit ist das einzige Argument für die Legitimität des ICC – freiwillige Anerkennung durch die Mitgliedsstaaten – auch schon wieder hinfällig. Tatsächlich erließ der ICC 2007 Haftbefehl gegen zwei sudanesische Staatsbürger, darunter den Innenminister. Am 14. Juli 2008, drei Tage vor dem zehnjährigen Gründungsjubiläum des ICC, beantragte der Chefankläger Luis Moreno-Ocampo Haftbefehl „wegen Völkermordes“ gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir. Die politische Rolle des ICC trat damit so offen zutage, dass selbst UNO-Generalsekretär Ban Ki Mun und der erste Präsident des ICTY, der italienische Rechtsprofessor Antonio Cassese, Moreno-Ocampo scharf kritisierten.
Wie man sieht, führt der ICC derzeit nur auf einem ganz bestimmten Fleckchen der Erde Ermittlungen durch: Im wegen seiner Bodenschätze von den Imperialisten begehrten Kongo und in dreien seiner Nachbarländer.
Sonst gibt es nach Ansicht des Chefanklägers nirgendwo auf der Welt schwere Kriegsverbrechen großen Ausmaßes, oder wenn es sie gibt, dann tun die verantwortlichen Staaten schon alles, um sie zu verfolgen, so dass der ICC nicht tätig werden muss. So hat das Büro des Anklägers nach eigenen Angaben bis zum 1. Februar 2006 1732 Hinweise aus 103 Ländern auf Kriegsverbrechen erhalten. Kein einziger dieser Hinweise führte zu Ermittlungen. Da es sehr viele Hinweise auf Kriegsverbrechen der Koalitionstruppen im Irak gab, hat Moreno-Ocampo dazu im Februar 2006 eine Stellungnahme veröffentlicht, worin es allen Ernstes heißt: „Die derzeit verfügbaren Informationen bieten eine vernünftige Grundlage für die Schätzung, daß es vier bis zwölf Opfer vorsätzlicher Tötung und eine begrenzte Zahl von Opfern unmenschlicher Behandlung gab, alles in allem weniger als 20 Personen.“ Weil aber keine Hinweise auf einen groß angelegten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung vorlägen, sei die Zuständigkeit des ICC nicht gegeben.
Der Autor wagt die Prophezeiung, dass wir auch keine Ermittlungen im ICC-Mitgliedsland Georgien wegen des mörderischen Blitzkriegs der georgischen Streitkräfte gegen die südossetische Zivilbevölkerung im August 2008 erleben werden.
Der ICC muss wegen aller dieser Tatsachen als ein oberstes Kolonialstrafgericht charakterisiert werden, wo die herrschenden Mächte antikolonialistische Bestrebungen in den Kolonien ahnden. Alles im Namen der Menschenrechte und unter dem Deckmantel demokratischer Strukturen, damit fortschrittliche Kräfte auf der ganzen Welt, die sich gegen Kolonialismus und Krieg wenden, getäuscht werden und dieses Organ nicht nur nicht bekämpfen sondern sogar gutgläubig unterstützen.
3. Das Verhältnis der USA zum ICC
Zur Sicherstellung dieser gutgläubigen Unterstützung wäre es kontraproduktiv gewesen, wenn die USA als aggressivste imperialistische Macht sich offen am ICC beteiligt hätten. Die angebliche Ablehnung des ICC durch die USA ist in erster Linie ein minutiös inszeniertes Theaterstück, das einzig und allein dem Ziel dient, dem ICC mehr Glaubwürdigkeit bei fortschrittlich denkenden Menschen zu erwerben.
Das Konzept der Internationalen Strafgerichtsbarkeit als Werkzeug zur Aushebelung des Völkerrechts ist maßgeblich in den USA entwickelt worden. Die USA üben die meiste Kontrolle über die Arbeit des ICTY, ICTR und SCSL aus, (wie auch über die Arbeit des „Sondertribunals für den Libanon“ und der „Außerordentlichen Kammern am Gerichtshof von Kambodscha“, von denen hier wegen ihrer Besonderheiten nicht die Rede war).
Am 31. Dezember 2000 unterzeichneten die USA noch unter der Präsidentschaft Clintons das Statut von Rom. Clinton veröffentlichte am gleichen Tag eine Erklärung, in der es heißt: „Mit der Unterschrift sind wir in der Lage, die Herausbildung des Gerichtshofs zu beeinflussen, ohne Unterschrift wären wir es nicht. (…) Ich werde meinem Nachfolger nicht empfehlen, den Vertrag dem Senat zur Beratung und Abstimmung vorzulegen, solange unsere grundlegenden Bedenken nicht ausgeräumt sind.“ Diese Bedenken bestünden angeblich darin, dass der ICC amerikanische Soldaten, die sich in Auslandseinsätzen befinden, anklagen könnte. Nachdem die Struktur und Funktion des ICC dargestellt worden ist, muss man fragen, ob Clinton wirklich so blöd gewesen sein kann, zu glauben, dass dieses Organ jemals gegen den Willen der US-Regierung handeln könnte, egal ob die USA das Statut ratifiziert haben oder nicht! Wir können sicher sein, dass weder Clinton noch sein Nachfolger Bush den ICC derart falsch eingeschätzt haben.
Am 6. Mai 2002 zog Präsident Bush öffentlich die amerikanische Unterschrift unter das ICC-Statut zurück. Ein pflichtschuldiger „Aufschrei“ ging durch die Leitartikelspalten der Weltpresse. Niemandem fiel auf, dass Bush nur dem Rat seines Vorgängers gefolgt war.
Am 30. Juli 2003 verabschiedete der US-Kongress das „Gesetz zum Schutz amerikanischer Truppenangehöriger“ (American Service-Members’ Protection Act, ASPA), in dem beschlossen wird, die militärische Unterstützung für Länder, die dem ICC beigetreten sind, sofern es sich nicht um enge Verbündete handelt, einzufrieren, sowie „Bilaterale Immunitäts-Vereinbarungen“ (Bilateral Immunity Agreements, BIA) mit ICC-Mitgliedsländern zu schließen, in denen sich diese Länder allerdings höchst unilateral verpflichten, keine US-Bürger an den ICC auszuliefern. Da das Gesetz den Präsidenten wörtlich ermächtigt, „jedes notwendige Mittel anzuwenden, um die Freilassung jedweder Person herbeizuführen, (…) die durch den Internationalen Strafgerichtshof, in seinem Namen oder auf sein Verlangen festgehalten oder gefangen gehalten wird“, hat es den Spottnamen „Gesetz zur Invasion in Den Haag“ erhalten. Zur Begründung dieser Maßnahmen wird im Gesetzestext unverhohlen ausgesprochen, dass amerikanische Truppenmitglieder durchaus als Kriegsverbrecher angeklagt werden könnten, sowie allen Ernstes die Befürchtung geäußert, dass der Präsident und andere hohe US-Politiker Ziel der Strafverfolgung durch den ICC werden könnten. Wenn die Kongressabgeordneten, die das Gesetz ausgearbeitet und verabschiedet haben, daran wirklich glaubten, dann würde die Gesetzgebung der USA in der Hand von Hirntoten liegen. Dieses Gesetz ist in Wahrheit nicht gegen den ICC gerichtet, sondern es hilft ihm vielmehr, seine Glaubwürdigkeit zu wahren, indem es ihm ein bequemes Alibi für seine Untätigkeit gegenüber den USA verschafft.
Nur sekundär können als Gründe für die vehemente US-amerikanische Ablehnung des ICC noch angeführt werden, erstens, dass die juristischen Strippenzieher der ICTY-, ICTR,- und SCSL-Prozesse aus den USA wie David Scheffer, Michael Scharf und William Schabas besonders im Milošević-Prozeß die Tücken dieser imperialistischen „Internationalen Strafjustiz“ kennen lernten, und eine direkte koloniale Strafjustiz forderten, wie sie mit dem „Irakischen Sondertribunal“ Wirklichkeit wurde; zweitens, dass durch die Nichtbeteiligung tatsächlich die direkte Kontrolle über den ICC aus der Hand gegeben und allein der EU überlassen wurde, was gewisse Konkurrenzängste nähren dürfte; insofern stellen die BIA, die schon mit mehr als 100 Ländern abgeschlossen worden sind, vielleicht – abgesehen von ihrer Alibi-Funktion für den ICC – eine Art symbolische Loyalitätsbekundung dar.
Jedenfalls muss dem Glauben an Bushs zur Schau gestellte „Angst“ vor dem ICC als einem geschickten Täuschungsmanöver entgegengetreten werden, das den Blick vom imperialistischen und kolonialistischen Wesen des ICC ablenkt.
Das ICC-Statut ist die Keimzelle einer globalen faschistischen „Rechts“ordnung, die sich hinter dem Rücken des bestehenden Völkerrechts herausbildet. Der ICC muss daher energisch bekämpft werden, sowie das Konzept der „Internationalen Strafgerichtsbarkeit“ und die ganze „Menschenrechts“-Ideologie, die kein Menschenrecht auf Brot, Kleidung, Wohnung, Arbeit, Bildung und Kultur gelten lässt, sondern nur als propagandistischer Deckmantel für die räuberischen Mächte dient, die uns von Tag zu Tag dem Dritten Weltkrieg ein Stück näher bringen.
1 Eigene Übersetzung
2 Das soll nicht bedeuten, dass automatisch jedwede Kriegshandlung auf alliierter Seite, z. B. die amerikanischen Atombombeneinsätze in Japan, gerechtfertigt wäre, weil sie formal Bestandteil des Kriegs gegen die Achsenmächte war. Zu fordern ist die umfassende Betrachtung und Analyse jedes fraglichen Kriegsereignisses. Dem entsprach der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Ganz anders verhielt sich das Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten, das per Befehl des US-Generals Douglas MacArthur eingesetzt worden war, bei der Verurteilung der japanischen Hauptverantwortlichen. Hier sehen wir schon viele Züge der internationalen Siegerjustiz, die uns fünfzig Jahre später bei den ad-hoc-Tribunalen unter UNO-Flagge in ihrer ganzen Monstrosität begegnen wird.
3 In Deutschland wurde im Jahr 2000 durch den Bundestag kurzerhand das im Grundgesetz festgeschriebene Auslieferungsverbot eingeschränkt, um diesen Skandal nicht so skandalös aussehen zu lassen.
4 S. Art. 61 des Statuts