Es gibt mehr als 6 Milliarden Menschen. Knapp die Hälfte ist bäuerliche Bevölkerung, von diesen arbeiten nur 10 % mit Hilfsmitteln der industrialisierten Landwirtschaft, oder zumindest mit einfachen Maschinen. 60 % – mit Familien also vielleicht 1,5 Milliarden, bestellen ihre Felder in Handarbeit, wodurch sie nicht mehr als einen Hektar pro Arbeiter bearbeiten können. Ihre Erträge sind damit nach oben begrenzt, ihr Verdienst in den letzten Jahrzehnten, ungeachtet jüngster Preisanstiege, aber gesunken. Das, weil sie mit einer Agroindustrie konkurrieren müssen, in der ein Arbeiter 300 Hektar bestellen kann und obendrein viel höhere Hektarerträge erzielt. Diese Bauern leben in absoluter Armut. Wann werden sie ihren Betrieb aufgeben, nach anderer Arbeit suchen und in ein städtisches Elendsviertel umziehen? In dem Moment, in dem man mit unqualifizierter Arbeit in der Stadt mehr verdienen kann. Etwa eine Milliarde hat diesen Schritt bisher unternommen und lebt in städtischen Slums.
Wir hätten jetzt den Verdienst für unqualifizierte Arbeit in unserer globalisierten Welt gefunden: Er entspricht einem bäuerlichen Kleinstbetrieb, ohne Maschinen, mit etwa einem Hektar pro Beschäftigtem. Würde er längerfristig über diese Marke steigen, werden so lange zusätzliche Bauern aufgeben und das Arbeitsangebot erhöhen, bis die Einkommen wieder gefallen sind.
Höher qualifizierte Arbeit (etwa in der Industrie) wird natürlich besser bezahlt, aber es wird eine gewisse Aufwärtsmobilität der Arbeitskräfte geben. Der Verdienst eines Industriearbeiters kann sich nur dann deutlich und dauerhaft von jenem eines armen Bauern abkoppeln, wenn die einfachen Industriebeschäftigten vor Konkurrenz durch ehemals bäuerliche Arme geschützt werden (durch Gewerkschaften oder staatliche Eingriffe, die wir aber zuvor ausgeschlossen haben), oder wenn der Industriesektor in solcher Geschwindigkeit wächst, dass die Möglichkeit der nicht Qualifizierten gewisse Basisfähigkeiten zu erwerben, überfordert wird. (Dieser Fall ist gerade in China eingetreten, die Löhne an der Küste steigen jetzt deutlich – allerdings flüchten die Betriebe in das Landesinnere oder nach Vietnam). Ein solches Wachstum wird nicht dauerhaft möglich sein.
Selbiges Modell kann man jetzt für jede weitere Stufe der Qualifikation annehmen. Geringer Qualifizierte können sich höher qualifizieren und damit für zusätzliches Angebot auf den jeweiligen Arbeitsmärkten sorgen. Ein indischer Programmierer verdient weniger als ein amerikanischer. Es wäre lächerlich anzunehmen, dass sich der Markt qualifizierter Arbeitskräfte völlig vom Einkommensniveau der nicht Qualifizierten abkoppeln kann. Wenn man sich dieses Modell am Beispiel Indien durchdenkt, dann wird klar, warum Lohnabhängige – auch bei höherer Qualifikation – so schlecht verdienen. Im Wesentlichen haben Entwicklungstheorien schon in den 60er und 70er Jahren dieses Modell für die Erklärung niedriger Einkommen etwa in Lateinamerika verwendet.
Wir gehen einen Schritt weiter zu den global integrierten Märkten für Industriegüter und handelbare Dienstleistungen (call-center, Buchhaltung für große Firmen, Softwareentwicklung …): Auch ohne jede Wanderungsbewegung, nur über die Exportindustrie, werden jetzt Preise international vereinheitlicht, handelbare Güter müssen in China das gleiche kosten wie in Österreich. Modifiziert um unterschiedliche Produktivität müssen sich daher auch die Einkommen der Beschäftigten im Bereich handelbarer Güter angleichen (oder nach unten anpassen) – und von dort wird das Lohnniveau auf die restliche Wirtschaft weitergegeben (die nicht handelbare Güter herstellt, etwa Lehrer oder Friseure), da Lohnunterschiede Beschäftigte dazu bewegen werden, sich einen anderen Job zu suchen. Ein Friseur kann auf Dauer nicht mehr verdienen als ein Industriearbeiter.
Was ist die Aussage dieses Modells? Was ist der Referenzpunkt auch des Lohnniveaus eines österreichischen Lehrers bei vollständig integrierten Märkten? Was ist das unterste Niveau, das ein auf einem völlig freien Markt ermittelter Lohn annehmen kann? Das ist der ärmste Bauer in Afrika, der gerade überlegt, ob er nicht doch unqualifizierte Arbeit in der Stadt annehmen sollte. Das gilt so lange, bis etwa 1,5 Milliarden Bauern ihre Existenz verloren haben, plus etwa 1 Milliarde Bewohner städtischer Elendsviertel einen besseren Job gefunden haben.
Die getroffenen Annahmen sind in der Realität nicht zu halten, Märkte sind nicht völlig integriert. Dagegen stehen nicht nur staatliche Regelungen, sondern auch andere Hindernisse wie Transport- oder Logistikkosten, kulturelle Probleme… Und ein österreichischer Lehrer verdient mehr als ein Kleinstbauer im Tschad. Das Beispiel zeigt nicht die Realität, es zeigt die schreckliche Kraft der Globalisierung, es zeigt den Traum der Oligarchie – denn die niedrigeren Lohnkosten sind die höheren Profite der Kapitalbesitzer. Ist unser Beispiel vereinbar mit kapitalistischer Prosperität und Wachstum? Sicher! Wachstum, bei dem die Inflationsgefahr nur von der Seite der Kapazitäten der Rohstoffindustrie und der Transportsektoren kommt, nicht von Seiten der Lohnentwicklung. Und Wachstum, dessen Nachfrageimpulse von der Seite der Investitionsgüter und dem Luxuskonsum der Oligarchie kommt. Und seitens der einen oder anderen Kreditblase: die relativ sinkenden Lohnkosten halten die Inflation niedrig, ermöglichen niedrige Zinsen, die ein um das andere Mal neue Kreditexpansion anstoßen werden.
Das erinnert an die letzten Jahre: Der Aufschwung, der bei den Menschen nicht ankommt. Die Inflation, die ihren Ausgangspunkt im Ölpreis findet, nicht in der steigenden Lohnquote, und die EZB, die vor „Zweitrundeneffekten“ warnt, die verlangt, dass die höheren Energiepreise eben ohne Lohnausgleich hingenommen werden. Die Prosperität der deutschen Maschinenbauer, sowie der Luxuskonzerne – von Ferrari bis zu den Schweizer Luxusuhren. Und die amerikanische (und britische) Kreditblase, die durch die niedrigen Zinsen ermöglicht wurde.
Die globalisierte Prosperität der Oligarchie ist störungsanfällig, weil ein Teil der Gesamtnachfrage von einer ständigen Kreditexpansion abhängig ist, die immer wieder ins Stocken geraten wird. Die globalisierte Prosperität ist krisenanfällig, aber möglich. Nur wären wir gerne nicht dabei.
Der totale Freihandel geht auf Kosten der Lohnabhängigen – die Interessen der Mehrheit gebieten eine Wirtschaft, in der völliger Freihandel nur zwischen Ländern von sehr ähnlichem Entwicklungsstand stattfindet. Statt völlig freiem Handel benötigen wir die freie Weitergabe von Technologie und Wissen. In der heutigen Form dient das Patentwesen nur den Monopolen der Großkonzerne. Statt einer entfesselten Agrarindustrie bedarf es einer Landwirtschaftspolitik, die sich für die Einkommen und die Entwicklung der Kleinbauern und der Familienbetriebe einsetzt – in aller Welt. Und statt deregulierter und globaler Finanzmärkte und zyklischer Spekulationsblasen braucht es ein staatliches Finanzsystem, das Exzesse verhindert und in Krisenzeiten die Finanzierung sichert und das durch entsprechende Kapitalverkehrskontrollen absichert.
Das wäre ein reformistisches Minimalprogramm, die Pläne der Oligarchie gehen freilich in die andere Richtung: Totaler Freihandel. Mehr Patentschutz (die USA sind gerade dabei diesen auf 40 Jahre zu erhöhen). Agrarindustrie als Antwort auf die Ernährungskrise. Offene Finanzmärkte (im Augenblick wird hier Druck auf China ausgeübt). Diese Forderungen kommen nicht von ungefähr, sie entsprechen den Interessen der globalen Oligarchie. Um den oben dargestellten Alptraum zu verhindern, wird man dieser entgegentreten müssen.