In seinem Vorwort betont der Generaldirektor der ILO, Juan Somavia, die sich verschlechternde Beschäftigungssituation. Mit der beinahe totalen Abriegelung des Gazastreifens und den weiteren Behinderungen der Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern im Westjordanland und in Ostjerusalem, ist das wirtschaftliche und politische Leben weitgehend zersplittert. Nur eine von drei Personen hat eine Anstellung. Unternehmen schließen oder arbeiten weit unter ihrer Kapazität. Ungefähr die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung ist von internationaler Lebensmittelhilfe abhängig. Die Arbeitslosigkeit ist hoch in der qualifizierten jüngeren Generation, insbesonders unter Frauen. Durch wiederholte israelische Militärangriffe und mangelnde Bewegungsfreiheit wächst die wirtschaftliche und soziale Notlage. Seit der Konferenz in Annapolis gibt es zwar Verhandlungen zwischen Israel und Palästinensern, doch teilten zahlreiche Gesprächspartner die Besorgnis des ILO-Teams hinsichtlich der tiefen Kluft zwischen den Verhandlungen, die bislang keine Fortschritte zeigten, und den „facts on the ground“ wie Sperren, Barrieren, die Trennungsmauer, militärische Angriffe, Bau und Ausbau von Siedlungen, Erweiterung des „Nur für Siedler“ Straßensystems, die Trennung Ostjerusalems von den besetzten Gebieten.
Das dichte Netz der Siedlungen und die sich daraus ergebende Zersplitterung palästinensischen Territoriums haben schwerwiegende Folgen für den Zugang der Palästinenser zu Produktionsmitteln und Arbeitsplätzen. Ende 2006 lebten 450,000 Israelis in diesen Siedlungen, einschließlich Ostjerusalem, und weitere 17,000 im besetzten syrischen Golan. Bau von und in Siedlungen wurde 2007 und 2008 fortgesetzt, trotz wiederholter Aufrufe der internationalen Gemeinschaft dem Bau ein Ende zu setzen.
Verhandlungen
Nach Meinungsumfragen im März 2008 befürworten 60% der palästinensischen Bevölkerung Friedensverhandlungen, Normalisierung der Beziehungen mit Israel, Ende der Besatzung und Errichtung eines palästinensischen Staates. Gleichzeitig sind 80% der Meinung, dass die Verhandlungen erfolglos enden würden. Obwohl 68% die gewalttätige Machtübernahme der Hamas ablehnen, unterstützen 49% eine nationale Einheitsregierung unter der Führung des Hamas Premiers Haniyeh, im Gegensatz zu den 38%, die die Fatahregierung des Premiers Fayyad bevorzugen.
Die Arabische Liga
Auf ihrer Konferenz in Damaskus im März 2008, erklärten die Mitgliedstaaten, dass sie die Arabische Friedensinitiative an Israel von 2002 neu erwägen würden, angesichts seines mangelnden Willens den Bedingungen nachzukommen. In seiner Rede während der Konferenz drückte der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas seinen Pessimismus über die Verhandlungen mit Israel aus, angesichts des fortgesetzten Siedlungsbaus und der täglichen militärischen Aktionen.
Beschränkung der Bewegungsfreiheit
Wie bereits im Bericht von 2007 aufgezeigt, verhindern Kontrollpunkte, Straßenbarrieren, Metallabriegelungen, Erdhügel, Schranken u.a. die Bewegungsfreiheit. Dazu kommt noch der Bau der Trennungsmauer. Gaza ist vom Rest der Welt abgeriegelt. Laut der israelischen Regierung sind diese Behinderungen für Israels Sicherheit erforderlich, doch stehen diese Maßnahmen nach Ansicht der Palästinensischen Behörde, den Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen u.a. in keinem Verhältnis zu einer angeblichen Bedrohung und kommen Kollektivbestrafungen gleich. Die Kommission für die Abschaffung rassischer Diskriminierung der Vereinten Nationen drückte über diese Maßnahmen und Praktiken ihre tiefe Besorgnis aus. Sie stehen auch in keiner Weise im Einklang zu internationalem Recht, mit den Verpflichtungen einer Besatzungsmacht gegenüber der Bevölkerung in den von ihr besetzten Gebieten. Im Jahre 2008 haben sich trotz der Friedensverhandlungen die Sperr- und Isolierungsmassnahmen intensiviert, insbesondere in Hebron und Nablus. In Hebron waren 1,829 Unternehmen und Geschäftslokale gezwungen zu schließen.
Die Trennmauer
Die geplante Länge der Mauer beträgt 723 km, von denen 57% zu Jahresbeginn fertig gestellt waren. Der Internationale Gerichtshof rief in einem Urteil vom 9. Juli 2004 zu einer sofortigen Beendigung des Mauerbaus auf, das in der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 20. Juli bestätigt wurde. Nur 20% der Mauer folgen der „Grünen Linie“, der ursprünglichen Grenze, 9,5% liegen in einer sogenannten „Nahtzone“, auf fruchtbarem, von palästinensischen Bauern bearbeiteten Boden und auf Wasserressourcen zwischen der Grünen Linie und der Mauer, und ist vom Westjordanland abgeschnitten. 80% aller israelischen Siedler werden zu dieser Nahtzone gehören und mit Israel verbunden. Alle Palästinenser über 16 Jahre, die in dieser Zone wohnen, werden eine spezielle Genehmigung brauchen, um dort (in ihrem eigenen Land!) leben zu dürfen.
Gaza
Nach der Machtübernahme durch die Hamas im Juni 2007 – nach ihrem Wahlsieg im Januar 2006 – intensivierte Israel die wirtschaftliche Blockade, erklärte Gaza zu einem „feindlichen Gebilde“ und erschwerte beträchtlich jegliche Bewegungsfreiheit von Menschen, z.B von Studenten mit Auslandsstipendien und von Kranken, wie von Waren, außer den allernötigsten humanitären Gütern. Die Folgen dieser totalen Sperre waren und sind weiter verheerend. Laut der Weltbank mussten von 3,900 industriellen Unternehmen, die es noch im Juni 2005 gab und 35,000 Arbeiter beschäftigten, 96% schließen. Im März 2008 waren es nur noch 130 mit 1,200 Beschäftigten. Die 100 Baufirmen mit 41,000 Arbeitern, die für Zement und anderen Waren völlig von Israel abhängen, mussten ihre Bauvorhaben einstellen. Davon sind auch die Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen betroffen. Ebenso sind alle Exporte aus Gaza unmöglich geworden wie Möbel, Textilien, landwirtschaftliche Produkte, Schnittblumen. Diese Situation führte zu Gewalttätigkeiten auf beiden Seiten – häufigen Luft- und Landangriffen Israels, Qassamraketen seitens der Hamas auf israelische Ortschaften, mit 296 palästinensischen und 11 israelischen Todesopfern in den ersten Monaten des Jahres 2008.
Immer mehr israelische Siedler
Die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten nutzen Land, Wasser und andere Ressourcen, die palästinensischen Bauern, Arbeitern und Unternehmen nicht zugänglich sind. Über 89% der Siedlungen sind ganz oder teilweise auf palästinensischem Land errichtet. Der Internationale Gerichtshof und die UN-Vollversammlung haben wiederholt auf die Illegalität der Siedlungen in den besetzten Gebieten und in Ostjerusalem hingewiesen, da sie gegen internationales Recht verstoßen und ein Hindernis zu Frieden und zu wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung darstellen. Nichtsdestoweniger gehen die Siedlungstätigkeiten weiter. Laut des palästinensischen statistischen Zentralamts bestehen 144 Siedlungen, davon 26 in Ostjerusalem, mit einer Bevölkerung von 476,760, – 16% der Gesamtbevölkerung des Westjordanlandes, 44% der Bevölkerung von Ostjerusalem. Dazu kommen noch 195 sogenannte „Outposts“, bestehend aus temporären Wohneinheiten, die selbst die israelischen zivilen und militärischen Autoritäten für illegal erklären. Der einer israelischen Juristin 2005 in Auftrag gegebene Bericht darüber blieb ohne Folge. 38% des Westjordanlandes sind gegenwärtig von Siedlungen oder militärischen Sperrgebieten in Besitz genommen. Dies führt zu einer Aufsplitterung in isolierte palästinensische Wohngebiete, die durch Straßensperren voneinander getrennt sind.
Der besetzte syrische Golan
Die syrischen Staatsbürger der besetzten Golanhöhen bewirtschaften seit Generationen ihre Ländereien und Obstplantagen. Ihr Lebensunterhalt ist zunehmend bedroht durch Landenteignung, Entwurzelung und Zerstörung von Bäumen und Sämlingen, Diskriminierung hinsichtlich Zugang zu Wasser und Baugenehmigungen durch Israel. Den jüdischen Siedlern werden 750 m3 Wasser per Dunam Land zugeteilt, den arabischen Bauern 150m3. Als Folge dieser ungleichen Zuteilung können die arabischen Bauern Äpfel nicht in gleicher Qualität und Quantität produzieren wie die jüdischen Siedler. Diese Praktiken verstoßen gegen die Standards und Prinzipien der Internationalen Arbeitsorganisation wie auch gegen internationales Recht.
Beschäftigung
Die palästinensischen Arbeitskräfte sind von einer tiefen Beschäftigungskrise betroffen. Die Hauptursache ist die bereits erwähnte Beschränkung an Bewegungsfreiheit. Das palästinensische Durchschnittseinkommen war 2006 in Israel 19mal größer als in den besetzten Gebieten. Die Arbeitslosenrate lag bei 18%, in Gaza 30%, doch darf nicht übersehen werden, dass die meisten Arbeitnehmer nicht vollzeitlich beschäftigt sind. Die Arbeitslosenrate ist am höchsten bei den 15 – 24jährigen, 30% im Westjordanland und 60% in Gaza. Die Mehrheit der Arbeitslosen und Teilzeitbeschäftigten sowie 37% der Beschäftigten leben unterhalb der Armutsgrenze.
Demographische Aspekte
Laut dem Zensus von 2007 beträgt die Gesamtbevölkerung der besetzten Gebiete 3,8 Millionen, – 45% unter 14 Jahren. Das Bildungsniveau ist relativ hoch mit 84% in Grundschulen und 64% im Sekundärbereich. 11,000 studieren an Universitäten, ein Drittel aller Jugendlichen über 15 befindet sich in Ausbildung.
Zur Lage der Gewerkschaften
Der Mangel an Bewegungsfreiheit erschwert erheblich jegliche gewerkschaftliche Tätigkeit. Besonders schwierig ist die Lage in Gaza, da seit Juni 2007 das Islamic Workers Committee der Hamas die Lokale der palästinensischen Gewerkschaften (PGFTU) besetzt hält, wogegen die International Trade Union Federation als Verstoß gegen gewerkschaftliche Grundrechte Einspruch erhob. Zusätzlich wurde im Februar 2008 das 5-stöckige Gewerkschaftszentrum der PGFTU, das in Gaza mit Hilfe der norwegischen Gewerkschaften errichtet wurde, von der israelischen Luftwaffe zerstört. Das ILO-Team erörterte dies mit den israelischen Behörden. Trotz aller Schwierigkeiten setzt die PGFTU ihre Arbeit im Westjordanland fort, schloss Kollektivverträge in mehreren Sektoren ab und verwaltet weiterhin die Arbeiterkrankenversicherung.
Schlussfolgerungen
Die ILO-Mission fand in den besetzten Gebieten im April 2008 eine äußerst desolate Situation in den Arbeits-, Beschäftigungs- und Sozialbereichen, einen über die Jahre gesunkenen Lebensstandard, einen hohen Grad an Armut und eine Verschlechterung in der Qualität der Beschäftigungen. Die sich ausbreitende Beschäftigungskrise verdeutlicht sich in einer systematischen Missachtung der Grundrechte der palästinensischen ArbeiterInnen auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Diskriminierung in Bewegungsfreiheit und in Zugang zu Arbeit und Ressourcen sind weit verbreitet. Das System der Sperren und Genehmigungen im Westjordanland, die Isolierung des Gazastreifens und die zunehmende Abgrenzung Ostjerusalems trägt nichts zur Sicherheit von Israelis und Palästinensern bei. Die Bewegungsmöglichkeiten von Personen und Gütern ist äußerst begrenzt, wenn nicht oft völlig unterbunden. Die Bevölkerung überlebt mit internationaler Hilfe und von unregelmäßiger Arbeit. Die palästinensische Autonomiebehörde erhielt neuerlich finanzielle Zuwendungen vom „Quartett“ und der internationalen Gemeinschaft, was ihr Defizit vermindern konnte. Neuerliche Zahlung von Beamtengehältern und Geldmittel für Investitions- und Infrastrukturprojekte haben die Wirtschaft einigermaßen zu beleben begonnen. Die Annapolis-Konferenz versprach neue Hoffnung, doch unter der Oberfläche herrscht Verzweiflung, Frustration und Wut. Die desolate Lage der Bevölkerung nährt Zweifel, dass die Verhandlungen zu einer Änderung in ihrem Leben führen könnten. Unter diesen Umständen versucht die Internationale Arbeitsorganisation durch Arbeitsbeschaffungs- und Ausbildungsprojekte zur Verbesserung der Lage in den besetzten Gebieten beizutragen.