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Psychiatrie in Bethlehem, Wahnsinn in Gaza
13. Oktober 2009 - Mohammad Aburous

Der Name Bethlehem hängt in Palästina nicht nur mit dem Geburtsort von Jesus zusammen, sondern auch mit Psychiatrie, denn in dieser Stadt befindet sich das einzige psychiatrische Krankenhaus im Westjordanland. In der Volkssprache wird über einen Psychiatriereifen gesagt: Ab nach Bethlehem!

1. Der Fatah-Kongress

Nach Bethlehem pilgerten am 4. August 2260 Delegierte der „Palästinensischen Nationalen Befreiungsbewegung“, abgekürzt: FATAH, wo der sechste Kongress ihrer Bewegung tagte. Ein historisches Ereignis, nicht nur wegen der Tatsache, dass der letzte derartige Kongress im Jahre 1988 stattgefunden hatte. Denn sogar den fast ausgetrockneten Jordan ist seit 1988 viel Wasser hinuntergeflossen: die erste Intifada, das Oslo-Abkommen, die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA), das Scheitern der Verhandlungen, die zweite Intifada, Arafats Tod, der Wahlsieg von Hamas, der Machtverlust der Fatah in Gaza, die Umwandlung der Fatah in eine Kollaborationsbehörde im Westjordanland usw.

Für alle diese Themen hatten die 2260 vorsichtig auserlesenen Fatah-Delegierten ganze drei Tage, aus denen schlussendlich fünf wurden.

Die Wahl von Bethlehem als Kongressort im besetzten Westjordanland brachte den Kongress unter israelische Kontrolle. Israel bestimmte, wer die Grenzen passieren durfte und machte in diesem Sinne die Einreise an sich zu einer Demütigung der Oslo-Gegner innerhalb der Fatah. Das Beharren von Abbas und seiner Riege auf Bethlehem als Austragungsort diente dazu, die meisten seiner politischen Gegner, darunter hochrangige Gründungsmitglieder der Fatah wie etwa Faruq Qaddumi (formal der Außenminister der PLO) auszuschließen.

Die Fatah hat sich historisch als unüberschaubare Zusammensetzung von mehreren politischen Strömungen unterschiedlicher Ideologien und Ziele entwickelt. Ein Bündel mit nicht-zusammenhängendem Inhalt, das jahrelang in der Faust von Arafat zusammengehalten wurde, der vor allem die Finanzen der Bewegung kontrollierte. Welche Strömung innerhalb der Bewegung in den Vordergrund trat, das hing immer mit der regionalen und internationalen politischen Konjunktur zusammen. Die Statuten der Fatah sind so dehnbar, dass sie zum Schluss jenem dienen, der die Geldmittel kontrolliert und mit seinen Außenbeziehungen Druck ausüben kann.

Im Zentralkomitee (ZK) waren ursprünglich alle Strömungen vertreten. Durch Austritt oder natürlichen bzw. gewaltsamen Tod von ZK-Mitgliedern verlagerte sich das Gewicht innerhalb des ZK ebenfalls der internationalen politischen Konjunktur zufolge. Da die Statuten dem ZK das Recht geben, die Kongressdelegierten zu ernennen, ist die Wahl des ZK durch den Kongress eine Farce.

Da ein wesentlicher Teil der ZK-Mitglieder (unter ihnen kein geringerer als Arafat selbst) tatsächlich gestorben ist oder keine Einflussmöglichkeiten hat, konnten Abbas und seine Anhänger eine angenehme Mehrheit der Delegierten zum Kongress durchbringen. Anderen, die den willkürlich zusammengesetzten Kongress boykottieren wollten, wurde mit dem Abdrehen der Gehälter gedroht. Eine Scheinopposition musste auch dabei sein, um dem Kongress einen konfrontativen und somit legitimen Charakter zu verleihen.

Der Ausfall der Delegierten aus Gaza durch das von Hamas verhängte Ausreiseverbot durfte die Beschlussfähigkeit nicht stören: Rund fünfhundert neue Delegierte aus dem Westjordanland wurden als Ersatz ernannt. Die Bevölkerung Gazas durfte dann per SMS oder Telefon abstimmen.

Die Anführer des Militärs und der Sicherheitsapparate waren übervertreten. Hingegen musste Zakaria Zubeidi, Anführer der Aqsa-Brigaden und Held der Schlacht um das Flüchtlingslager Jenin 2002, am Eingang feststellen, dass sein Name doch nicht auf der Delegiertenliste stand. Er musste in Bethlehem auf eine „Koordination“ mit den Israelis warten, die ihn unversehrt nach Jenin zurückbringen würde.
Von Bilanzen und Diskussionen über die Ereignisse der vergangenen zwanzig Jahre und ihre Bedeutung für die Gegenwart war nicht die Rede. Die Eröffnungsansprache von Abbas wurde später als „Bericht des ZK“ verkauft, es gab keinen Finanzbericht und alle politischen und organisatorischen Streitthemen wurden vom öffentlichen Kongress in kleine geschlossene Runden verbannt, die dann ihre Berichte separat an die neugewählte Führung abgeben sollten.

Spaß beiseite: Der Fatah-Kongress erreichte das von den Organisatoren gesetzte Ziel: Wahl eines neuen ZK. Genau genommen bedeutete das die Eliminierung eines Teiles der „alten Garde“, die in der Fatah und in der PLO in Opposition zu Abbas stand.

Unter dem Motto „Verjüngung“ der Bewegung, ersetzte man 70-jährige Oslo-Gegner durch 70-jährige Abbas-Treue. Die jungen Gesichter, alle in die PNA eingebunden und viele aus den Sicherheitsapparaten der PNA, wie etwa der verhasste Mohammad Dahlan (1), wurden in das ZK hinauf katapultiert. Arafats Tod und die Verlagerung des politischen und finanziellen Gewichts ins Westjordanland marginalisiert die Auslandsführung. Die Macht konzentriert sich um die von den Israelis bevorzugten Abbas und Dahlan.

Abgesehen von den üblichen Sätzen über das Recht auf Widerstand (Abbas ersetzte in seiner Rede den Begriff „bewaffneter Kampf“ durch „Volkswiderstand“) hat der Kongress keine politische Wende im Programm der Fatah gebracht. Der jetzige Kurs der fast bedingungslosen Kollaboration mit der israelischen Besatzung wurde bestätigt, die Hauptakteure holten sich ihre Legitimität aus dem Parteikongress und auch die Fatah-Sitze in der veralteten PLO-Exekutive wurden mit neuen Gesichtern aufgefüllt. Diese wird der Autonomiebehörde (PNA) unterstellt und dient nur dazu, der Kollaborationsbehörde historische Legitimität zu verleihen, etwa im Streit mit der gewählten Hamas-Mehrheit (die Hamas ist nicht Teil der PLO) im Parlament der PNA.

2. Das Gaza-Labyrinth

Die Hamas verbot den Fatah-Delegierten aus Gaza die Ausreise zum Kongress in Bethlehem. Hamas hatte im Gegenzug für die Ausreiseerlaubnis die Freilassung ihrer eintausend in den Gefängnissen der PNA inhaftierten Aktivisten gefordert. Dies nützte die Fatah umgehend aus, um etwa die Gegner von Mohammad Dahlan, die in Gaza geblieben waren, ebenfalls vom dem Kongress auszuschließen und dagegen Abbas-treue Elemente als Delegierte zu ernennen. Infolge des Kongresses kam es zu Massenaustritten im Fatah-Kader in Gaza. Das Ausreiseverbot erwies sich als ein Dienst an Abbas und Dahlan und wurde von Vielen als Repressionsmaßnahme betrachtet.

Egal wie sehr sich in Fatah eine Opposition gegen Abbas und Dahlan auflehnen sollte, werden solche Maßnahmen jede Vertrauensbasis zwischen Hamas und den anderen Organisationen zerstören und die Chancen auf ein Alternativprojekt zur PNA vernichten. Aber was will die Hamas?

Am 14. August rief ein Anführer der salafitischen (2) Gruppe „Dschund Allah“ (Die Soldaten Gottes) in Rafah ein „islamisches Emirat“ in Gaza aus. Binnen 24 Stunden stürmten die „Exekutiv“-Truppen der Hamas die „Iben Taymiyyah“ Moschee, in der sich die Soldaten Gottes verschanzt hatten, und töteten den Anführer sowie einige seiner Anhänger. Bei den Gefechten starben 24 Personen, 150 wurden verletzt. Einer der Toten hatte eine wichtige Rolle bei der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit gespielt. Die Gruppe „Die Soldaten Gottes“ galt früher als Koordinationspartner der Hamas. Die Behauptungen, es handle sich um ausländische Kämpfer aus dem Umfeld der Al-Qaida, sind vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Unter den Toten war auch ein Neffe von Moussa Abu-Marzouq, einem Politbüromitglied der Hamas.

Dieses Ereignis ist von äußerster Tragweite, ist es doch das erste Mal seit der Machtübernahme in Gaza 2007, dass die Hamas-“Exekutive“ Palästinenser gezielt tötet. Es handelt sich auch hier nicht um die traditionellen Rivalen der Hamas aus dem Fatah-Milieu oder um Kollaborateure, sondern um islamistische Kämpfer. Die Stellungnahme der Hamas zum Sturm auf die Moschee ähnelt in ihrer Terminologie jener von Abbas im Westjordanland: „Extremisten, illegale Waffen, Zügellosigkeit, irregeführte Takfir-Sekten, Durchsetzung des Gesetzes…“. Dies erklärt die heftige Kritik seitens des Islamischen Dschihads und der PFLP am brutalen Vorgehen der Hamas gegen die Salafiten.

Hamas wollte offensichtlich ein Exempel statuieren um abzuschrecken. Die Gruppe hatte nämlich die sofortige Einführung der Scharia und die „Wiederaufnahme des Dschihads gegen Israel“ gefordert, was – ironischerweise – den ursprünglichen Forderungen der Hamas ähnelt. Der Konflikt mit den diversen islamistischen Gruppen fing mit dem Versuch der Hamas-Regierung an, die Moscheen unter die Kontrolle des Religionsministeriums zu bringen (mit dem selben Argument hat die PNA Hamas aus den Moscheen des Westjordanlands verdrängt).

Zuvor hatten die Salafiten Internetcafés gesprengt, eine Hochzeit angegriffen, eine unverschleierte Frau mit Säure angegriffen und die Leute am Strand belästigt. Die Behörde der Hamas hatte bislang nichts gegen derartige Aktionen unternommen, solange sie eine langsame, eher schleichende Islamisierung des Gazastreifens bedeuteten. Seit dem Ende des Krieges im Januar, und um den Waffenstillstand einzuhalten, beschäftigt Hamas ihre Kader mit der internen Kontrolle über Gaza. Fern von medialer Konfrontation wird ein sanfter Kulturkrieg geführt. Wird eine Islamisierungsmaßnahme medial aufgegriffen und kritisiert, so distanziert sich die Regierung und behauptet, es würde sich um Einzelfälle handeln. Ein deutliches Beispiel dafür ist etwa die Einführung der Kopftuchpflicht in öffentlichen Gebäuden und Mädchenschulen. Heftige Proteste von säkularen Kräften und nichtreligiösen Bürgern wurden zum gefundenen Fressen für Ramallahs Medien. Das Bildungsministerium sprach von Einzelhandlungen lokaler Direktoren, ergriff jedoch keine Maßnahmen, um diese rückgängig zu machen.

Jeder Ungehorsam wird als Kollaboration und als Teilnahme am Dayton-Projekt (3) unterdrückt. So wurden nicht nur Aktivisten des Islamischen Dschihads verhaftet, die sich nicht an den Waffenstillstand halten wollten, sondern auch Aktivisten der nicht bewaffneten „Islamischen Befreiungspartei“, die nur ein Flugblatt in Gaza verteilten, in dem die pragmatische Politik der Hamas mit jener der Fatah verglichen wird. Das Flugblatt bezeichnet die Regierung der Hamas in Gaza als „Repressionsregime“ und vergleicht sie mit jener von Israel und der PNA im Westjordanland. Tatsächlich hält die Hamas rund hundert Fatah-Aktivisten im Gazastreifen fest. Demgegenüber sitzen jedoch mehr als tausend Aktivisten der Hamas in den PNA-Gefängnissen im Westjordanland, meist unerwähnt von den Medien.

Hamas hat es verabsäumt, aus ihrem politischen Sieg nach dem Krieg im Januar politisches Kapital zu schlagen und den Moment zu nützen. Genau wie nach der Sprengung der ägyptischen Grenze durch die ausgehungerten Massen in Gaza ein Jahr zuvor, wurde die politische Dynamik auch diesmal in den Sand gesetzt.

Anstatt als Trägerin des Widerstandsprojektes an der Bildung einer politischen Front mit den Widerstandskräften zu arbeiten und ein Alternativprojekt zur Kollaborationsbehörde in Ramallah zu bilden, bemüht sich Hamas, selbst die PNA zu sein bzw. diese mit der Fatah zu teilen. Auf der Suche nach politischer Anerkennung ist die politische Führung bereit, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren und schlussendlich für Israel den Grenzenpolizisten zu spielen. Die Blockade und die miserable Situation in Gaza zwingt sie zu Verhandlungen mit Fatah unter der Obhut des ägyptischen Geheimdienstes. Die bedingungslose und (mit der jetzigen rechtsradikalen israelischen Regierung sinnlose) Einhaltung eines einseitigen Waffenstillstands wirkt nicht nur negativ auf die Beziehung zu den anderen und eigenen Kampforganisationen, sondern auch auf die Beziehung mit der eigenen Basis. Daher ist es kein Wunder, dass viele der Salafiten ehemalige Kämpfer der Hamas-nahen Qassam-Brigaden sind.

Karikaturistisch dekadent in Bethlehem und Ramallah, surrealistisch in Gaza und politisch gelähmt überall: die palästinensische Bewegung ist heute so orientierungslos wie nie zuvor.
Palästina selbst kann derweil warten.

1) Mohammad Dahlan war bis 2007 der starke Mann der Fatah in Gaza und dort für die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung mit der Hamas im Juni 2007 verantwortlich. Als Leiter des verrufenen Sicherheitsapparats „Preventive Security“ galt er, selbst für die Fatah-Basis, als Kollaborateur und Handlanger der israelischen Armee.
2) Als „salafitisch“ bezeichnen sich die Anhänger bestimmter moderner Strömungen des politischen Islam, u.a. die Al Qaida. Sie kritisieren die Moslemische Bruderschaft und die Hamas wegen ihres politischen Pragmatismus in Bezug auf die Einführung der Sharia und die Konfrontation mit den „Ungläubigen“.
3) Der Dayton-Plan vom Mai 2007, benannt nach dem US-General K. Dayton, der als Sicherheitskoordinator zwischen der PNA und Israel fungiert, beinhaltet die militärische und wirtschaftliche Stärkung der PNA und Fatah unter Mahmoud Abbas, um die gewählte Hamas-Regierung zu schwächen und langfristig zu stürzen.