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Umstrittener Waffenstillstand
13. Oktober 2009 - Wilhelm Langthaler

Im Sommer eskalierte der Konflikt zwischen der in Gaza herrschenden Hamas und den militanten Salafiten erstmals in einer Form, die auch vom Westen wahrgenommen wurde. Doch wie lässt sich die blutige Auseinandersetzung erklären? Radikal-Islamisten gegen – ja, wen nun eigentlich? – vielleicht Radikal-Radikal-Islamisten, um in der Methodik der westlichen Medien zu bleiben, die „radikalislamisch“ als Prädikat der moralischen Verwerflichkeit benutzen.

Tatsächlich, hinsichtlich des Kulturkonservativismus und dessen Erhebung zur Richtschnur islamischen Verhaltens unterscheiden sich Hamas und die Salafiten nur graduell, genauso hinsichtlich der Härte der Durchsetzung. Einen derartig blutigen Konflikt erklärt das also kaum.

M. E. steht dahinter eine rein politische Frage, nämlich der einseitige Waffenstillstand mit Israel. Rufen wir uns die Hintergründe der Waffenruhe kurz ins Gedächtnis: Gaza bleibt mit einem Embargo belegt, das kaum das einfache Überleben erlaubt. Es handelt sich dabei um die größte moralische Wunde im Fleisch des Westens, eine Art Ursünde, die zeigt wie verlogen das gesamte Gerede von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung etc. ist. Trotzdem wird die Aushungerung auf Biegen und Brechen von der „westlichen Wertegemeinschaft“ unterstützt. Wer ausschert, ist Antisemit. Punkt! Israel versuchte mehrfach die demokratisch legitimierte Hamas-Regierung mit brutaler Gewalt zu beseitigen, zuletzt im Januar 2009. Hamas gelang es, sich als David gegen Goliath zu verteidigen – dank eines unbesiegbaren Widerstandsgeists im einfachen Volk. Doch Widerstand gegen die ganze „internationale Gemeinschaft“ kann nicht bedeuten, den Krieg permanent zu führen. (Ein Krieg, der diesen Namen kaum verdient, sondern angesichts der extremen Waffenungleichheit korrekt eigentlich nur als Massaker bezeichnet werden kann.) Des Waffenstillstands bedarf es zum einfachen Überleben. Mag sein, dass einige Kämpfer sich opfern können, aber nicht ein ganzes Volk. Eine politische Führung, die den Konsens der Massen behalten will, muss das bei Strafe des sonstigen Untergangs in Rechnung stellen. Das heißt nicht, dass militärische Aktionen nicht möglich seien, aber diese müssen ganz besondere politische Umstände vorfinden, am besten aus der Verteidigung heraus. Der Waffenstillstand ist daher eine absolute Notwendigkeit, alles andere ist Selbstmord von Abenteurern. Die Einseitigkeit der Waffenruhe ändert daran nichts, denn es bleibt nun einmal das Vorrecht des Stärkeren den Schwächeren zu provozieren. Dass man dann und wann gegen die ständige Demütigung seine Würde wieder herstellen will, ist klar und verständlich. Es wäre aber fatal, das in eine Offensivstrategie münden zu lassen, wie es die militanten Salafiten propagieren. Die totale Niederlage wäre unvermeidlich.

Aus dieser Sicht ist die Niederschlagung von bewaffneten Versuchen, den Waffenstillstand zu brechen legitim, insofern er letztlich eine Mehrheit repräsentiert.

Man kann hier durchaus ein vielbemühtes (und oft missbrauchtes) Beispiel aus der kommunistischen Geschichte als Analogie heranziehen. Als Lenin nach der Revolution angesichts der Intervention und des Bürgerkriegs 1918 mit Deutschland Frieden schloss, wurde das innerhalb der Kommunistischen Partei wütend als Kapitulation bekämpft. Lenin setzte den Waffenstillstand (mehr war es nicht, denn in keiner Weise wurde der imperialistische Gegner hofiert oder sonst wie legitimiert) dennoch durch und rettete damit den neuen Staat, der am Zusammenbruch dahinschrammte.

Die Vorwürfe an die Hamas seitens der Salafiten sind letztlich ähnlich geartet. Es wird von Kapitulation und Kollaboration mit Israel gesprochen. So wie unter den Bolschewiki gibt es auch unter der Hamas eine große Bandbreite an Positionen, einschließlich solcher, die die Zweistaatenlösung akzeptieren und Israel anerkennen wollen. Es handelt sich auch um ein Doppelspiel, je nachdem für wessen Konsum eine Aussage getätigt wird – auch das ist bis zu einem gewissen Grad eine legitime Technik der Macht, die man aus aller Welt kennt. Zudem kommt die Hamas von den Moslembrüdern, deren Quintessenz die islamische Kulturreform und ein islamischer Kapitalismus als Ersatz für die antikoloniale Revolution war. (Der Vorwurf des islamischen Kapitalismus wird empört zurückgewiesen, doch was ist das, wenn man die Eigentumsverhältnisse im Wesentlichen unangetastet lassen will? Die Moslembrüder haben sich in Ägypten, ihrem Ursprungsland, fast in eine Kaste im Rahmen der kapitalistischen Arbeitsteilung verwandelt: sie bestehen vorwiegend aus Ärzten, Ingenieuren, Professoren, etc.) Doch im Unterschied zu ihren Brüdern auf der anderen Seite des Suezkanals ist die Hamas zur Plattform des Volkswiderstands geworden, nämlich genau ab jenem Zeitpunkt, an dem die PLO den historischen Kompromiss von Oslo eingegangen ist. Die Fatah wurde von den Zionisten nach Strich und Faden betrogen (oder ließ sich betrügen), hat alles hergegeben und im Gegenzug nichts bekommen.

Unter den gegebenen historischen Bedingungen des zionistischen Extremismus an der Macht und des permanenten Krieges der USA gegen den Widerstand (an dem Obama auch nichts ändern wird, selbst wenn er den Israelis zum Schein ein Ende des Siedlungsbaus abringen mag), kann und will Hamas nicht kapitulieren. Es ist kein Platz für eine zweite Fatah. Die Abwanderung ihrer Basis zu den Salafiten ist sicher kein Indikator einer Tendenz zur Kapitulation unter den Massen. Der anhaltende Volkswiderstand unter der Fahne des Islam bleibt das Grundcharakteristikum der palästinensischen, und – etwas allgemeiner – der nahöstlichen Gesellschaften. Hamas vertritt diesen oder sie ist nicht!

Der Fehler liegt also nicht am Waffenstillstand, der die Gefahr der Kapitulation heraufbeschwöre. Aus einer antiimperialistischen Sicht kann an der Unterstützung für Hamas als Führung des Widerstands nicht gerüttelt werden, doch zwei Kritikpunkte drängen sich auf, geschöpft aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts der sozialen Revolution.

So notwendig die Unterdrückung militärischer Rebellionen sein mag, so sehr wird sich die politische Repression gegen die Mitkonkurrenten im Widerstand als Bumerang erweisen. Entweder legitimiert sie deren Rebellion oder erweist sich als „self fulfilling prophecy“, die die Konkurrenten zum Feind treibt (siehe die linkssäkulare Bewegung im Iran). In jedem Fall bedeutet dieses Herangehen einen Verlust an Hegemonie, die im Widerstand erworben wurde. Angezeigt wäre der Versuch, eine möglichst breite politische Front des Widerstands einschließlich der nichtislamischen Kräfte zu bilden, die der Fatah und der PNA jegliche Legitimität entziehen würde. Eine solche Front könnte zur neuen PLO im besten Sinn werden.

Zweitens ist da der Zug zum Kulturkonservativismus. Dieser entspricht sicher einem Trend in der Gesellschaft, wo Widerstand mit Islam identifiziert wird und dieser wiederum sich vor allem in der Einhaltung kulturkonservativer Regeln manifestiert. Doch Palästina ist nicht Afghanistan. Es gibt einen signifikanten säkularen Sektor, auch im Widerstand. Diesen zu ignorieren, an den Rand zu drängen oder sogar zu unterdrücken, kann auf lange Sicht dem Widerstand nur schaden. Auf der anderen Seite muss der linke Widerstand aber die islamische Hegemonie für die laufende Periode als Tatsache akzeptieren und beim notwendigen Bündnis in Rechnung stellen.