Im vergangenen Jahr wurden in Österreich drei Wahlen geschlagen, weitere drei stehen den Wahlberechtigten nun im kommenden bevor. Die Relevanz des dichten Wahlkalenders bemisst sich aber weniger in den taktischen Erwägungen der Spin-Doctors und Spitzenkandidaten, sondern letztendlich lassen die Wahlergebnisse Rückschlüsse auf den Zustande beziehungsweise auf die Art und Weise, wie die Elite ihren hegemoniale Einfluss absichert, zu. Darin lassen sich langfristige Trends erkennen, die auf strukturelle Merkmale unseres politischen Systems verweisen.
Manchmal können aber selbst langfristige Trends eine schockartige Wirkung entfalten. Im September wurden in Österreich auf Landesebene zwei Wahlen durchgeführt: Am 20. September war man in Vorarlberg dazu aufgerufen, einen neuen Landtag zu wählen, und schon eine Woche darauf folgte das Bundesland Oberösterreich ebenfalls mit einer Landtagswahl. Vor allem in Oberösterreich hat das Ergebnis für landespolitische Aufregung gesorgt, da die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) eine herbe Niederlage einstecken musste. In beiden Ländern konnten die Österreichische Volkspartei (ÖVP) die Stimmen in der Tendenz halten, die Roten mussten jedoch teilweise herbe Niederlagen einstecken. Die SPÖ in Oberösterreich versuchte sogleich, mit einem Personalwechsel an der Führungsspitze ein Signal zu setzen. Der unscheinbare Erich Haider wurde durch den ergrauten Josef Ackerl als SP-Landeschef ersetzt.
Trotz der Schockwirkung in Oberösterreich waren die Ergebnisse nicht wirklich überraschend. Vielmehr spiegelten sie lang- und mittelfristige Tendenzen des politischen Systems in Westeuropa wider. Dennoch gewähren Wahlergebnisse in gewisser Regelmäßigkeit Einblick in den Kräftekonstellationen innerhalb des politischen Systems. Insbesondere stellt sich die Frage, was dies für die Beschaffenheit der Hegemonie bedeutet. Denn die Fähigkeit der herrschenden Elite, eine führende Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, ist in unserem politischen System unter anderem mit Wahlen verbunden.
Dazu gibt es durchaus kontroverse Debatten. Eine entscheidende Frage, die zu behandeln sein wird, ist, wie wir den aktuellen Status des herrschenden Blocks an der Macht einordnen können. Gibt es tatsächlich Anzeichen einer fundamentalen Krise der herrschenden Hegemonie, die man als systemrelevant bezeichnen könnte, wie manche behaupten? Können wir die politische Abstinenz, die Teile der Bevölkerung erfasst hat, als einen Faktor der Stabilisierung oder Destabilisierung des politischen Systems interpretieren?
Autoritärer Etatismus und Hegemonie
In methodischer Hinsicht sind vor allem zwei Elemente zu berücksichtigen, welche die Analyse bestimmen sollen: autoritärer Etatismus und Hegemonie. Ausgehend von diesen Kategorien können wir eine kritische Perspektive auf die Wahlgänge entwickeln.
Der Begriff Etatismus, ausgearbeitet von Nicos Poulantzas, versucht, die neuen Entwicklung der politischen Systeme in Westeuropa zu verstehen und historisch einzuordnen. Unter anderem geht es auch darum, zu erklären, wie die Parteien der Arbeiterbewegung in den Staatsapparat integriert werden konnten. Etatismus bezeichnet das Phänomen, dass sich das politische Leben des Staates zunehmend auf die Exekutive konzentriert. Die Legislative gerät in immer größere Abhängigkeit und in ein untergeordnetes Verhältnis zur Exekutive. „Eine Staatsform, die ich in Ermangelung eines besseren Terminus, als autoritären Etatismus bezeichnen werde, ein Terminus, der die allgemeine Tendenz dieser Transformation anzuzeigen vermag: ein gesteigertes Ansichreißen sämtlicher Bereiche des ökonomisch-gesellschaftlichen Lebens durch den Staat artikuliert sich mit dem einschneidenden Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie mit drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten ›formalen‹ Freiheiten, die man erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden.“[fn]Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 2002, S. 231f.[/fn]
Aus wissenschaftlicher Sicht ist vor allem bemerkenswert, dass diese Phänomene heute in der Politikwissenschaft wieder lebhaft diskutiert werden, doch diesmal unter dem Titel Postdemokratie. Der britische Politikwissenschafter Colin Crouch hatte das Konzept in die Debatte eingebracht, um vor allem das Problem der Beteiligung in Demokratien neu zu theoretisieren.
Die beschränkte Bedeutung der Legislative im politischen System hat weitreichende Auswirkungen auf die Funktion von Parteien. Gesetze werden vor allem auf Initiative der Regierung beschlossen und der Inhalt der Gesetze wird zuvor vom zuständigen Ministerium ausgearbeitet. Das gesamte Parteiensystem wird in zunehmenden Maße Ausfluss der Exekutive, nicht umgekehrt, wie es ursprünglich in den Verfassungen festgelegt wurde. Die Parteien sind nicht mehr Ausdruck bestimmter sozialer, kultureller und politisch geformter Kollektive, sondern sie haben sich zu Verwaltern des Staates, zu einer Verlängerung der Exekutive, transformiert.
Die Feststellung dieser Tendenzen hat natürlich Einfluss auf die Analyse von Wahlen in einem solchen politischen System. Denn Verschiebungen in der Stimmverteilung zwischen jenen Parteien, die eng mit den Strukturen des Staates verflochten sind, müssen als Verschiebungen in den Strategien des herrschenden Blocks an der Macht verstanden werden. Dieser Prozess reflektiert also weniger Kräfteverhältnissen in der Gesamtgesellschaft als vielmehr im Staatsapparat selbst. Zwar findet eine Artikulation zwischen Stimmverteilung und Kräfteverhältnisse innerhalb des Staatsapparates statt, dies darf jedoch keinesfalls als Repräsentation von Interessen missverstanden werden.
Im Staatsapparat verdichten sich zwar die Kräfteverhältnisse der Gesellschaft, wie Poulantzas es formuliert hat, aber eine Repräsentation von Interessen im engeren Sinne kann nur bei jenen Kräften stattfinden, die Teil des herrschenden Blocks sind – die Volksmassen sind davon ausgeschlossen. Deren Interessen und Wünsche artikulieren sich in den sogenannten populistischen Parteien, deren politische Identität unter anderem in diesem Ausgeschlossensein von Machtstrukturen begründet liegt. Die entscheidende Demarkationslinie verläuft also zwischen den Parteien, die den Staatsapparat repräsentieren, und den populistischen Parteien. Der treibende Widerspruch auf politischer Ebene zwischen Staatsapparat und Volk reflektiert sich innerhalb des Parteiensystems als Gegensatz zwischen den herrschenden Massenparteien sowie den populistischen Parteien.
Nun wird auch klar, was dies für Österreich bedeutet: ÖVP und SPÖ, als Parteien des Staatsapparates, müssen sich auf der politischen Ebene vor allem gegenüber der populistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) behaupten. Dieser Widerspruch ist in der politischen Arena Österreichs, so traurig das für die Linke auch sein mag, das entscheidende Moment. Auch bei den kommenden Wahlen in Wien, dem Burgenland und der Steiermark wird dies der treibende Motor bleiben.
Der Begriff der Hegemonie ist das zweite Element, das die Analyse bestimmen soll. „Das methodologische Kriterium, auf welches die eigene Untersuchung gegründet werden muss, ist folgendes: dass sich die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als ›Herrschaft‹ und als ›intellektuelle und moralische Führung‹. Eine gesellschaftliche Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie ›auszuschalten‹ oder auch mit Waffengewalt zu unterwerfen trachtet, und sie ist führend gegenüber den verwandten und verbündeten Gruppen. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine der Hauptbedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch ›führend‹ sein.“[fn]Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Band 8: 16. bis 21. Heft, Hamburg 1998, S. 1947.[/fn] Für die Analyse der politischen Situation ist nun entscheidend, wie die führende Rolle einer sozialen Gruppe konkret organisiert ist. Durch welche intellektuellen und ethischen Projekte vermag die kapitalistische Klasse ihre führende Position weiter auszuüben?
Trends und Schockerlebnisse
Die Ergebnisse der drei Urnengänge lassen sich kurz zusammenfassen. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2009 mussten sowohl ÖVP als auch SPÖ herbe Verluste verkraften. Dennoch war die SPÖ der deutlichere Wahlverlierer, denn während die Konservativen 2,7 Prozentpunkte einbüßten, mussten die Sozialdemokraten ganze 9,6 Prozentpunkte Verlust hinnehmen. Neben der FPÖ (plus 6,4 Prozentpunkte) war die Liste Hans Peter Martin mit einem Plus von 3,7 Prozentpunkten klarer Wahlsieger. Ihr Ergebnis war deswegen bemerkenswert, da im Vorfeld über Verluste für die Liste spekuliert worden war. Hans Peter Martin konnte aber vor allem bei Nichtwählern und früheren SPÖ-Wählern punkten.
Die Wahlbeteiligung war zwar mit 46 Prozent gegenüber 2004 leicht gestiegen, dennoch kann nicht von einer Umkehr des negativen Trends der letzten EU-Wahlen gesprochen werden. Mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Personen blieben den Urnen fern, wobei dieser politische Absentismus teilweise Ausdruck bewusster politischer Motivation ist. Laut Forschungsinstitut SORA drückten die Nichtwähler/innen ihre „… Enttäuschung über die EU und ihre Politiker und Unzufriedenheit mit dem Angebot an Parteien und Politikern in Österreich …“ aus.
In Vorarlberg setzte sich ein ähnlicher Trend unter alemannischen Vorzeichen fort. Denn in dem tiefschwarzen Bundesland konnte die ÖVP ihre absolute Mehrheit zwar verteidigen, dennoch musste sie einen Verlust von 4,1 Prozentpunkten hinnehmen. Die SPÖ startete zwar auf einem niedrigeren Niveau, dennoch büßte die Partei 6,9 Prozentpunkte ein. Klare Wahlgewinner war die FPÖ, die mit einem Plus von 12,2 Prozentpunkten auf 25,1 Prozent kam. Von besonderem Interesse sind hier auch die Wählerströme. Denn den größten Verlust an Wähler/innen musste die ÖVP an die FPÖ verkraften. Der Austausch zwischen SPÖ und FPÖ ist in diesem Bundesland weniger deutlich. Die Sozialdemokraten verloren im westlichsten Bundesland vor allem an die Schwarzen und die Nichtwählerschaft. Die Wahlbeteiligung war mit 68,4 Prozent relativ schwach, obwohl ein leichter Anstieg gegenüber 2004 zu verzeichnen war.
Die oberösterreichischen Wahlen hatten ebenfalls den allgemeinen Trend widergespiegelt, doch diesmal löste der Urnengang vor allem bei der SPÖ einen Schock aus. Denn während die ÖVP sogar 3,3 Prozentpunkte zulegen konnte, rutschte die SPÖ mit einem Minus von 13,4 Prozentpunkten auf 24,9 Prozent. Die Schockwirkung ergab sich vor allem aus der exorbitanten Höhe des Verlustes, der jegliche Wahlprognose übertroffen hatte. Damit rutschte die Partei unter das Niveau von 1997 ab. Ebenfalls dem Trend folgend konnte sich die FPÖ wieder als Wahlsieger feiern lassen. Mit einem Plus von 6,9 Prozentpunkten rückte sie zur drittstärksten Kraft auf. Auch hier gewinnt die ÖVP vor allem Stimmen von der SPÖ und den Nichtwählern. Im Gegensatz zu Vorarlberg fand hier eine große Wählerbewegung von der SPÖ zur FPÖ statt. SORA schätzt, dass 45.000 Stimmen an die Blauen verloren gingen. In Oberösterreich war die Wahlbeteiligung mit 80,3 Prozent relativ hoch.
Hegemonie und Passivität
Welche Aufschlüsse können uns nun diese Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung liefern, in welchem Zustand sich die hegemoniale Kraft der herrschenden Elite befindet? Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich der langfristige Trend zur Erosion der beiden Großparteien weiter fortsetzt. Der Verfall in der Wählerzustimmung wurde in der Politikwissenschaft unter anderem mit der Veränderung des Parteiensystems und der Entstehung neuerer Kleinparteien erklärt. Doch vor allem das Konzept des autoritären Etatismus hilft uns, dieses Phänomen zu verstehen und historisch einzuordnen. Denn die Verflechtung der herrschenden Parteien, insbesondere von SPÖ und ÖVP, mit dem Staatsapparat haben zu einer zunehmenden Entfremdung gegenüber der Wählerschaft geführt. Wir stehen also vor der paradoxen Situation, dass Erosion in den Wahlergebnissen eine größere Machtfülle der Parteien aufgrund deren Integration in den Staatsapparat widerspiegelt.
Die Wahlergebnisse reflektieren einen widersprüchlichen Prozess: Jene Parteien, die mit dem Staatsapparat eng verwoben sind, verlieren in zunehmenden Maße die historische und kulturelle Verbindung zu jenen sozialen Schichten, die sie früher repräsentiert hatten. Sie agieren nur mehr als Schalt- und Schlüsselstellen in den Institutionen der Exekutive, als Instrument des Ausgleichs zwischen den Fraktionen des Blocks an der Macht. Diese zusätzliche Entfremdung gegenüber dem Volk kommt in den fortgesetzten Verlusten von SPÖ und ÖVP zum Ausdruck. Dennoch darf diese Vertiefung der Entfremdung auf politischer Ebene nicht automatisch als Hegemonie- oder gar Machtverlust verstanden werden. Zwar werden nun keine sozialen Bewegungen in Parteien organisiert und repräsentiert, doch die Führung dieser Massen funktioniert durch andere Modi. Ein Desinteresse an Wahlen darf nicht allzu optimistisch als Protest interpretiert werden, sondern ist zunächst ein Verharren in politischer Passivität. Diese fehlende Beteiligung am politischen Prozess bedeutet nicht, dass die Massen der hegemonialen Führungskompetenz der herrschenden Elite entzogen wären. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das moderne politische System des autoritären Etatismus genau diese passive Form der Hegemonie hervorbringt. Teile der Massen verharren in einem Zustand der politischen Abstinenz, der sich zwar subjektiv als Protest oder zumindest Verdruss äußern kann, objektiv aber die bestehende Konstellation der herrschenden Elite nicht in Frage stellt. Man könnte diesen Modus als Hegemonie der Passivität, oder noch überspitzter als Hegemonie der Apathie bezeichnen.
Dennoch haben die Wahlen innerhalb des Staatsapparates eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse ausgelöst. Allgemein scheint die ÖVP gestärkt daraus hervorgegangen zu sein, obwohl dies nicht unmittelbar Rückschlüsse auf die Bundesebene erlaubt. Tatsächlich sind die inhaltlichen Grenzlinien zwischen den Parteien schwierig zu ziehen. Selbst in der Frage, wie auf die Weltwirtschaftskrise zu antworten sei, kann man zum jetzigen Zeitpunkt keine klaren Festlegungen treffen. Trotzdem muss man festhalten, dass aufgrund ihrer Geschichte die Volkspartei dem Neoliberalismus und der Austeritätspolitik etwas näher steht als die SPÖ, obwohl diese selbst maßgebliche Triebkraft des Neoliberalismus in Österreich war. Umso interessanter ist der anhaltende Trend, dass die Konzepte des Neoliberalismus von den Wähler/innen nicht in eindeutiger Form abgestraft werden. Es ist also fraglich, ob sich neokeynesianische Konzepte als Antwort auf die Krise durchsetzen werden. Dennoch scheint die herrschende Konstellation, die Große Koalition, für die nächste Etappe die tragfähigste Option. Die kommende Welle der Austeritätspolitik wird nur mittels sozialdemokratischer Dominanz in den Gewerkschaften durchsetzbar sein. Trotz der Kräfteverschiebungen ist also kein Bruch innerhalb des Staatsapparates in Sicht.
Was aber tatsächlich als Ausdruck eines Widerspruchs zum Staatsapparat verstanden werden kann, zumindest in einigen Zügen, ist das Phänomen des Populismus. Denn während SPÖ und ÖVP sich Gedanken über das Krisenmanagement machen müssen, drücken sich vor allem in der FPÖ Elemente des Protests gegen diesen Staatsapparat aus. Die Gewinne der FPÖ in Vorarlberg und Oberösterreich können und werden sich mit Sicherheit auch in den kommenden Wahlen fortsetzen. Interessant wird dabei vor allem sein, ob sich die Tendenz des populistischen Protests angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit verstärken wird.