Afghanistan: Friedhof der Großmächte, Schauplatz eines erbitterten 30-jährigen Krieges und nunmehr zentraler Schauplatz des US-geführten „Kreuzzugs gegen den Terror“. Viel hört man aus dem Land am Hindukusch. Da wissen die westlichen Medien vom heroischen Abwehrkampf der „internationalen Gemeinschaft“ gegen einen unfassbaren, unsichtbaren Feind, der die Abschaffung jeglicher Freiheit begehrt, zu berichten. Von der rührseligen Anteilnahme eben jener Gemeinschaft am Schicksal der Afghanen. Da wird von den afghanischen Schulkindern erzählt, die dank der militärischen Besatzung des Landes wieder zur Schule gehen können. Von der Befreiung der Frauen und dem großzügigen Wiederaufbau des Landes.
Dabei verfolgt die NATO scheinbar ein Konzept, das sich bereits in vielen amerikanischen Filmen bewährt hat: Guter Cop, böser Cop. Während Staaten wie die USA und Großbritannien notgedrungen den „bösen Cop“ spielen und vor allem mit militärischen Operationen auf sich aufmerksam machen, versuchen andere Staaten, allen voran die BRD, den „guten Cop“ zu spielen, indem sie vorgeben, sich auf den Wiederaufbau zu beschränken. Auch wenn man immer davon spricht, der Wiederaufbau müsse ins Zentrum der Bemühungen der „internationalen Gemeinschaft“ gerückt werden, man müsse weg von einer militärischen und hin zu einer zivilen Lösung kommen, so ist man doch stets bereit, die eigenen Truppenaufgebote aufzustocken und weiter an der Besatzung des Landes mitzuwirken.
Die raue Realität
Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit Afghanistan aus der Nähe zu betrachten, herauszufinden, was dran ist an der Mär von Wiederaufbau und Befreiung. Knapp zweieinhalb Wochen reiste ich durch das Land und es zeigte sich ein gewaltiger Unterschied zwischen dem in den Medien propagierten Bild vom Afghanistankrieg und der tatsächlichen Lage vor Ort. Ganz gleich, ob wir durch die Straßen von Kabul fuhren oder uns im umkämpften Südosten des Landes aufhielten, nirgends war auch nur eine Spur von Wiederaufbau zu entdecken. Ruinen, Armut und Arbeitslosigkeit dominieren das Bild. Die einzigen Neubauten, die es in Kabul gibt, sind die der herrschenden Warlords und der politischen Klasse. Diese Neureichen sind eifrig dabei ihren neugewonnen Reichtum mit prachtvollen Villen und Hotels zur Schau zu stellen.
Demgegenüber versinkt der Rest der Stadt in Müll und Chaos. Vom Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur des Landes kann keine Rede sein. Die noch aus Sowjetzeiten stammenden Staudämme verschlammen zusehends, die Straßen zerfallen und die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Wasser und Strom lässt stark zu wünschen übrig. Ebenso der vielgerühmte Aufbau des Schulwesens. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass es eine ganze Reihe von neuen Bildungseinrichtungen gibt, diese befinden sich jedoch ebenso in privater Hand und sind nur einigen wenigen Auserwählten zugänglich. Der Durchschnittsafghane ist in der Regel viel zu sehr damit beschäftigt, sich und seine Familie irgendwie über die Runden zu bringen, als dass er es sich leisten könnte, die horrenden Gebühren zu zahlen.
Was die staatlichen Schulen angeht, so sind diese völlig überfüllt und mangelhaft ausgestattet. Tatsächlicher Unterricht findet in der Regel nicht statt. Einzig die Errichtung von Brunnen im ganzen Land lässt sich positiv vermerken. Diese sind jedoch von internationalen NGOs gesponsert und unabhängig von der staatlichen Aufbauhilfe entstanden. Insofern lässt sich der positive Beitrag, den die „internationale Staatengemeinschaft“ zum Wiederaufbau geleistet haben will, nicht ausfindig machen.
Besatzung kontra Wiederaufbau?
Ganz im Gegenteil: Die Besatzung scheint dem Wiederaufbau des Landes eher hinderlich. So bedarf jegliches Projekt, das der Entwicklung von Infrastruktur dient, der vorherigen Genehmigung der Regierung, welche sich ausschließlich an amerikanischen Interessen orientiert. Um dies zu verdeutlichen: Direkt durch ein Dorf in der Provinz Laghman, in welchem wir uns für eine Woche aufhielten, führt der Highway nach Jalalabad. Es gibt weder Ampeln noch sonstige verkehrsregelnde Einrichtungen, so dass aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der die Autos und Militärkonvois durch das Dorf rauschen, zahlreiche Verkehrstote zu beklagen sind. Um Abhilfe zu schaffen, beschlossen die Dorfbewohner eine Überführung für Fußgänger zu bauen, doch die Regierung untersagte ihnen jegliche Baumaßnahmen mit der Begründung, diese würden die Sicherheit der internationalen Schutztruppen gefährden.
Mit der gleichen Begründung wurden die Einrichtung von Geschwindigkeitshügeln oder sonstige geschwindigkeitshemmende Maßnahmen untersagt. Dies diene nur als Beispiel, um zu illustrieren, wessen Interessen in Afghanistan heute maßgeblich sind.
Dieser Umstand schlägt sich letztlich auch in der Stimmung des Volkes nieder. Vorbei sind die Tage, an denen die NATO als Befreier begrüßt wurde. Viel zu schnell wurden die Afghanen aus dem kurzen Traum von der Befreiung und dem Aufbruch ins 21. Jahrhundert zurück in die raue Realität geholt. Eine Realität, in der Warlords und ausländische Soldaten über die Geschicke des Landes bestimmen. Warlords errichten Straßenbarrikaden vor ihren Villen und blockieren damit die Straßen, ohne dass irgendeiner der Anwohner etwas dagegen tun könnte. Ausländische Truppen brausen in gepanzerten Kolonnen durch die Straßen und schießen auf jeden Afghanen, der es wagt, sich ihnen zu nähern. Von den Afghanen wird erwartet, in respektvollem Abstand zu warten, bis die Soldaten passiert haben. Erst dann können sie wieder ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen.
Schutz vor den Taleban?
In solchen Momenten, wenn amerikanische Patrouillen mal wieder Stau auf den Straßen auslösen, lässt sich in den Gesichtern der Menschen lesen, was sie von der Besatzung halten. Die zahlreichen Massaker an der Zivilbevölkerung durch NATO-Truppen, die brutale Willkürherrschaft der Warlords und Drogenbarone, die missliche wirtschaftliche Lage, all dies führt dazu, dass mehr und mehr Afghanen den Taleban zuneigen. Das hört man denn auch immer wieder aus Gesprächen heraus: Die Taleban seien das kleinere Übel, viel schlimmer seien die ausländische Besatzung und die diversen Warlords. Bei den Taleban wisse man wenigstens, woran man ist, sie würden sich zumindest an die eigenen Regeln halten. (Das Treiben eben jener Warlords, die heute im afghanischen Parlament sitzen, war schließlich der Grund für den rasanten Aufstieg der Taleban Mitte der Neunziger: Sie galten als Befreier von der Willkürherrschaft der Warlords.)
So gewinnen die Taleban immer mehr Unterstützung in der Bevölkerung. Letztlich ist es diese Unterstützung, die überhaupt ihre Existenz ermöglicht. Eine Guerillabewegung wie die der Taleban kann ohne die Unterstützung des Volkes schlicht nicht existieren. Da mögen die Herren aus der NATO argumentieren wie sie wollen, die Tatsache, dass der Widerstand weiter wächst und sich auf die nördlichen Regionen Afghanistans ausweitet, widerlegt die Mär vom Schutz der Bevölkerung vor den Taleban eindrucksvoll.
Kein Ende in Sicht
Fraglich ist, wie lange sich die Regierungen der westlichen Welt weiter gegen die eigenen Völker durchsetzen können und welche Opfer sie bereit sind in Kauf zu nehmen, um den Widerstand des afghanischen Volkes zu brechen. Schließlich steht einiges auf dem Spiel. Eine Niederlage in Afghanistan würde zwar wohl kaum zu den gleichen verheerenden Folgen wie im Falle der Sowjetunion führen. Dennoch ist mit weitreichenden Konsequenzen zu rechnen. Abgesehen davon, dass eine Niederlage in Afghanistan ein herber Rückschlag für die amerikanische Agenda der globalen Vorherrschaft wäre, könnte ein Rückzug dem Zusammenhalt der NATO einen empfindlichen Stoß versetzen, insbesondere wenn der Abzug nicht in gegenseitigem Einvernehmen abläuft und Staaten wie beispielsweise die Niederlande und Kanada „auf eigene Faust“ vorzeitig abziehen. Dementsprechend lassen die NATO-Spitzen auch noch keine Anzeichen von Kampfmüdigkeit erkennen. Im Gegenteil: Wikileaks berichtete erst kürzlich über eine geplante Propagandakampagne der CIA, um die Bevölkerung der Bündnispartner fest in Gleichschritt zu bringen. Dabei haben die Taleban inzwischen Verhandlungsbereitschaft signalisiert. In einem Interview mit der Sunday Times erklärten hochrangige Vertreter, dass sie, unter der Bedingung, dass die ausländischen Truppen abziehen und die Verfassung des Landes geändert wird, auf die Regierung verzichten würden. Letztlich sei es nie ihr Wunsch gewesen das Land zu regieren, vielmehr hätten sie sich durch die widrigen Bürgerkriegsumstände dazu gezwungen gesehen, die Macht zu ergreifen, um für Frieden und Ordnung zu sorgen. Die Talebanführung sei sich bewusst, dass unter ihrer Regierung zahlreiche Fehler begangen wurden, welche letztlich auf ihre mangelnde politische Kapazität zurückzuführen seien. Deswegen sei es nur konsequent auf die Macht zu verzichten, solange ihre Bedingungen erfüllt werden. Interessanterweise hat dieses Angebot der Taleban keinerlei Medienecho ausgelöst. Abgesehen von der Sunday Times berichtete bislang kein einziges der etablierten Medien über den Vorschlag, vermutlich weil er der Besatzung des Landes den letzten Rest an Scheinlegitimation nimmt.
Veränderungen sind notwendig
Stattdessen wird weiter das alte Lied vom heldenhaften Abwehrkampf am Hindukusch gesungen, mittlerweile kann man selbst in deutschen Regierungskreisen, wenngleich auch nur zaghaft, das Wort Krieg hören. Es bleibt demnach abzuwarten, ob die NATO-Spitzen diese Möglichkeit, sich in Würde aus Afghanistan zurückzuziehen, wahrnehmen oder nicht. So viel scheint sicher: Afghanistan stehen tiefgreifende Veränderungen bevor. Ob das Friedensangebot der Taleban, die Ankündigung Obamas mit dem Abzug der Truppen im Jahr 2011 zu beginnen, Karzeis rhetorische Abwendung vom Westen oder die intensiven Verhandlungen der Kabuler Regierung mit der Hezb-e-Islami, alles deutet darauf hin, dass dem Land am Hindukusch ein großer Umbruch bevorsteht. Ob zum Guten oder zum Schlechten wird sich zeigen. Nur eines lässt sich mit Gewissheit festhalten: Der Widerstand gegen die Besatzung wächst, sowohl in Afghanistan als auch in den Ländern, welche die Besatzungstruppen stellen.