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Archäologie im Nahost-Konflikt
28. August 2010 - Dieter Reinisch

Die Ausformung des Fachs der wissenschaftlichen Archäologie ging in Europa Hand in Hand mit ihrer Verwendung durch die Politik im 19. Jahrhundert. Wir können zwischen einer nationalen und einer nationalistischen Archäologie unterscheiden. Die nationale Archäologie erforscht ein bestimmtes Land, eine bestimmte Region. Die nationalistische Archäologie hat zusätzlich die politische Intention, die Ergebnisse zum Zwecke des nation-buildings zu verwenden. Im Gegensatz zur nationalen Archäologie geht ihre Arbeit und Intention über die eigentlichen (Staats-)Grenzen hinaus. Bei unserem Beispiel ist dies etwa durch die enge wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Einflussnahme von westlichen Staaten auf die israelische Archäologie zu erkennen.

Bruce Trigger[fn]Bruce Trigger, Alternative Archaeologies: Nationalist, Colonialist, Imperialist; in: Man. New Series, Vol. 19/3, 1984.[/fn] prägte als Überkategorie für politische Urgeschichtsforschung den Begriff alternative Archäologien. Neben der besprochenen nationalistischen Archäologie zählt er noch die koloniale und die imperialistische Archäologie dazu.

Koloniale Archäologie ist in Ländern anzutreffen, wo Archäologie selbst keine historische Verbindung mit der Bevölkerung und/oder der Kultur, die sie erforscht, hat. Ihr Ziel ist es, Primitivität und Unmöglichkeit einer Entwicklung darzustellen. Dadurch dient sie als Rechtfertigung für den Kolonialismus. Jede Kolonialmacht versucht in mehr oder weniger intensiver Form einen derartigen Wissenschaftszweig aufzubauen.

Das Fach der biblischen Archäologie kann nach dieser Definition zumindest bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als koloniale Archäologie angesehen werden. Masalha schreibt über den Charakter der Archäologie in Palästina jener Zeit, sie „war gesponsert von der britischen Kolonialmacht (1920-48) [und] leidenschaftlich jüdisch nationalistisch“[fn]Nur Masalha, The Bible & Zionism. Invented Traditions, Archaeology and Post-Colonialism in Israel-Palestine, New York 2007, 240f.[/fn].

Im Unterschied dazu können nur wenige Staaten die von Trigger sogenannte imperialistische Archäologie betreiben. Dazu ist als Vorbedingung notwendig, die kulturelle, politische und ökonomische Hegemonie über andere Länder auszuüben. Sie zielt auf die Beeinflussung des wissenschaftlichen Fachs der Archäologie in anderen Ländern durch Vorgabe von Methodik, Publikationen und/oder Ausbildung ab. Dabei verfolgt sie eine internationale, missionarische Agenda.

Koloniale und nationalistische Archäologie

Die Archäologie in Israel weist sowohl koloniale als auch nationalistische Aspekte auf. Es soll eine historische Verbindung der einwandernden Bevölkerung mit dem Land belegt werden. Somit soll klargestellt werden, es handle sich nicht um Einwanderung, sondern um Rückkehr, womit das Recht der israelischen Bevölkerung auf das Land konstruiert wird.

Der israelische Archäologe Israel Finkelstein schreibt, archäologische Befunde seien „die einzige Informationsquelle über die biblische Zeit, die nicht von vielen Generationen biblischer Schreiber umfassend korrigiert, redigiert oder zensiert wurde“[fn]Israel Finkelstein/Neil Asher Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2007, 35.[/fn]. Die Archäologie erweckt nach außen hin den Eindruck, eine politisch reine, nahezu unschuldige Disziplin zu sein. Diese „Unschuld der Disziplin wird errichtet durch eine Fassade von empirischer Objektivität”[fn]Philip Kohl, Nationalism and Archaeology: On the Constructions of Nations and the Reconstructions of the Remote Past; in: Annual Rieview of Anthropology, Vol. 27, 1998, 224.[/fn]. Im Nahen Osten gehört eine politisch einseitige Methodik und Interpretation zur Regel. Zu groß ist die Anziehungskraft, Archäologie als Rechtfertigung israelischer Kolonialpolitik herhalten zu lassen.

Die herausragende Stellung der Archäologie in der israelischen Geschichtswissenschaft liegt in der kurzen Existenz des Staats Israel begründet. Traditionen werden erfunden, um Institutionen, Status oder Machtverhältnisse zu erzeugen oder zu legitimieren. Traditionen, Mythen oder Legenden entstehen erst nach einem bestimmten Abstand zu ihrem Ereignis. So muss eine gesellschaftliche Handlung über mindestens zwei bis drei Generationen regelmäßig gepflegt werden, um von der Gesellschaft als Tradition angesehen zu werden. Aufgrund der Staatsgründung von 1948 ist die notwendige Zeitspanne nicht vorhanden.

Noch viel stärker als heute war die Archäologie in den Jahren nach 1948 ein zionistisches Projekt. Es wurde versucht, die Naqba, die Vertreibung der palästinensischen Einwohner/innen, zu rechtfertigen, indem der Staat im Namen der Bibel errichtet wurde. Zu diesem Zweck wurde in jenem Jahr das Israel Department of Antiquities gegründet. Führende Archäolog/innen, wie Yigael Yadin, belegten in dieser Zeit zugleich hohe Ämter in Politik und Militär.

Der Krieg 1967 wurde genutzt, um die archäologische Forschung voran zu treiben. Nachdem die Altstadt von Jerusalem im Sechs-Tage-Krieg von Israel besetzt wurde, war die archäologische Forschung eine der wichtigsten Machtdemonstrationen gegen die arabische Bevölkerung. Tausende Freiwillige, Soldat/innen und Student/innen wurden angeworben, um bei großflächigen Ausgrabungen in den neu besetzten Gebieten zu helfen. Ein derartiger Menschenauflauf sollte ein „Nun-sind-wir-da“-Gefühl bei der arabischen Bevölkerung bewirken und die zu erwartenden archäologischen Ergebnisse den Anspruch auf das Land bekräftigen.

Mittlerweile ist daneben eine neue Schicht israelischer Archäolog/innen entstanden, als deren bekannteste Vertreter Zeev Herzog, David Ussishkin und Israel Finkelstein zu nennen sind. Diese New Archaeology verfolgt einen anderen, weniger pro- bis nicht-zionistischen Zugang bei der Quelleninterpretation. Dies wird unter anderem damit erklärt, dass der Staat Israel heute derart gefestigt sei, dass begonnen werden könne, seine Mythen zu de-konstruieren, da dies seine Existenz nicht mehr gefährden könne.

Politik versus Wissenschaft

Die Arbeitsweise der staatlichen israelischen Archäologie unterscheidet sich erheblich von modernen wissenschaftlichen Standards. So sind die Ausgrabungen und Veröffentlichungen stark selektiv und folgen politischen Vorgaben. Die Praxis und Interpretation sind explizit religiös und nicht säkular.

Es werden schwere Bulldozer eingesetzt, um rasch zu jenen Schichten zu gelangen, die „nationale Bedeutung“ haben. So wird nicht nur verhindert, dass jüngere Schichten untersucht werden können, sondern zudem wird das darin erhaltene Material – welches überwiegend arabisch ist – zerstört und somit eine arabische Vergangenheit auf dem Boden des heutigen Israel ausgelöscht. Dies hilft, sie zu verschweigen oder gar zu leugnen. So leitet nationalistische Politik die wissenschaftliche Forschung.

Für israelisch-nationalistische Archäologie sind, aufgrund nationaler Mythen, bestimmte Epochen von höherer Relevanz. Die allgemeine Zeitspanne der biblischen Archäologie wird in der Literatur etwa mit der Spätbronzezeit (1550-1200 v. Chr.) bis zur Alleinherrschaft Konstantins des Großen 324 n. Chr. umrissen. In Israel liegt der Schwerpunkt bei der Eisenzeit I und der Zeit um und nach der Geburt Christi. Der Aufstieg der städtischen Zivilisation beginnt in der Bronzezeit, in der Eisenzeit (1200-586 v. Chr.) folgt eine Umwandlung dieser in ein System von Territorialstaaten.

In diese Zeit fallen laut Bibel die Einwanderung der Israeliten nach Kanaan und ihre Ethnogenese. Dadurch können aus fassbaren Kulturen glaubhaft Ethnien konstruiert werden, die als Urahnen dienen sollen. Und tatsächlich ist die neue Kultur der Eisenzeit „getragen von einer neuen Bevölkerungsgruppe“. Die Landnahme ist ein längerer Prozess. Die Etablierung des israelitischen Volkes im Heiligen Land wird mit dem Sieg des Juden David über den Philister – als die Vorfahren der heutigen Palästinenser/innen angesehen – Goliath besiegelt: Das monotheistische Judentum habe über die heidnischen Philister gesiegt. Finkelstein spricht von einer „Quasi-Vergöttlichung des Davids nach Gründung des Staates Israel 1948“. Der Zionismus habe „den so genannten Schtetl-Juden angekreidet (…), sie seien im Holocaust viel zu leicht in den Tod gegangen, ohne zu kämpfen“. David, der nach der Bibel kleine, schutzlose junge Mann, besiegt den übermächtigen Riesen Goliath. Nach 1948 kam es zu einer starken Anbindung an die heroischen Sagen der israelitischen Vergangenheit „und deshalb darf man bis heute nichts gegen David sagen, das hat starke Kritik vor allem aus Kreisen des linken Zionismus zur Folge“, so Finkelstein.[fn]Volkmar Fritz, Einführung in die Biblische Archäologie, Darmstadt 1985, 137-185; Kohl a.a.o., 238; Finkelstein/Silberman a.a.o., 15-38; Christian Schüle, Der den Riesen bezwang, Die Mythen der Bibel-Teil VI: David gegen Goliath, National Geographic, Oktober 2008, 128-146.[/fn]

Die zweite wichtige Epoche der Forschung ist der letzte jüdische Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht im 1. Jahrhundert n. Chr. Hier konzentrieren sich die Ausgrabungen um Masada, die Stätte der Revolte der Zeloten gegen Rom im Jahr 73 n. Chr. Der Ort, nahe des Toten Meeres gelegen, ist eine der größten Ausgrabungsstätten im Nahen Osten. Denn der – nach Überlieferung – heroische Widerstand der Bevölkerung soll das Judentum als starkes Volk darstellen.

Militant-zionistische Wissenschaft

Die israelische Archäologie konnte über lange Jahre nicht an die Fortschritte der vorderasiatischen Archäologie, vor allem in Mesopotamien und in jüngerer Vergangenheit in Süd-Ost-Anatolien, anschließen. Ihre große Schwäche war, immer ein Werkzeug der Politik gewesen zu sein. Villeneuve betont, die Grabungsstellen seien „Pflanzstätten der zukünftigen nationalen archäologischen Elite sowie wichtige Schaufenster der israelischen Gesellschaft“ gewesen. Die Archäologie sei oft „militant zionistisch“ und solle das „‚historische Recht‘ des jungen hebräischen Staates auf dieses Land“ bekräftigen.[fn]Estelle Villeneuve, Sechzig Jahre Archäologie in Israel; in: Welt und Umwelt der Bibel. 3/2008, 70-73.[/fn]

Ziel war niemals die Erforschung der Frühgeschichte mittels archäologisch gewonnener Quellen, sondern einer Konstruktion von Tradition und Vergangenheit. Dazu beschränkte man sich auf die biblischen Überlieferungen. So sollte die expansive und zionistische Politik des israelischen Staates gerechtfertigt werden.

Dies hat nicht nur indigen israelische Gründe. Einerseits ist die israelische Wissenschaft ein Importprodukt der Einwanderungswellen nach 1948, andererseits liegt eine Wurzel im kolonialen Charakter der rein westlichen biblischen Altertumskunde, die Glock als „einen Bereich der rekonstruierten Vergangenheit, zur Untermauerung jüdischer Ansprüche über Palästina“ charakterisiert.[fn]Albert Glock, Archaeology as Cultural Survival: The Future of the Palestinian Past; in: Journal of Palestine Studies, Vol. 23/3, 1994, 83.[/fn]

Nur dieses ausschließliche Beschränken auf die biblischen Überlieferungen ermöglichte eine Interpretation, welche die Legitimität der Politik des israelischen Staates nicht in Frage stellt. Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Ansätze und Quellengattungen war nicht erwünscht. Vor diesem Hintergrund musste die biblische Archäologie eine konservative Altertumskunde bleiben. Der sich in den letzten Jahrzehnten etablierende Kreis der New Archaelogists kann diesem Mangel auch nur bedingt Abhilfe schaffen. Denn bevor entscheidende theoretische Fortschritte erzielt werden können, bedarf es der Loslösung der Archäologie von der zionistischen Identitätskonstruktion.