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Die Wette
28. August 2010 - Costanzo Preve

Es handelt sich bei Langthalers Text Wilhelm Langthaler: Befreiung weltweit. Revolutionäre Subjekte jenseits der Arbeiterklasse. Wege aus dem „Krieg der Kulturen“. Wien: Promedia Verlag, 2010. um eine Pascal’sche Wette über die Aktualität des Marxschen Denkens.

Blaise Pascal hatte mit seiner Wette über die Existenz Gottes nicht einen weiteren Gottesbeweis geliefert, sondern den Glauben zweckrational argumentiert. ( Anm. d. Red.) Marx ist heute ein radikal „inaktueller“ Denker (vgl. C. Preve, Marx inattuale, Bollati Boringhieri, Torino 2004), eben weil er extrem „aktuell“ ist. Wie auch in anderen Fällen erlaubt es die gute alte Dialektik zu verstehen, dass die Realität gegenüber dem Denken immer „umgekehrt“ ist, wie ein Negativ zu einer Fotografie.

Es gibt heute einen akademischen Marxismus, der durchaus ein gewisses Niveau erreicht (siehe etwa die Zeitschriften „Actuel Marx“, „Historical Materialism“). Doch der akademische Marxismus muss sich der universitären disziplinären Spaltung der intellektuellen Arbeit fügen, weshalb die Totalität des Marx’schen Denkens notwendigerweise in unterschiedliche Spezialisierungen wie Geschichte, Wirtschaft, Jus, Philosophie, Psychologie oder Soziologie unterteilt ist. Es gibt heute auch einen sektiererischen Marxismus aktivistischer Organisationen, in dem die unterschiedlichen Interpretationen des Marxismus (z. B. die humanistische, ökonomische, stalinistische, eurokommunistische, trotzkistische, maoistische oder bordighistische) wie in einem Glashaus kultiviert werden, um die ideelle Geschlossenheit der Organisation zu erhalten. Doch dieser identitäre ideologische Marxismus kann sich dem zuvor angesprochenen akademischen nicht wirkungsvoll entgegenstellen. Der akademische und der sektiererische Marxismus sind nur zwei Gegenstücke, die miteinander essentiell verbunden sind, ja sie stehen zueinander gar in antithetischer-polarer Solidarität (Lukacs). Interpretation nach klassischer Art

Langthalers Arbeit gehört weder dem akademischen noch dem sektiererischen Marxismus an. Sie ist hingegen nach klassischer Art aufgebaut, wie eine allgemeine Interpretation sowohl der ideellen Totalität wie auch der historisch-gesellschaftlichen sozialen Gesamtheit.

Langthalers grundlegende Thesen sind folgende: 1.) Marx ist kein toter Hund. Ihn für tot zu halten, ist Teil einer vorübergehenden historischen Konjunktur, die einerseits von der schmachvollen Auflösung des historischen Kommunismus des 20. Jahrhunderts (1917 – 1991) herrührt, andererseits vom provisorischen Sieg nicht so sehr eines undifferenzierten allgemeinen „Kapitalismus“, als vielmehr eines absoluten neoliberalen Kapitalismus der von einem den Gesetzen entbundenen US-Imperium garantiert wird. Wir befinden uns in einem Zwischenstadium, in dem das Simulakrum[fn]Als Simulakrum wird in der Philosophie ein wirkliches oder vorgestelltes Bild verstanden, das mit etwas oder jemand anderem verwandt ist oder ähnlich sein kann. (Anm. d. Red.)

(Baudrillard, Debord) die Realität weitgehend ersetzt hat, im Inneren einer „flüssigen“ (Baumann) und narzisstischen (Lasch) Gesellschaft, in dem der Medienzirkus die gesamte ideologische Kontrolle über die Gesellschaft inne hat (Chomsky).

2.) Doch um zu zeigen, dass Marx kein toter Hund ist, reicht es nicht, dies festzustellen. Es gilt, die Notwendigkeit einer radikalen theoretischen Neugründung seines theoretischen Paradigmas glaubhaft zu machen. Wir befinden uns in der vom großen amerikanischen Epistemologen Thomas Kuhn beschriebenen Situation einer Krise der Wissenschaft, der Unmöglichkeit, diese mit geringfügigen Korrekturen des alten Modells aufzuhalten sowie der Notwendigkeit, ein neues Modell durchgängig zu entwerfen und dieses zunehmend durchzusetzen.

Langthalers Buch ist ein Beispiel des Kuhnschen Modells der wissenschaftlichen Revolution. Die Notwendigkeit einer Kuhnschen Revolution war bereits vom großen amerikanischen Marxisten Paul Sweezy aufgezeigt worden.

Marxsches Früh- und Spätwerk

Im ersten Teil seines Werks rekonstruiert Langthaler den Weg des Marxschen Denkens und beweist, dass er den Unterschied zwischen dessen ursprünglichem Denken und dem späteren Marxismus – die genau zu unterscheiden sind – sehr gut kennt (vgl. C. Preve, Storia Critica del Marxismo. La città del Sole, Napoli 2006). Es handelt sich nicht um eine lehrbuchartige Zusammenfassung, sondern um eine kritische Interpretation, die den historischen Kontext diskutiert, den Übergang von der Kritik der Religion zur Kritik der Politik, die Theorie der Entfremdung, die Einschätzung der bürgerlichen Gesellschaft als nicht entwickelter Ausdruck der Allgemeininteressen, den Fehler die Gesellschaft durch das Prisma einer Art „allgemeines ökonomisches Gesetz“ zu betrachten und schließlich die Akzeptanz der (bürgerlichen) Theorie des Fortschritts als hypostasiertes Konzept.

Kurz, wir finden in Marx den Zusammenfluss von zwei dialektischen Komponenten: auf der einen Seite die Gründung einer historischen Konzeption der Geschichte; auf der anderen Seite die Interpolation einer parallelen ahistorischen Geschichtskonzeption und folglich ihrer Dehistorisierung. Langthalers Rekonstruktion des Marxschen Modells ist eine der besten und dialektischsten, die ich je gelesen habe.

Langthaler untersucht anschließend die Geschichte des Marxismus nach Marx, kurz des Jahrhunderts 1889 – 1989. Er bespricht v. a. die koloniale Frage, die Privilegierung des Fabriksproletariats als einzige revolutionäre Klasse, den chauvinistischen Nationalismus und den Faschismus als gesellschaftliche Klassenreaktion, die Natur des sogenannten „Realsozialismus“ und schließlich die zunehmende historische Auflösung des Proletariats, nicht als ökonomisch-soziale Klasse (die natürlich nicht nur weiter fortbesteht, sondern auf Weltebene numerisch ihre Größe vor einem Jahrhundert bei weitem übertrifft), sondern als politisches antikapitalistisches und revolutionäres Subjekt.

Wir sehen uns so einer mutigen „materialistischen“ Selbstinterpretation des Marxismus gegenüber, indirekt inspiriert von Althussers Diktum: „Wir müssen aufhören uns Geschichten zu erzählen“.

Rolle der Religion

Langthalers Text entzieht sich so allen Kritiken am Marxismus, verstanden als Ideologie des Totalitarismus (Popper, Hannah Arendt), als laizistische Säkularisierung des religiösen Messianismus (Weber, Löwith), als großes Narrativ (Lyotard) und so weiter. Das ideologische Spektakel der aktuellen „Dekonstruktion von Marx“ wird so radikal auf ein rationaleres kritisches Terrain verschoben.

Langthaler setzt sich schließlich mit der Religion auseinander. Er macht das auf eine völlig andere Weise als die höflichen und politisch korrekten Konversationen zwischen Habermas und Ratzinger über die Religion als „Sinnressource“, die auch den Laien nützlich sei. In der heutigen Gesellschaft existiert Religion zweifellos, aber sie darf nicht nur dort gesucht werden, wo sie vermutet wird. Auf der einen Seite ist die kapitalistische Religion des wirtschaftlichen Fortschritts zu einer echten Zivilreligion geworden, die sich anmaßt, in letzter Instanz über die Rationalität auf der Welt urteilen zu können. Auf der anderen Seite findet sie sich in einer wirklich fundamentalistischen und intoleranten Interpretation der aufklärerischen Tradition, in einem Aufklärungsfundamentalismus. Und es ist heute nicht der so genannte westliche Rationalismus griechischen Ursprungs, sondern vielmehr dieser (Pseudo)Aufklärungsfundamentalismus, der das Verstehen von Phänomenen wie dem religiösen und politischen Islam verhindert.

Langthaler schwimmt auch hier gegen den Strom. Gleichzeitig nimmt er aber Themen bekannter und auch in akademischen Kreisen „anerkannter“ politisch korrekter Autoren wie Adorno und Benjamin auf.

Langthaler kritisiert maßvoll, jedoch deutlich den sogenannten „prozeduralen Universalismus“ von Habermas, ebenso Rortys „relativistischen Neopragmatismus“. Er zeigt, dass diese „moderaten“ Ansätze nicht in der Lage sind, sich neuen rassistischen und gefährlichen Weltanschauungen wie etwa Huntingtons Krieg der Kulturen überzeugend entgegen zu stellen. Und da heute der Krieg der Kulturen gegen den Islam in der westlichen Legitimationsideologie den „Krieg der Freiheit gegen den Kommunismus“ weitgehend ersetzt hat, ist es leicht zu verstehen, dass, wenn wir uns tatsächlich der Huntington-Linie entgegenstellen wollen, weder Habermas’ prozeduraler Universalismus ausreichend ist (doch mit Hegel und Marx kann der Universalismus kraft seiner Natur kein Prozeduralismus sein), noch Rortys liberaler und relativistischer Skeptizismus.

Universalismus auf neuer Grundlage

Schließlich zeigt Langthaler einen möglichen Weg hin zu einem Universalismus auf neuer Grundlage. An Bedeutung verloren hat die Idee, ihn nach prozeduralem Modell zu gründen (Kant, Weber, Habermas), ebenso wie jene auf Basis einer soziologischen Mystifizierung der Klasse der Arbeiter und Lohnabhängigen als einzigem revolutionären und emanzipatorischem Subjekt (Marx, aber v. a. der orthodoxe und auch häretische Marxismus, ohne dass hier substanzielle Unterschiede zwischen Stalin und Trotzki, Rosa Luxemburg und Gramsci etc. auszumachen wären). Langthaler ist der Ansicht, dass es derzeit außerhalb der Konnotation des aktuellen globalen Machtsystems keinen anderen Weg als den einer „negativen Universalie“ gibt. Es handelt sich hierbei nicht einfach um eine Variante von Adornos bekannter „negativer Dialektik“. Von der Kritik an dieser negativen Universalie (die an die idealistische Kritik Fichtes am so genannten „Nicht-Ich“ und die Kritik von Marx an der globalen negativen Universalie des Warenfetischismus erinnert) ausgehend, arbeitet Langthaler dialektisch einige positive Bestimmungen heraus: die Selbstbestimmung der Völker, der Nationen und der unterdrückten Klassen; die gemeinschaftliche Gesellschaftlichkeit der Solidarität, der Hoffnung und des Willens.

Tatsächlich handelt es sich bei Langthalers Arbeit um einen komplexen philosophischen Vorschlag, der folgendermaßen zusammengefasst werden kann:

1) eine globale philosophische Interpretation, laut der zunächst, anstatt a priori von einigen „westlichen“ und/oder traditionellen marxistischen Universalismen (Habermas’ Prozeduralismus, Rortys skeptischer Relativismus, Huntingtons und Fallacis arroganter und aggressiver „Ozidentalismus“, die soziologisch-messianische Heiligsprechung der Arbeiterklasse etc.) auszugehen, eine negative Universalie festgelegt wird (das globale System des Kapitals mit seiner Theologie des humanitären Interventionismus und seiner ungleichen Verwaltung der natürlichen und ökonomischen Ressourcen) und schließlich mithilfe einer emanzipatorischen Praxis ein Ensemble positiver gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Bestimmungen (siehe oben) herausgearbeitet wird;

2) eine Interpretation von Marx als widersprüchlichem Denker, in dessen Werk emanzipatorische Elemente mit ideologischen Elementen eng miteinander verwoben sind. Das emanzipatorische Element überwiegt jedoch gegenüber dem ideologischen, weshalb wir sagen können, dass Marx nicht tot ist, sondern auch heute ein wesentlicher Bezugspunkt bleibt.

3) ein antiimperialistisches Element, weshalb der Rückgriff auf das Denken von Marx nicht den Weg des Metropolen-Ökonomismus einschlagen darf (dessen letzte Version die technologische Utopie von Negri/Hardt von inexistenten Multituden im Kampf gegen ein inexistentes deterritorialisiertes und von seinen imperialistischen Merkmalen befreites Imperium ist), sondern zunächst die Verteidigung der Völker, der Nationen, der Staaten und der unterdrückten Klassen ins Zentrum der Überlegungen stellen muss.

Übersetzt aus dem Italienischen von Margarethe Berger