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Ein-Staaten-Lösung gewinnt an Boden
28. August 2010 - Wilhelm Langthaler

Sowohl hinsichtlich der Zahl als auch der politischen Breite der Teilnehmer/innen kann von einem großen Schritt nach vorne gesprochen werden. Das offensichtliche Scheitern der Zwei-Staaten-Formel, sichtbar durch die ungeschminkte Fortsetzung der zionistischen Landnahme, nimmt dem links angestrichenen Zionismus jede Glaubwürdigkeit. Immer mehr fortschrittliche Jüdinnen und Juden in Israel und in aller Welt freunden sich mit der Perspektive eines demokratischen Staates nicht nur für Juden, sondern auch für die Kolonisierten an.

Insgesamt, über den dreitägigen Verlauf der Tagung verteilt, beteiligten sich mehr als Tausend Menschen an der Konferenz. Von der arabischen Linken war alles vertreten, was Rang und Namen hat. Dabei muss man berücksichtigen, dass sich die arabische politische Landschaft in den 1948 (heute Israel) und 1967 (Westjordanland und Gazastreifen) besetzten Gebieten erheblich voneinander unterscheidet. Zudem kann eine Zuordnung zu den palästinensischen Organisationen der 1967 besetzten Gebiete, die allesamt als Terroristen gelten, zu langjährigen Gefängnisstrafen führen.

Auf der Konferenz sprachen Omar Barghuti, Koordinator der internationalen Kampagne für „Investitionsstopp, Boykott und Sanktionen“ (BDS) aowie Jamal Jumaa von Stop the Wall. Heidar Eid, eine von allen Fraktionen anerkannte Persönlichkeit und Koordinator der Bewegung gegen die Blockade des Gazastreifens, und Abd el Latif Gheith, Chef der Gefangenenhilfsorganisation „Adameer“ aus Jerusalem, wurden per Videoübertragung zugeschalten – um nur einige wenige zu nennen. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Vorsitzende der PFLP, Ahmed Saadat, schickte eine Grußadresse. Angestoßen hatte die Initiative die Organisation „Abnaa el Balad“, auf Deutsch „Kinder des Landes“ oder auch „Einheimische“, die nach wie vor den Motor des Komitees „Für einen säkularen demokratischen Staat im historischen Palästina und das Recht auf Rückkehr“ darstellt. An dem Komitee beteiligen sich auch zahlreiche jüdische Exponenten, wie die Professoren Ilan Pappe und Yehuda Kupfermann oder der langjährige linke Aktivist Eli Aminov. Die internationale Beteiligung war ebenfalls beachtlich – es waren alle fünf Kontinente vertreten.

Zunächst drängt sich die Frage auf, wie denn in Israel überhaupt eine solche Konferenz stattfinden kann? Neben der genannten allgemeinen Tatsache, dass sich der Linkszionismus in Auflösung befindet, kommt das Spezifikum Haifa hinzu. Haifa ist die einzige Metropole Israels mit einer artikulierten arabischen Minderheit. Die Segregation ist dort viel weniger radikal als anderswo in Israel. Es gibt sogar gemischte Cafés, wenn auch nur wenige. Haifa wurde so in den letzten Jahren zum politischen Zentrum der Palästinenser/innen innerhalb Israels. Es war daher kein Zufall, dass die Konferenz ebendort ausgetragen wurde.

Krise des Linkszionismus

Im Gegensatz zu den klassischen Kolonialismen stützte sich der Zionismus immer auf einen breiten linken Flügel, der über Jahrzehnte sogar dominierte. Das hat Gründe in der Geschichte, mit denen wir uns an dieser Stelle nicht weiter auseinandersetzen wollen. Mittels des systematischen Missbrauchs des Holocaust gab sich der Zionismus einen antifaschistischen Anstrich, der ihm im Westen weitgehend auch abgenommen wurde.

Der Lackmus-Test kam mit der Wende 1989/91 und der darauf folgenden neuen Weltordnung von Amerikas Gnaden. Fast überall auf der Welt wurden teils langjährige und gewalttätige Konflikte zwischen den prowestlichen Eliten und linken Befreiungsbewegungen durch formale Integration bei gleichzeitiger inhaltlicher Kapitulation gelöst, sei das nun in Mittelamerika oder auch in Südafrika. Das Abkommen von Oslo entsprach genau diesem Modell. Die Palästinenserführung war angesichts ihrer Schwäche zu jeder Schandtat bereit.

Doch Israel wollte nicht. Nicht nur legte sich die Rechte quer, veranschaulicht durch das Attentat auf Jitzchak Rabin 1995; sondern letztlich auch die Linke, die den Palästinenser/innen maximal einen Bantustan-Status zugestehen wollte. Einen Palästinenser-Staat, der diesen Namen auch verdienen würde, wollte niemand. Das Abkommen von Oslo war aber das Baby des Linkszionismus. In dem Maße, in dem er sein eigenes Projekt untergrub, entzog er sich selbst seine Existenzberechtigung. So ist jene Partei, die mindestens ein halbes Jahrhundert die Geschicke Israels lenkte, die Arbeitspartei, heute zu einer Randerscheinung degradiert. Die Peace-Now-Bewegung, die im Zuge des Libanon-Krieges entstand und als Fahnenträger von Oslo fungierte, ist heute nur mehr ein Schatten ihrer selbst.

Postzionismus

Die Auflösungsbewegung erfolgt in zwei entgegengesetzte Richtungen: Einerseits hin zur nun völlig dominanten Rechten, die in der Substanz den Palästinensern als kollektive Entität das Existenzrecht abspricht. Andererseits gibt es Anzeichen eines Postzionismus, der die zentrale Idee eines exklusiven jüdischen Staates in Frage stellt und seinen organisch rassistischen Charakter zunehmend wahrnimmt. Diese Bewegung steht noch ganz an ihren Anfängen. Erste Vorboten waren die „neuen Historiker“, die den Gründungsmythos Israels zerpflügten und historisch nachwiesen, dass der Staat auf Vertreibung, Massaker und Mord an den Palästinenser/innen aufgebaut ist. Für die meisten ihrer Vertreter führte das nicht zum Bruch mit dem Zionismus, sondern direkt zum Zynismus. Benny Morris beispielsweise fordert die nukleare Vernichtung des Iran. Ilan Pappe, einer der Exponenten der Haifa-Konferenz, zog hingegen die logischen Schlussfolgerungen und spricht sich heute offen für einen gemeinsamen demokratischen Staat mit den Palästinenser/innen aus.

Noch vor nicht allzu langer Zeit sah sich Pappe angesichts der Aggression gegen seine Person und seine Familie gezwungen, Israel zu verlassen. Heute hat sich die Situation gewandelt. An den Universitäten finden Diskussionen zum Thema statt und auch Lehrpersonal wagt zunehmend, Position zu beziehen, berichtet der Sozialwissenschaftler und Aktivist Ronnen Ben-Arie. Die radikalzionistische Webseite isracampus.org.il führt eine lange Liste all jener Akademiker/innen, die sich schuldig gemacht haben, die zionistischen Dogmen anzutasten.

Emblematisch ist die Geschichte von Tali Fahima, einer jungen jüdischen Frau mit algerischen Wurzeln, die als Likud-Unterstützerin begann. Ihre Abwendung vom Zionismus führte sie schließlich in das Flüchtlingslager Jenin, wo sie sich als menschlicher Schutzschild für den palästinensischen Kommandanten der Al-Aqsa-Brigaden, Zakaria Zubeidi, betätigte und ihm so das Leben rettete. Sie wurde wegen Unterstützung des Terrorismus zu drei Jahren Haft verurteilt. Heute versteht sie sich als Palästinenserin und lebt in einem arabischen Dorf.

Fahima bleibt natürlich eine Ausnahme, oder besser die Spitze des Eisbergs. Die Tendenz lässt sich anhand der neuen Bewegungen feststellen. „Zochrot“ bedeutet auf Hebräisch „Erinnerung“ und bezieht sich auf die Naqba, die Vertreibung der Palästinenser im Zuge der Gründung Israels. Diese Initiative ist eine direkte Antwort auf das offizielle Holocaust-Gedenken, das zur Legitimation Israels gedeutet wird. Der Gründer von Zochrot, Eitan Bronstein, sowie einige andere Aktivist/innen der Gruppe nahmen an der Haifa-Konferenz teil. Zahlenmäßig noch bedeutender sind die „Anarchisten gegen die Mauer“, die Israel Apartheid vorwerfen. Einer ihrer Aktivisten, der Mathematiker Kobi Snitz, war ebenfalls Teilnehmer der Konferenz.

Gabriel Ash vom „Internationalen Jüdischen Antizionistischen Netzwerk“ (IJAN) aus der Schweiz argumentierte, dass er dem Zionismus zwar jede Legitimität abspräche, er aber die Entscheidung über die Lösung des Problems den Betroffenen vor Ort nicht vorschreiben wolle. Ähnlich hatte Michel Warschawski vom „Alternative Information Center“ über Jahre argumentiert. Er meinte, nachdem Arafat der legitime Vertreter der unterdrückten Palästinenser/innen sei, könne man nicht über dessen Position hinausgehen. Umso bedeutungsvoller ist seine Teilnahme an der Konferenz zu bewerten.

Diese signifikante Beteiligung von jüdischen Organisationen, Persönlichkeiten und Aktivist/innen nicht nur an der Konferenz, sondern auch am permanenten Vorbereitungskomitee, ist ein tatsächlicher Durchbruch. Dennoch meinte Warschawski im Gespräch am Rande, dass das Potenzial noch viel größer sei. Tatsächlich waren die Möglichkeiten gerade im jüdischen Milieu, den sich entwickelnden Postzionismus in einen bewussten Antizionismus für einen gemeinsamen antikolonialen Staat zu organisieren, noch nie so groß wie heute.

Säkularismus als Bedingung?

Die Konferenz selbst diente angesichts der Zahl und Qualität der Teilnehmer/innen zuerst einmal dazu, die Fahne für den gemeinsamen demokratischen Staat aufzupflanzen. Wichtig war jedoch die Spezifizierung, dass Demokratie immer auch das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen beinhalten muss, was sich auch im Titel niederschlug. Die Debatte über die möglichen Ausgestaltungen der allgemeinen Formel nach einem demokratischen Staat wurde kaum geführt, man wollte vor allem Einheit zeigen. Ilan Pappe meinte dazu, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen der politischen Gärung notwendig sei, alle Varianten einzubeziehen, und die Diskussion erst ganz am Anfang stehe. Eli Aminov, ebenfalls ein Mitglied des Komitees für einen säkularen demokratischen Staat, attackierte als Einziger die Idee eines binationalen Staates. Dieser berge die Gefahr in sich, dass die jüdische kollektive Entität Territorium und Besitz weiterhin allein beanspruche. Er verwies in diesem Zusammenhang auf das südafrikanische Beispiel. Wenn unter binationalem Staat eine solche Lösung gemeint ist, mag er Recht haben, doch zwingend scheint das aus dem Begriff selbst nicht hervorzugehen. Wir lesen es indes als Hinweis, dass sich solche beschönigenden Verkleidungen der Zwei-Staaten-Lösung im Umlauf befinden.

Die eigentliche Diskussion begann – wie so oft auf politischen Konferenzen – am Treffen der beteiligten Organisationen und Aktivist/innen am Schluss. Unter anderen vom „Antiimperialistischen Lager“ wurde der Vorschlag gemacht, den Titel der Konferenz zu vereinfachen und sich auf einen demokratischen Staat zu beschränken. Erklärtes politisches Ziel dieser Intervention war es, durch die Streichung des Zusatzes „säkular“ die Plattform auf eine breitere Basis zu stellen und die Beteiligung der bis dato abwesenden islamischen Organisationen zu ermöglichen.

Der Begriff Demokratie enthält in gewisser Weise das Konzept des Säkularismus, insofern als Demokratie auch wechselseitige Toleranz gegenüber den anderen bedeutet – das heißt sowohl der Säkularen gegenüber den Religiösen als auch umgekehrt. Die Einschränkung auf säkular verengt, denn die meisten politischen Muslime würden zwar einem demokratischen Staat zustimmen, doch fühlen sie sich vom Laizismus bedroht. Das Beispiel der Türkei gibt ihnen Recht. Hinzu kommt der Bedeutungswandel des Begriffs in Europa, wo er zur Herrschaftsideologie wurde und wo unter seiner Flagge heute die islamophobe Mobilisierung läuft.

Auf der anderen Seite gibt es im linken arabischen Umfeld innerhalb des israelischen Staates, das den hauptsächliche Träger der Konferenz und der Bewegung für einen demokratischen Staat darstellt, die starke Angst, angesichts der Übermacht der islamischen Bewegung unterzugehen. Daher der verständliche Versuch, die eigene, säkulare Identität auf Biegen und Brechen zu verteidigen. Vergessen wird dabei allerdings nicht nur, dass es darum geht, ein möglichst breites und damit schlagkräftiges Bündnis zu entwickeln und nicht sich zu verkleiden, sondern dass die Forderung nach Demokratie linkes Urgestein ist und sich Muslime damit in gewissem Sinn bereits auf unser Terrain begeben.

Nächste Schritte

Allen Beteiligten sind sich dessen bewusst, dass die Losung nach einem demokratischen Staat große Möglichkeiten eröffnet. Das gilt auf allen Ebenen, sowohl was die arabische Welt und das jüdische Milieu als auch die internationale Bewegung betrifft. Die imperialistischen Mächte, die gerade eben noch Demokratie in den Irak exportieren wollten, tun sich schwer, die Forderung abzuweisen. Sie haben alle Mühe die Tatsache zu verschleiern, dass für sie Araber Menschen zweiter Klasse mit weniger Rechten sind.

Man kam überein, im kommenden Jahr eine weitere Konferenz (diesmal nicht in Israel, um die Beteiligung aus anderen arabischen und islamischen Ländern zu ermöglichen) zu organisieren und bis dahin die Plattform sowohl politisch als auch hinsichtlich der Partizipation zu erweitern. Das „Antiimperialistische Lager“ schlug fünf inhaltliche Schwerpunkte vor:

1) eine tiefere Betrachtung der globalen Krise des Zionismus
2) mögliche Varianten der Ausgestaltung eines demokratischen Staates
3) Fortsetzung der Debatte um den Säkularismus
4) Dialog mit den möglichen islamischen Partnern
5) Beispiel Südafrika: kein Ende der Apartheid ohne soziale Gerechtigkeit

Das Organisationskomitee wurde um internationale Aktivist/innen erweitert, wie beispielsweise die Grüne Partei aus den USA, die südafrikanische jüdische Aktivistin Linda Brayer und auch das Antiimperialistische Lager. Als Exekutive wurde Abnaa el Balad bestätigt.