Offensichtlich und allgegenwärtig ist die Vertiefung der politischen Fragmentierung und des Chaos’. Es hat keinen Sinn etwas anderes zu behaupten, obwohl die Hoffnung bleibt, dass wir nicht wieder in einer Periode konfessionell motivierter Gräueltaten wie in den Jahren 2006/7 versinken.
Die zu analysierenden Fronten sind die US-Pläne, die irakische Kollaborateurklasse, die regionale Politik, irakische bewaffnete Widerstandskräfte und schließlich der Großteil der irakischen Bevölkerung, der innerhalb dieses wachsenden Chaos einen Weg finden muss, um zu überleben. An jeder dieser Fronten finden Konflikte mit komplexen Dynamiken statt. Und alle Fronten sind in Wirklichkeit Bereiche, die sich überschneiden und die einander rasch beeinflussen, sobald Veränderungen auftreten.
Daher ist es nur möglich, vage Trends von relativer Dauer zu erkennen. Ich werde diese aus der Perspektive der irakischen Öffentlichkeit schildern und darstellen, wie jede Front die andere sieht.
Gleichbleibende Machtaufteilung?
Die Trends sind widersprüchlich. Auf der einen Seite zeigen sich konfessionell-ethnische Verfestigungen, d. h. ein guter Teil der Menschen wählt entsprechend ihrer konfessionellen und ethnischen Angehörigkeit, was auch von der Besatzungsmacht gefördert wird. Ein widersprüchlicher Aspekt ist jedoch, dass viele Sunniten, welche die Wahl im Jahr 2005 boykottiert hatten, diesmal an den Wahlen teilnahmen und hauptsächlich die säkulare interkonfessionelle Iraqia-Liste wählten, die vom bekennenden CIA-Agenten Ayad Allawi angeführt wird.
Dieses unerwartete Ergebnis entstand trotz der starken Spaltungen zwischen den irakischen Politikern und innerhalb der irakischen Öffentlichkeit. Aber der Trend zu konfessionell-ethnischen Verfestigungen wird innerhalb der verschiedenen Gruppen in jedem Lager fortgesetzt, wo die Koalitionen ähnlich wie bei den Wahlen von 2005 gebildet werden. Dies ist weitgehend durch die Iraqia-Liste erreicht worden, die als Deckmantel für den Seitenwechsel der USA interpretiert wird. Demnach wurden die Baathisten zurückgeholt, um dem iranischen Einfluss entgegenzuwirken, der durch die einstigen US-Verbündeten, die schiitischen religiösen Parteien, immer stärker zur Geltung kam.
Die USA unterstützen seit einigen Jahren offen eine Reintegration der Baathisten und die lokalen sunnitischen Widerstandsgruppen, die Al Qaida bekämpfen und den bewaffneten nationalen Widerstand verraten haben. Die Logik des Umdenkens der USA zielt offensichtlich darauf ab, die heute dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien zum Gehorsam zu zwingen. Oder aber sie ist als Eingeständnis der Unmöglichkeit zu interpretieren, den Widerstand militärisch zu besiegen und ein neokoloniales Regime ohne eine Koalition konfessioneller Gruppen, welche die demografische Struktur annähernd widerspiegeln würde, zu etablieren. Jedoch wurde dieser Kurswechsel den USA, vor allem von Ahmad Jalabi und anderen, geschickt als drohende Rückkehr zur vermeintlichen Dominanz der Sunniten über die Schiiten dargestellt.
Die echte Bedrohung stellt die Verprassung vieler Milliarden Dollar des irakischen Nationalvermögens dar, das von den schiitischen Gruppen in den Jahren seit der Besatzung veruntreut wurde. Einiges davon ist zu lokalen Gruppen durchgesickert, die sich heute dazu bekennen, Komplizen oder inkompetente Profiteure von Posten im riesigen Staatsapparat zu sein, auf Kosten von qualifizierteren Personen, die einfach als Baathisten, Saddamisten oder Terroristen bezeichnet und entfernt wurden.
Das gleiche politische bzw. soziologische, auf kurzfristigen materiellen Interessen basierende Verhalten kann in den kurdischen Teilen der Bevölkerung beobachtet werden. Und auch auf der sunnitischen Seite sind ähnliche Einstellungen sichtbar. Einige fanden, dass sie durch die Weigerung, mit der Besatzung zu kollaborieren, viel verloren hätten. Die Besatzung sei vorübergehend und vorübergehende Abkommen brächten einige Vorteile mit sich, sei es um das Überleben zu sichern, um Menschen zu schützen oder auch als politische Taktik, einschließlich der Akzeptanz des US-Mannes Allawi, wenn es darum ginge, ein Gegengewicht zu den schiitischen Parteien zu bilden. Ähnliche Einstellungen herrschen unter großen Teilen der irakischen Flüchtlinge und der Inlandsvertriebenen.
Für viele der prinzipientreuen Besatzungsgegner und Unterstützer des Widerstands scheinen diese Positionen unter den Sunniten, Schiiten und Kurden verständliche menschliche Überlebensstaktiken zu sein, welche die Einschätzung der Wahlen nicht beeinträchtigen, insbesondere weil sie einige Mythen entlarven und die gewohnte Strukturierung der politischen Szene, einschließlich der Sicherheitsapparate und Dienstleistungen, durchbrechen.
Es erscheint derzeit unwahrscheinlich, dass der Irak von diesem gesellschaftlichen Verfall geheilt werden kann, der sich im verbreiteten Niedergang der Moral widerspiegelt und ohne viel Aufhebens von ethnischen und religiösen Argumenten gedeckt wird. Regionale und internationale Visionen für den Aufbau des Irak gibt es nicht.
Ein anderes Parlament?
Ein Gegentrend zur ethnisch-konfessionellen Verfestigung ist die große Veränderung in den Persönlichkeiten, die durch das System der offenen Listen ins neue Parlament gewählt wurden. Über 80 Prozent der früheren Parlamentsabgeordneten haben ihre Sitze verloren – die Ausgeschiedenen gehen quer durch die von der Besatzung geförderte politische Klasse. Zu ihnen zählen Minister, etwa der Verteidigungsminister Ubaidi und der Innenminister Bolani (führende Figuren im wichtigsten Schiitischen Islamischen Rat und den zugehörigen Badr-Milizen) Alsaghir in der Sunniten Islamischen Partei, alle kommunistische Kandidaten und diejenigen von säkularen Gruppen, die sich für Offenheit gegenüber Israel oder den USA generell eingesetzt haben.
Die Ergebnisse der Wahlen, ungeachtet der vermutlichen Manipulierung durch verschiedene Gruppen, spiegeln die allgemeine Verachtung und das Misstrauen gegenüber der gesamten politischen Klasse wider. Das ist mehr als der im Westen bekannte Zynismus. Ganz offen werden Wut und Verachtung von Einheimischen im Fernshen geäußert.
Die Wahlergebnisse waren für beide der wichtigsten schiitischen Listen (Irakische Nationalallianz von Muqtada as Sadr und Liste der Rechtsstaatlichkeit des bisherigen Ministerpräsidenten Nuri al Maliki) viel schlechter als erwartet. Sie wurden vor allem in den südlichen Provinzen gewählt. Innerhalb der Nationalallianz verlor der früher dominierende Islamische Rat am stärksten, während die Sadristen, die ihre Bewerber durch die Innovation von lokalen Vorwahlen bestimmt hatten, zur stärksten Kraft aufstiegen. Ministerpräsident Malikis Liste der Rechtsstaatlichkeit hatte ganz offensichtlich darunter zu leiden, dass eine Minderheit zur säkularen Iraqia-Partei wechselte und zwar nicht nur in Bagdad, sondern auch im Süden. Maliki akzeptiert dies noch immer nicht und diese Ablehnung drei Monate nach den Wahlen ist die Ursache für eine tiefe Krise und viel öffentliche Verachtung.
Beide kurdische nationalistische Parteien hatten unter dem Anstieg der desillusionierten Wähler zu leiden. Talabanis Hälfte verlor in ihrer Hochburg in Suleymania massiv an Taghyeer („Die Veränderung“) und Barzanis Hälfte an die islamischen Allianzen, die scheinbar vom Handel mit der Türkei profitierten. Wie die politischen Parteien der Schiiten, so blieben die kurdischen Parteien weit hinter dem zurück, was sie erwartet hatten. Die allgemeine Zusammensetzung des neuen Parlaments scheint im Großen und Ganzen weniger verzerrt als die vorhergehende und alle Spieler scheinen diese Korrektur der Wahrnehmung zu ertragen. In ihren Interviews klingen sie alle weniger schrill, sondern vielmehr von der öffentlichen Meinung abgestraft.
Offizielle Zahlen zur Teilnahme, die übrigens nur wenige Menschen als wahrheitsgemäß betrachten, zeigen, dass 38 Prozent der Wahlberechtigten die Teilnahme boykottierten. Zur Stimmenthaltung braucht es indes konsequentes Handeln in einer Situation, wo rund eine Milliarde Dollar ausgegeben und alle Ressourcen eingesetzt wurden, um eine hohe Beteiligung in einem Land zu gewährleisten, das heutzutage fast völlig abhängig von den staatlichen Einnahmen und der Beschäftigung im öffentlichen Sektor ist. Unter den mehr als zwei Millionen Irakern im Ausland enthielten sich über 80 Prozent der Stimme. Das zeigt, wie sie über diese Politik denken, einschließlich Allawis Iraqia-Partei, die ihre Rückkehr zur Priorität gemacht hat.
Die Menschen passen sich an
Die Iraker wissen, dass sie eine Phase der Veränderung traditioneller Identitäten durchmachen. So erkennen etwa die Sunniten ihr Sunnitentum plötzlich als identitätsstiftend.
Die verhasste konfessionelle Praxis und Rhetorik der herrschenden schiitischen Kollaborateure ruft eine langsame und tiefgreifende Reaktion gegen die Schiiten hervor, die zeigt, dass erhebliche Schwierigkeiten bei der Herstellung von sozialem Frieden zu erwarten sind. Ein Beispiel dafür sind die massiven Bombenangriffe auf öffentlichen Plätzen und die gewaltsame Sprache der entsprechenden Erklärungen, die Al-Qaida zugeschrieben werden und die mit der Aufdeckung von Folter und Vergewaltigung in geheimen Gefängnissen der Regierung in Zusammenhang stehen. Dies ist verbunden mit rassistischer Sprache über arabische und persische Identitäten, die nicht nur vom Kampf gegen die Besatzung ablenkt, sondern auch ein Bündnis der Nationen des Nahen Ostens gegen den Imperialismus und Zionismus behindert.
Widerstand bleibt aktiv
Alles, was die Iraker erhoffen können, ist, dass die Kräfte des irakischen Widerstands sich erfolgreich durch die Gewässer der widerstreitenden regionalen Strömungen navigieren und ihren eigenen Frieden schließen. Der bewaffnete Widerstand bleibt aktiv und richtet sich ausschließlich gegen die US-Stützpunkte, in denen die Truppen sich jetzt hauptsächlich aufhalten und ihre Geschäfte abwickeln, abgesehen von einigen Patrouillengängen. Die durchschnittliche Anzahl von getöteten US-Soldaten im Monat beträgt etwa die Hälfte der Anzahl vor einem Jahr, was selbst nur einen Bruchteil der Anzahl früherer Jahre ausmacht. Dies ist eine erstaunliche, jedoch von den Medien ignorierte Widerstandsfähigkeit der Kräfte, die absolut keine Unterstützung von der Außenwelt haben. In der Zwischenzeit ermöglicht die Widerstandskraft als Nation den Irakern, sich durch ihre tägliche Routine zu kämpfen. Es ist ein langer Weg, bis alle imperialistischen Pläne durchkreuzt und eine vollständigen Befreiung, Gerechtigkeit und gleichberechtigte Staatsbürgerschaft möglich sein werden.