Header Image
Relativer Universalismus
30. Januar 2011 - Albert Reiterer

Wir können nicht ab ovo beginnen. Wir müssen es auch nicht, jedenfalls nicht die, welche sich nicht an das Sowjet-Modell geklammert haben. Doch trotzdem bietet sich uns einerseits die Tradition der Arbei­terbewegung und des Sozialismus als eine Belastung dar. Diese Tradition hat die analytische Begrifflichkeit in einer Weise dogmatisiert und die Denkabläufe in Geleise eingefahren, dass es ganz außerordentlich schwierig ist, die alten Formeln zu vermeiden. Das aber würde inno­vatives Zugehen verhindern. Andererseits ist die marxistische Tradition absolut unentbehrlich, will man nicht ständig das Rad neu erfinden. Und schließlich ist diese Tradition und die Par­teinahme für sie auch eine politische Erklärung. Die neoliberale Dominanz und Hegemonie ebenso wie manche Dritte-Welt-Fundamentalismen bekämpfen sie ja gerade deswegen mit tödlichem Hass und durchaus dem Willen, auch die Menschen zu vernichten, die sie denken.

Die Begrifflichkeit im Denken über Gesellschaft entwickelt sich ständig weiter. Da ist viel an Mode dabei: Ein neuer Jargon, gegenwärtig der postmaterialistische, der postmoderne, gehört zum guten Ton. Und trotzdem ist es eine strategische intellektuelle Notwendigkeit, sich in gewissem Ausmaß an die aktuelle Begrifflichkeit zu halten. Es ist eine Frage der Haltung: Ein relativer Universalismus muss immer versuchen, den Blick auf neue Erkenntnisse und neue Perspektiven zu richten. Denn relativer Universalismus bedeutet, sich bewusst zu sein, dass man immer historisch beschränkt bleibt, nie an irgend eine absolute Erkenntnis heran kommt. Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass es Unterschiede in den unterschiedlichen Weltsichten gibt: Nicht jede erklärt gleichviel. Dieser Versuch, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten und aufzunehmen ist gewiss nicht ohne Gefahr: Er verleitet zur intellektuellen Kurzatmigkeit, zum Nachhecheln hinter oft belanglosen Modeströmungen und zur Oberflächlichkeit. Aber die gegenteilige Haltung stammt aus einem fundamentalistischen Dogmatismus. Bestimmte Formen des Marxismus sind verbunden mit solchen Unerfreulichkeiten wie Scholastik und irrationale Apotheisierung von jeweils zwei oder drei Theoretikern – neben Marx und Lenin meist irgendein Sektenvater; und manchmal ist es auch schlicht Trägheit.

Eine Lösung für dieses Dilemma könnte sein: Wir müssen die wesentlichen gültigen Inhalte in eine neue Sprache übersetzen und damit das Denken zumindest konzeptuell deklarieren. Teils ist dies eine rein terminologische Sache: Ob wir die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ sagen oder aber „Kapitalintensität“, ist für die meisten Zusammenhänge bedeutungslos. Oft genug ist es damit aber keineswegs getan. Tatsächlich ist eine ständige Auseinandersetzung mit der Tradition nötig, nicht zuletzt, um ihre Fehler zu vermeiden. Damit ist natürlich die Gefahr gegeben, dass man inhaltlich und stilistisch zum Scholastiker wird.

Die Bankenkrise seit 2008 hat in den hoch entwickelten Ländern zu einer neuen sozialen und politischen Situation geführt. Nicht dass das Bild wirklich neu ist: Aber es tritt nun deutlich stärker akzentuiert hervor. Zwar ist eine starke Mehrheit der Menschen in Österreich mit den eigenen Lebensumständen einigermaßen zufrieden und schätzt das Lebensniveau als nicht schlecht ein. Aber ein erheblicher Teil derselben Menschen ist mit der politischen Struktur und vor allem mit der politischen Klasse ziemlich unzufrieden. Gegen letztere baut sich ein regelrechtes Ressentiment auf. Dieses macht sich nun seit vielen Jahrzehnten erstmals erkennbar, diffus auch gegen die wirtschaftlichen Eliten geltend. Die Themen eines Protests sind also vorhanden; aber Protest allein bringt noch keinen Schritt nach vorn und führt zu keiner Transformation. Denn gleichzeitig wenden sich die Verlierer vor allem jenen Kräften zu, welche diese Strukturen nicht nur stabilisieren, sondern auch programmatisch verstärken wollen: In Österreich ist auf Parteienebene die politische Gewinnerin die FPÖ, die z. B. eine Flat-Tax einführen möchte und damit das symbolische Schlachtross der US- und der osteuropäischen Neokonservativen aufzäumt.

Dieser Widerspruch an der politischen Oberfläche deckt eine Reihe von Widersprüchen zu, die teils struktureller Art sind, teils auf strategischen Kuppel-Punkten zur Zivilgesellschaft und zur Politik ansetzen. Versuchen wir, ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der wichtigsten davon zu identifizieren.

Nation – Internationalismus

Die Nation bleibt das bevorzugte Referenzsystem des Protests und seine Handlungsebene. Doch zum Einen verlagern sich die politischen Entscheidungsebenen hin zu übernationalen unkontrollierbaren Bürokratien. Zum Anderen sind praktisch alle Angehörigen der hochentwickelten Welt die Nutznießer der Zentrum-Peripherie-Struktur – das alte Problem, das vor einem Jahrhundert etwas verkürzt als „Arbeiteraristokratie“ beschrieben wurde. Zum Dritten fördert aber innerhalb der Metropolen die aktive Politik, die politische Klasse an der Macht, die Übernationalisierung des politischen Systems, den Abbau der Handlungskapazität des Nationalstaats sowohl gegenüber übernationalen Bürokratien als auch gegenüber dem Großkapital. Die Internationalisierung (Globalisierung) des sozioökonomischen Systems soll die Entstehung einer Eindrittel-Gesellschaft herbei führen.

Eine Identifizierung der großen Mehrzahl der europäischen Bevölkerungen mit den hegemonialen Kräften des Zentrums bleibt kulturell – aus der großregionalen Identität her – und politisch – über die dominanten Interessen – „natürlich“. Gleichzeitig regt sich eine Ahnung, dass doch ein erheblicher Teil dieser Bevölkerung selbst auch bald zu den Verlierern zählen könnte. Die Bankenkrise bzw. die politische Reaktion darauf hat diese Bewusstwerdung durchaus gefördert.

Dies ist tatsächlich ein oder vielleicht sogar der Hauptwiderspruch, der sich in einer Reihe von Erscheinungsformen äußert, nämlich als:

Xenophobie der Zu-Kurz-Gekommen: Die Dritte Welt, zu der man keinesfalls gehören will, steht vor der Tür und erinnert unangenehm an den möglichen eigenen Absturz. Die Herausforderung ist gleichzeitig symbolisch und real. Denn dass Einwanderer Lohndrücker sind, steht ja wohl außer Frage. Aber noch mehr sind sie eine symbolische Bedrohung.

Nationaler Protest gegen Übernationalisierung (EU) hindert nicht den gleichzeitigen häufigen Appell an die eigentlich verabscheuten Organisationen zum Handeln, das nur noch stärker zum Verlust jeder nationalen Kontrollmöglichkeit führen müsste. Das lässt erkennen, dass dieser Widerspruch nur die spezifische Ausformung eines weiteren ist, nämlich: gesellschaftliche bzw. politische Planung versus bürokratischen Autoritarismus.

Dieses Problem stellt sich gleich doppelt: Politische Kontrolle insbesondere der ökonomischen Abläufe ist eine Notwendigkeit. Das wir gegenwärtig sogar von den herrschenden Kräften konzediert, wenn sie es auch eilends auf die „Missbräuche“ im Finanzsystem einschränken wollen. Gleichzeitig ist aber ein hohes Maß an persönlicher und organisatorischer Autonomie erforderlich, um das ständige soziale und ökonomische Trial & Error zu gewährleisten. Die seinerzeitige Debatte um Plan und Markt im Sozialismus – und ihr Scheitern – hat gezeigt, dass dies kein technisches Problem ist. Bürokraten sind Techniker und Machtträger. Beides ist für die gesellschaftliche Entwicklung gefährlich. Was die Macht betrifft, braucht dies nicht näher erläutert zu werden. Aber es gibt nicht zufällig auch den Witz: Hätte man die Entwicklung der Beleuchtung den Technikern anvertraut, dann säßen wir jetzt bei der vollkommenen Öllampe beisammen.

Vor allem aber ist politische Kontrolle Machtausübung. Macht aber akkumuliert und verselbständigt sich. Der anarchische Impuls ist als politischer Grundaffekt sympathisch und eine Notwendigkeit. Wer aber hohe Produktivität und damit eine Großgesellschaft will, muss organisatorische, d. h. „bürokratische“ Strukturen entwickeln und akzeptieren. Mit dem postmodernen antibürokratischen („grünen“? „alternativen“?) Affekt ist es nicht getan.

Der Anti-Islamismus wird zur Abwehr der eigenen Ängste vor der gerade überwundenen Vergangenheit in Armut. Nahezu alles, was man heute bei uns dem Islam vorwirft, hat bis vor wenigen Jahrzehnten mental auch den österreichischen Katholizismus geprägt. Die gegenwärtige Missbrauchs-Debatte ist ein spätes Aufbrechen jener Einnistung ins politische System, die den Katholizismus und jede Religion an der Macht stets gekennzeichnet hat.

Massen contra Intellektuelle

Auf der Handlungsebene, der organisatorischen und politischen, bleibt der Massenprotest unformuliert und oft inkohärent, weil es zu einer Ausformulierung intellektuellen Einsatzes bedürfte. Ohne eine Formulierung und Façonnierung durch Intellektuelle ist ein politisches Projekt neuer Art unmöglich. (Auch das ist ein altes Thema, das vor einem Jahrhundert leider in verquer Lenin’scher Art über die Vokabel „tradeunionistisches Bewusstsein“ und „Hineintragen des Sozialismus in die Arbeiter-Bewegung“ abgehandelt wurde.)

Anti-Intellektualismus ist historisch wohlbegründet, da Intellektuelle – in Pareto’scher Art[fn]Der italienische Soziologe Vilfredo Pareto gilt als Vorläufer des Faschismus. Er beschreibt u.a. den Wechsel von Eliten als einen Austausch zwischen alten und neuen Eliten, niemals jedoch als Prozess, an dem die Massen teilhaben.[/fn] – in ihrer Mehrzahl stets zu den Gewinnern der Entwicklung gezählt haben. Ihr Theorie- und Politik-Anbot wird daher mit tiefem Misstrauen betrachtet, zumal gerade die emanzipativen Bewegungen meist sehr schnell ihren ursprünglich egalitären Impuls und Anspruch vergaßen – sowohl der Leninismus als auch der Reformismus, der bald ohne wenn und aber zum Transformismus wurde. Aber ohne (Gegen-) Intellektuelle ist auch Gegen-Politik nicht möglich. Ergebnis ist eine gewisse Lähmung. In der Politik setzen die Träger des populären Protests eindeutig auf Personen, welche vom Habitus her das Gegenteil von Intellektuellen sind – in Österreich z. B. Strache. Auch wenn hier plebeischer Protest mitspielt, so ist dieser Protest weitgehend Affekt und ohne Potenzial. Damit hängt ein weiterer Widerspruch eng zusammen.

Androzentrierte Grundordnung versus feministische Vulgär-Ideologie

Der Patriarchalismus traditionaler und traditionalistischer Verhältnisse hat auch die okzidentale Gesellschaft und Kultur völlig geprägt. Im europäischen Modernisierungsprozess begann sodann vor gut einem Jahrhundert, die ideologische Grundhaltung aufzubrechen. Das war damals Teil eines Kultur-Kampfes progressiv versus konservativ. Die sozialen Strukturen änderten sich wesentlich langsamer als die intellektuell-hegemonialen Mentalitäten. In den 1980er und 1990er Jahren wurde ein gewisser Wendepunkt erreicht. Gleichberechtigung wurde im Westen zu einem nicht mehr in Frage gestellten Ziel. Vor allem aber realisierte man zur selben Zeit: Dies könnte ein prächtiges Differenzierungskriterium sein. Damit konnte man die kulturelle Differenz zur Dritten Welt betonen. Plötzlich wurden die rückwärts gewandtesten Gruppen zu Beinahe-Feministen. Stockkonservative und reaktionäre Schichten werden, wie auch ihre politischen Sprecher, zu Vertretern der Frauen in der Dritten Welt, und gerade in der Provinz gehört „Nicht ohne meine Tochter!“ zum Pflichtinhalt von Bücherregalen. Während also die vor allem in der Einheit der traditionalen Familie (klassische Ehe) fest gegossenen Geschlechterverhältnisse sich nur langsam und gegen große Widerstände – von Männern und Frauen, von Institutionen, von überlieferten Strukturen – wandeln, wurde die Ikone „Gleichberechtigung“ (nicht Gleichbehandlung) zur Standarte im Kreuzzug gegen die Unterentwickelten. Diese Tendenzen werden dann besonders widersprüchlich, wenn sie aufgegriffen werden, um sich gegen die Untermenschen der Dritten Welt zu wenden.

Die ungleiche Entwicklung prägt aber auch die Struktur der Metropolen selbst. Zwar ist die Gleichstellung der Geschlechter auch in den hegemonialen Schichten unserer Gesellschaft noch nicht volle Wirklichkeit. Doch das ist eine Frage nicht allzu langer Zeit. In den Unter­schichten sieht die Wirklichkeit aber ganz anders aus. Dort sind nicht zuletzt die Mentalitäten noch ganz anders. Damit wird der Vulgär-Feminismus der politischen Öffentlichkeit zu einem rassistischen und kulturalistischen Instrument. Gleichzeitig wird er zu einem Legitimierungs-Instrument eines neuen Klassismus. Die Folge ist: Jene stehen dem Feminismus besonders misstrauisch gegenüber, die feministischer Impulse am meisten bedürften.

Szientismus versus Esoterik

Welterklärung aus dem säkularisierten Blick auf die entzauberte Welt war schon vor drei Jahrhunderten das Hauptanliegen der europäischen Aufklärung. Es waren vorerst nur winzige Gruppen, ja Einzelpersonen und zwar gewöhnlich mit höchst elitären Einstellungen, die dieses Anliegen betrieben. Der erste mächtige Schritt in die Massen hinein fand mit der Entstehung der Arbeiterbewegung statt. Sie trachtete auch in diesem Bereich die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Klientel ging mit den intellektuellen Führern mit. Das war plausibel, weil sie wahrnahm, dass die damaligen Hauptgegner, das Ancien Regime, sich vorerst auf ein altmythisches Weltbild abstützten.

Aber das säkulare Welt- und Geschichtsbild konnte den Herrschenden gut, ja viel besser dienen als die alte Mystik. An Anekdoten wird dies schon klar. Marx wollte sein „Kapital“ Darwin widmen, der aber lehnte ab. Denn dieser und seine authentischen Jünger, von Galton über Haeckel und Bölsche bis zu Lombroso, waren ganz bewusst Pfeiler einer hierarchischen und möglichst ungleichen Gesellschaft. Diese darwinistische Strömung errang innerhalb einiger Jahrzehnte auch die intellektuelle Dominanz in Europa. Somit war es wenig überraschend, dass sich bald auch ein backlash gegen die Rationalität vorbereitete. Esoterik wurde zu einer Gedankenströmung „alternativer“ Gruppen aus dem Umfeld der Mittelschichten.

Gegenwärtig ist dieses Feld unübersichtlich. Es ist aber jedenfalls sehr widersprüchlich. Auch der Szientismus ist sehr gut gegen die Zurückgebliebenen der Dritten Welt einsetzbar. Esoterik hat in den Metropolen ein gewisses, wahrscheinlich kurzfristiges Potenzial der Subversion. Es ist kaum zufällig, dass sich nicht wenige Vertreter des Vorgestrigen drauf setzen: In manchen katholischen Pfarrhäusern gibt es heute Meditationsräume für Zen-Buddhismus.

Eine spezifische Situation findet sich offenbar in den USA, also der militärisch-politisch dominanten Kraft der Metropolen. Die religiöse Rechte ist immerhin eine Massenbewegung und hat Kultur-Reaktion (Kreationismus) als ihr Hauptprogramm. Sie versucht dies mit Konformismuszwang und Gewaltbereitschaft durchzusetzen. Mit ihr vereint sich nun eine kleine, elitäre Gruppe der Leo Strauss-Adepten. Talibanisierte Strömungen koalieren mit outrierten Machiavellisten; George Bush fand seine Stütze in Dick Cheney. Die von den Konservativen gefürchtete und bekämpfte Einwanderung aus Lateinamerika kommt ihnen aber zugute: Sie hält mit ihrer katholischen Verwurzelung die Retro-Mentalität aufrecht. Die erfolgreichen Aufsteiger unter dieser Gruppe liefern einen erheblichen Teil des reaktionären Nachwuchses: Der Rechtsberater und Justizminister der Bush-Regierung Alberto Gonzalez, dessen katholische Großeltern offenbar illegal eingewandert waren, der aber selbst schon in Texas geboren ist, ist ein hübsches Beispiel.

Konservative Erlebenswelt versus eigenes Interesse an einem Wandel

Die kulturelle Identität der Massen war und ist seit je konservativ und definiert sich über althergebrachte Lebensformen. Während jedoch im Prozess des Nationenaufbaus und der Demokratisierung sowie beim Aufbau des Wohlfahrtsstaats diese Interessen politisch deutlich genug waren und auch noch ein gewisses Vertrauen in die politischen Führer und ein Optimismus seitens Intellektuellen der Gegen-Kultur („mit uns zieht die neue Zeit“) gegeben war, ist seit dem permanenten Angriff auf den Wohlfahrtsstaat („Reformen“) nur mehr Defensive angesagt. Diese Defensive nimmt die Kleidung des Sozial- und Kultur-Konservatismus an. Kulturelle Innovation kam weiters wegen einer weit verbreiteten Scharlatanerie ihrer Protagonisten und der entsprechenden Ansprüche auf Genie in Verruf. Neue ästhetische Ausdrucksweisen sind nicht einfach Versuch und Irrtum oder Vorschläge; sie gehen stets mit Denk-, Fühl- und Gefall-Verboten gegenüber den alten Formen einher; sie stoßen nicht zuletzt deswegen auf Misstrauen, weil sie wieder mit dem unbegründeten Anspruch verbunden sind, dass die Protagonisten von der Gesellschaft, d. h. den Arbeitenden, erhalten werden wollen. Es geht schlicht auch um Geld und seine Verteilung. Während aber die Bundestheater-Subventionen – auch eine drastische Umverteilung von unten nach oben – nicht in Frage gestellt werden (weil man kein „Banause sein will“), kann man sich viel plausibler gegen andere Ausdrucksweisen wenden, die keine Handwerklichkeit erfordern.

Ein Beispiel aus Österreich macht dies deutlicher. Der Aktionismus der 1960er Jahre war eine überfällige Provokation gegen die konservative Provinzkultur und ihre Denkgewohnheiten. Er wurde aber sofort elitär und reaktionär, als er sich zur „Kunst“ erklärte. Schon der Begriff mit seinem pseudo-religiösen Inhalt ist ein Rückgriff auf die schlechtesten Traditionen des 19. Jahrhunderts. Anstelle ihn zu dekonstruieren – als Anspruch bestimmter kleinbürgerlicher Intellektueller auf Teilhabe an bisherigen Eliten-Privilegien – machten sich erst die Aktionisten und sodann die gesamte angeblich progressive Kulturszene in diesem Begriff bequem. Man konnte damit ja Ansprüche stellen und Gelder lukrieren. Den Privilegien- und Ausbeutungscharakter des Kunstbegriffs wollte man nicht benennen, sondern ihn vielmehr für die eigenen Interessen nutzbar machen: Man hoffte, selbst in diese Kaste aufzusteigen. In der breiten Bevölkerung verband sich in der Haltung dagegen der alte Konservativismus mit dem sehr realen Gefühl, nicht nur zum besten gehalten, sondern schlicht wieder einmal übervorteilt zu werden – und ein Großteil reagierte allergisch darauf.

Mir scheint gerade im Kulturbereich der Widerspruch besonders ausgeprägt, der sich aus der Rolle der Intellektuellen und ihrer sozialen Einbettung ergibt. Aus den plebeischen Schichten ist kulturell bisher kaum eine Neuerung gekommen, die nicht einfach wieder ein Neuaufwärmen abgestandener, vor allem religiöser Opiate darstellt. Die unverzichtbaren Innovationen der Intellektuellen hingegen dienen diesen aber immer dazu, ihre Privilegierung aufs Neue zu begründen und zu verlängern. In diesem Sinn ist die faschistoide Pareto-These von der Zirkulation der Eliten durchaus realistisch.

Ein für das Funktionieren einer postrevolutionären Gesellschaft (?) praktisch äußerst wesentlicher Widerspruch war und bleibt auch jener zwischen hochgesteckten materiellen politischen und moralischen Erwartungen und der frustrierenden Realität eines in seinen Möglichkeiten überaus eingeschränkten Alltags. Ein sozio-ökonomischer und politischer Prozess, der nicht erfahrbare Verbesserungen sowohl in der materiellen Bedürfnisbefriedigung als auch in den Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten und schließlich auch in einem langsamen Mentalitätswandel bringt, ist schon gescheitert. Sicher kann es da unterschiedliche „Gleichgewichte“ (Grade des Fortschritts) geben. Eine Preobrazhenski-Politik jahrzehntelanger Überakkumulation einerseits und des Konsummangels andererseits ist der direkte Weg in eine Nomenklatura-Gesellschaft.

Und die Strukturen?

All diese Widersprüche sind in der Struktur des Weltsystems zu Grunde gelegt, wie es sich vor allem in den letzten drei Jahrhunderten, im Prozess der „Großen Wegscheide“ entwickelt hat. Aber in ihren Äußerungen gehören sie alle der kulturellen und politischen Sphäre an. Das ist nicht anders möglich. Der Mensch als kulturelles Wesen macht sich sein jeweiliges Bild von der Welt und der Gesellschaft. Es war ein fundamentaler Fehlgriff der vulgär-marxistisch geschulten Arbeiterbewegung der Zweiten und Dritten Internationale, ständig einen Kurzschluss zwischen den Strukturen und ihnen entsprechenden (möglichen!) Interessen und dem Bewusstsein bzw. dem politischen Handeln voraus zu setzen. Nichtsdestoweniger bleibt die Struktur die Grundlage.

Eine theoretische Bemühung um Handlungsmöglichkeiten und politische Perspektiven ohne eine umfassende und gründliche Strukturanalyse wird zur kurzfristigen Taktiererei. Die Struktur bestimmt nun einmal die Handlungsspielräume der Menschen, je nachdem, wo sie stehen. Das ist übrigens nur die alte Wahrheit, dass „die Basis den Überbau“ bestimmt – aber vielleicht weniger deterministisch und neu begründbar in einer uns heute geläufigeren Sprache. Die Verfügung über materielle Ressourcen ist jenes Potenzial, das Einwirkung auf andere Menschen ermöglicht oder behindert.

Krisen und „Krisen“

Neoliberale Ideologen beschreiben die derzeitige Depression als „Staatsschuldenkrise“. Das ist im Wesentlichen Propaganda. Als die Bankenkrise zur Wirtschaftskrise wurde, entstand diese „Schuldenkrise“ erst. Schließlich ist sie auch tatsächlich eine Euro-Krise: „Während Deutschland selbst mit einem Euro-Kurs von 1,80 Dollar wettbewerbsfähig wäre, benötige Griechenland einen Kurs von 0,34 Dollar“ zitiert die NZZ (14. 6. 2010) einen skeptischen konservativen Experten. Aber in einem Punkt ist das Gerede von der Schuldenkrise richtig: Die EU-Länder wollten einerseits die Ausgaben im Eliten-Interesse nicht kürzen, scheuten andererseits aber auch tiefe Einschnitte im sozialen Netz. Das könnte zur Unruhe in der Bevölkerung führen. Nun haben sie den erwünschten Vorwand dafür und ein ganz erheblicher Teil der Bevölkerung geht trotz aller Missstimmung mit dem „Sparen“ mit.

Die gegenwärtige Krise des Finanzmarkts, die in den hoch entwickelten Ländern auch zu einer realwirtschaftlichen Krise geführt hat, muss somit in ihren Konsequenzen eingeschätzt werden. Dabei muss man sich aber vor jeder Illusion hüten. Wir erinnern uns zu gut noch daran, wie z. B. Ernest Mandel und Genossen in den 1960er und 1970er Jahren jede Wachstumsverlangsamung und jeden kleinen Streik zum Beginn der revolutionären Krise ausrief. Aber die meisten Krisen bisher waren keine revolutionären Krisen – sie waren Transformationskrisen: Die politischen Eliten konnten sie nutzen, um sich auf neue Umstände einzustellen.

Konjunkturen und Krisen gehören essentiell zum Gesamtprozess kapitalistischer Produktion und Akkumulation. Die Regelhaftigkeit ihres Ablaufs hat einzelne frühe Ökonomen so ver­wirrt, dass sie ihnen, in einem wörtlichen Sinn, als Naturnotwendigkeit erschienen. W. St. Jevons führte in den 1870er Jahren Konjunkturen auf den Sonnenfleckenzyklus zurück. Über diesen Extremfall von Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse – immer eine Tendenz unter Ökonomen – lächeln heute sogar diese.
Wesentlich ist: Konjunkturen und Krisen waren immer wieder ein Problem auch der Hauptstrom-Ökonomie, die aber gleichzeitig immer wieder in Versuchung war, sie zu leugnen, wenn sie nicht gerade sehr aktuell waren.

Die Banken- und Finanzkrise ab 2007 ist eine für die gegenwärtige Ausformung des Finanzkapitalismus spezifische Form, die der Konjunktur-Krisen-Zyklus annimmt. „The business-cycle is“ keineswegs „obsolete“ (Bronfenbrenner). In diesem Sinn ist der Hinweis nicht unnütz, dass diese neueste Krise nicht so ganz verschieden ist von den vielen anderen auch (Reinhart / Rogoff). Über Jahre hinweg lief die Finanzspekulation sozusagen leer, weil sie sich von der Realwirtschaft abgekoppelt hatte. Die Verbindung ist nun wieder hergestellt. Sie läuft über mehrere Kupplungen: Geschäftsbanken greifen auf durch Ketten von Ansprüchen stark mediatisiertes Realvermögen zu, das durch (Beinahe-) Zusammenbrüche disponibel wird.
Der Staat erstellt „Auffangkonstruktionen“ und übernimmt Haftungen, die Geld in das Wirtschafts- und Finanzsystem pumpen. Damit wird eine neuerliche Umverteilung teils be­reits eingeleitet, teils für die nächsten Jahre vorbereitet. Die „Konsolidierung der Staatsfinan­zen“ wird über den Abbau staatlicher, insbesondere sozialer Leistungen und Garantien (z. B. für Pensionen) stattfinden.

Ein übergroßer Teil der Realwirtschaft beruht auf Krediten. Der sogenannte Leverage-Effekt hat im Aufschwung für die Unternehmen gespielt, jetzt dreht sich die Geschichte um. In diesem Sinn ist das ständige Jammern um die geringe „Eigenkapital-Ausstattung“ der Un­ternehmen berechtigt, wenn auch die Maßzahlen (z. B. Prozentsatz an Umsatz) undurchsichtig und im Vergleich nichtssagend ist. Aber Phänomene wie stark steigende Immobilien- und erst recht Effekten-Preise sind immerhin gute Frühwarnsysteme, die belegen, dass sich wieder eine Blase aufbaut, die irgend einmal platzen wird. Die wirtschaftliche Regulierung über den Markt mit seinen Entwicklungs-, Allokations- und Effizienzfunktionen spielt sich in Zyklen ab; altmarxistisch: Das Wertgesetz setzt sich in Krisen durch. Die Folge der Leverage-Struktur müssen also Finanzkrisen sein.

Sieht man dies so, dann wäre die Finanzkrise eine Folge realwirtschaftlicher Entwicklungen. Kann dies stimmen? Ist dies nicht hauptsächlich eine Finanzspekulationen-Krise?

Möglicherweise haben wir zwei Phänomene zu unterscheiden. Die Finanzblasen betrafen eine Zeitlang nur ein sehr eingeschränktes Segment, das mit dem Rest der Menschheit nur über Luxus-Konsum eine Verbindung hatte. Über eine Reihe von Links könnte dieses Segment aber an die Realwirtschaft wieder angekoppelt haben und verstärkt nun mit dem Platzen ihrer Blasen die krisenhafte Entwicklung der Realwirtschaft.

Beispiel US-subprime Krise: Es gibt einen Bau- und Immobilien-Zyklus in beherrschbarem Ausmaß, der ähnlich funktioniert wie der „Schweinezyklus“, d. h. über Verzögerungen nach dem cobweb-Mechanismus. Aus diesem Zyklus entsteht eine Blase, wenn Bankangestellte, getrieben von eigenen Einkommensgelüsten und von ihren Verkaufsleitern gehetzt, die Menschen mit allen Mitteln in Kredite hineinlocken („Ninja-Kredite“), unter der Voraussetzung, dass die Preise ständig steigen. Diese Blase platzte Sommer 2007. Damit setzte eine Spirale nach unten ein: Zuerst kamen Millionen von Menschen dran, die ihr Kleinstvermögen verloren. Das wieder brachte die Banken in Schwierigkeiten. Dann warf der Staat gutes Geld dem schlechten nach und erzeugt damit auf Jahre hinaus eine offene und vermutlich noch länger schleichende Krise des nationalen und sodann internationalen Finanzsystems überhaupt. Schließlich nimmt dies in vielen Ländern den Konsum überhaupt zurück und mündet in den klassischen Krisenfall.

Die hoch entwickelten Länder erleben einen neuerlichen Schub der Tertiärisierung, u. a. weil einige Länder (China, Indien, sonstige) sie in einem rasanten Prozess der Industrialisierung bei ihren eigenen Unterschichten auskonkurrenzieren. Das wäre wieder ein typisch realwirtschaftlicher Ablauf. Wie hängt er mit dem Finanzsystem zusammen? Offenbar über den Aufbau von Leistungsbilanzdefiziten (USA) und -überschüssen (China). Man kann dies durchaus auch als einen neuerlichen Kondratieff-Zyklus[fn]Die Kondratieff-Zyklen beschreiben den Kern einer von dem russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff entwickelten Theorie zur zyklischen Wirtschaftsentwicklung, die Theorie der langen Wellen[/fn] interpretieren. Der Systemcharakter der Weltwirtschaft erhält einen neuerlichen Schub. Ein wichtiger Teil der gesamten materiellen Produktion wird in die aufstrebenden Länder verlagert; nolens und volens verstärkt sich der Tertiär-Charakter der Metropolen, weil sie einerseits (volens) zusätzliche Leitungsfunktionen übernehmen, andererseits (nolens) die persönlichen Dienste ein größeres Gewicht erhalten. In zwei bis drei Jahrzehnten wird der Netto-Effekt auch eine starke Verlagerung des in BIP gemessenen Wirtschaftsgewichts nach Ost- und Südasien sein, falls dazwischen nicht in China und Indien eine Revolution ausbricht. Dabei könnte ein lang andauernder schleichender Aufstand (wie jener der neuen Naxaliten in Chatisgarh) diesen Prozess zumindest verlangsamen.

Aber diese Form der Krisen hat es ständig gegeben und als Automatismen werden sie keinen Emanzipationsschub bewirken, eher im Gegenteil. Warum?

Krisen wurden von den herrschenden Kräften stets zum Herrschaftsausbau genutzt. Kamen sie, etwa als Wirtschaftskrisen, nicht von selbst, so hat man sie gemacht. Denn Krisen sind nicht zuletzt eine Form der Wirklichkeitswahrnehmung und die Wahrnehmung eines Prozesses oder eines Zustands als Krise seitens der Bevölkerung erlaubt es, außerordentliche Vollmachten anzustreben und außerordentliche Mittel einzusetzen. Es ist dasselbe wie mit dem Begriff der „nationalen Sicherheit“, vielleicht etwas weniger drastisch. Tatsächlich ist der Krisenbegriff der gängigen Politik engst mit dem Sicherheitsbegriff verwandt und die sogenannte Neue Sicherheitspolitik versucht aktiv, beides in ein Konzept zu gießen.

Heute kann die Elite, zumindest in Kontinentaleuropa, nicht mehr (oder noch nicht?) Kriege vom Zaun brechen, wenn sie glaubt, mehr Zustimmung oder weniger Kritik zu brauchen. Wie wir wissen, ist dies jenseits des Atlantiks und vielleicht auch in anderen Ländern anders. Eine Finanzkrise kommt also gerade recht und man nutzt sie auch nach Kräften. So griff auch die österreichische Regierung im Herbst 2008 mit beiden Händen nach der Bankenkrise, die es in Österreich kaum gab – selbst Frau Schmidt als Finanz-Chefin der Kommunalkredit und die Herren Verzetnitsch und Hundsdorfer bei der BAWAG hatten keine veritable Krise zustande gebracht. Aber man brauchte einen Vorwand und den hatte man in den Geschehnissen in den USA und sonstwo. Es war von vorneherein klar, dass dies schließlich dazu benützt würde, um Sozialabbau und Umverteilung zu betreiben. Einige wenige Gewerkschafter (Katzian), sonst ja immer die letzten, haben dies damals auch begriffen – und stimmten trotzdem zu.

Die Brutalität der Sozialdemokraten in Griechenland, Portugal und Spanien kam aber doch überraschend – die Richtung nicht. Und wenn etwas an der frechen Offenheit, mit der die EU-Kommission jetzt versucht, den Abbau von nationalem Parlamentarismus voran zu treiben, überrascht, dann allenfalls die Plumpheit. Aber sie weiß sich in Akkord mit den nationalen Regierungen. Diese haben am 8. Juni 2010 den Wahnsinn abgesegnet, dass Estland auch noch der sowieso kontraproduktiven Währungsunion beitritt (und einige angeblich linke Sozialdemokraten applaudieren – Schulmeister – mit dem grotesken Argument, man dürfe dem Land jetzt nicht die versprochene Belohnung des schädlichen Beitritts nehmen). Überraschend ist vielleicht, dass es einige – eher konservative – Regierungen gibt, die gegen den Zugriff der Kommission auf das nationale Budget ein wenig murren. Sie fürchten Machtverlust. Vom Volk kommt kein Widerstand. Es ist, wie in Zeiten angeblicher Krisen gang und gäbe, der Meinung, die EU solle etwas gegen die Krise unternehmen.

Was ist zu tun?

Vorderhand können Linke in Europa mangels an Masse fast nichts anderes tun als Analyse zu betreiben, sie möglichst effizient in ihren Kreisen zu debattieren und damit ein Minimum an Gegenbewegung aufzubauen. Sie können, mit wenig Hoffnung auf Echo, versuchen, linksreformistische Vorschläge anzubringen (etwa die Steuerprogression zu verstärken u. ä.). Schließlich können und müssen sie aufmerksam die Entwicklung in den Peripherien beobachten und kritische Solidarität üben.