Die rechte Opposition wiederholte ihren Fehler des Wahlboykotts von 2005 nicht, sondern trat mit einem kompakten Block an. Die äußerst knappe Mehrheit für das bolivarianische Lager wirft wieder einmal die Frage auf: Wie weiter mit der „Revolution ohne Revolution“?
Das rasante Wirtschaftswachstum in Venezuela mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des BNP zwischen 2004 und 2008 von 8,8 Prozent war durch die hohen Weltmarktpreise für Erdöl finanziert. Als Erfolg kann die Regierung Chávez verbuchen, durch staatliche Investitionspolitik sowie einen durch ihre Sozialpolitik gestiegenen Konsum das Wachstum auch auf die Sektoren jenseits des Erdöls ausgedehnt zu haben. Diese erreichten sogar höhere Wachstumsraten.
2009 schrumpfte die venezolanische Wirtschaft jedoch mit 2,9 Prozent stärker als erwartet. Durch die geringeren Öleinnahmen musste die Regierung ihre Ausgaben um 6 Prozent kürzen, wobei jedoch die Sozialprogramme von diesem Sparpaket ausgenommen waren. Da der Staat besonders unter der bolivarianischen Regierung ein wichtiger wirtschaftlicher Motor in Venezuela ist und gegenüber den sinkenden Auslandsinvestitionen stark an Bedeutung gewonnen hat, wirkten sich die Kürzungen in der Rezession besonders negativ aus.
Oligarchie nutzt Probleme
Die Binnenproduktion litt zudem auch unter dem fixen Wechselkurs der hoch bewerteten Nationalwährung gegenüber dem Dollar. Damit kam sowohl die venezolanische Exportwirtschaft am Weltmarkt in eine nachteilige Situation als auch die inländische Produktion gegenüber den Importen, die für Konsumgüter immer noch bei 60 Prozent liegen. Im Januar 2010 wertete die Regierung die Währung ab, um die Wirtschaft anzukurbeln. Für dringende Importe von Gütern für den Massenkonsum gilt dabei jedoch weiterhin ein höherer Wechselkurs als für Luxusgüter.
Die Schwierigkeiten Venezuelas wurden von der Oligarchie wie schon in vergangenen Jahren genutzt, um durch Drosselung der Produktion, Hortung von Waren und Preistreiberei die Versorgungslage weiter anzuspannen. Für Skandale sorgten aber nicht nur oppositionelle Unternehmer, sondern auch die neureichen Regierungsgünstlinge, die „Bolibourgeoisie“. Im November 2009 verstaatliche die Regierung vier Privatbanken, deren Direktoren der Unterschlagung von Bankvermögen überführt worden waren. Einer von ihnen war der Bruder des langjährigen Chávez-Vertrauten und Wissenschaftsministers Jesse Chacón, der in Folge seinen Rücktritt einreichen musste.
Zu all dem kam dann noch eine ausgeprägte Dürre. Da Venezuelas Energieversorgung zu 70 Prozent aus Wasserkraft gespeist wird und der Konsum im letzten Jahrzehnt stärker gestiegen war als die Produktion, führte die Dürre zu einer Elektrizitätskrise mit Stromabschaltungen in der Hauptstadt.
Zuletzt bediente sich die Opposition noch eines Lieblingsthemas: der Kriminalität, die unter der bolivarischen Regierung angestiegen ist. Dass Chávez mit einer umfassenden Polizeireform einen neuerlichen Versuch gestartet hat, das Problem bei der Wurzel zu packen, spielte für die Propagandaschlacht der Rechten wenig Rolle.
Die Opposition formiert sich neu
Nach der Niederlage der Rechten im Abwahlreferendum 2004 und der fulminanten Wiederwahl von Hugo Chávez für eine dritte Amtsperiode im Dezember 2006 mit 63 Prozent der Stimmen, war die rechte Opposition zerrieben. Dazu kam ihre tiefe innere Spaltung, was die Strategie betraf. Der radikalen außerparlamentarischen Linie, die sich 2005 mit dem Boykott der Parlamentswahlen durchgesetzt hatte, war es nicht gelungen, die bolivarianische Macht zum Wanken zu bringen.
Mit Manuel Rosales, dem Gouverneur des Erdölstaates Zulia – einer oppositionellen Hochburg mit separatistischen Anwandlungen – war es der heterogenen antichavistischen Parteienlandschaft dennoch gelungen, sich 2006 um einen gemeinsamen Kandidaten zu formieren. Als aktivistische Kraft wirkte die studentische Oberschicht von Caracas für die rachitischen Altparteien als Schrittmacher in den Zeiten der institutionellen Marginalisierung. Die Niederlage von Chávez im Referendum um die Verfassungsänderung vom Dezember 2007 war der erste Etappensieg der Opposition nach Jahren der Wahlniederlagen – auch wenn dieses Ergebnis eher dem Auslassen der chavistischen Wählerbasis, denn der numerischen Stärkung der Rechten zuzurechnen war.
Im Juni 2009 einigten sich elf Oppositionsgruppen auf ein gemeinsames Antreten gegen den bolivarianischen Block bei den Parlamentswahlen. Die Allianz (MUD, Tisch der demokratischen Einheit) reicht von der traditionellen Elite von COPEI und AD, über die konstant antichavistischen „Links“parteien MAS, Causa R und Bandera Roja, bis zu der aus der bolivarianischen Koalition 2007 ausgeschiedenen Partei PODEMOS.
Neben der MUD hatte sich im Vorfeld der Wahlen Anfang des Jahres auch die Partei „Vaterland für Alle“ (PPT) aus dem Regierungslager zurückgezogen und trat nun eigenständig als „dritte Kraft“ an. Somit verblieben in der bolivarianischen Koalition nur noch die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) von Hugo Chávez, die Kommunistische Partei (PCV) und die Partei UPV (Volkseinheit Venezuelas) von Lina Ron.
Ein knappes Ergebnis
Die Wahlen endeten mit einem knappen Sieg für den bolivarianischen Block. Er erreichte mit 98 Sitzen eine relative Mehrheit gegenüber der MUD (65 Sitze) und der PPT (2 Sitze). Viel wurde über die absolute Zahl an Stimmen spekuliert, da Venezuela seit einer Wahlrechtsreform 2009 eine Kombination von Mehrheits- und Proportionalwahlrecht eingeführt hat. Die Opposition warf Chavez vor, das Wahlrecht und die Wahldistrikte zugunsten des Regierungslagers geändert zu haben. Tatsächlich konnte das bolivarianische Lager mit geringem Stimmenvorsprung über die nach dem Mehrheitsprinzip direkt gewählten Distriktkandidaten einen deutlichen Vorsprung an Sitzen gewinnen. Als Indikator für die absolute Stimmenzahl können die parallel abgehaltenen Wahlen zum lateinamerikanischen Parlament genommen werden, die ausschließlich als proportionale Listenwahl abgehalten wurden. Dort gewann das bolivarianische Lager mit 5.268.939 (46,7 Prozent) gegenüber 5.077.043 Stimmen (45,0 Prozent) für die MUD. Die Wahlbeteiligung lag bei 66,5 Prozent. Der Abstand zwischen den beiden Polen in der venezolanischen Gesellschaft ist also äußerst knapp. Allgemein stimmen Analysten überein, dass Venezuela eine dreigeteilte Gesellschaft ist: ein Drittel sind aktive Unterstützer der bolivarianischen Revolution, ein Drittel eingeschworene Anhänger der Opposition und ein Drittel steht indifferent in der Mitte. Dieses letzte Drittel (im Volksmund „ni-ni“, „weder-noch“ genannt) konnte jedoch auch von der PPT nicht mobilisiert werden, die hoffte mit einem gemäßigten „Chavismus ohne Chávez“ ein hauptsächlich der Mittelschicht zuzurechnendes Segment anzusprechen, das die politische Polarisierung ablehnt.
Offener Ausgang
Die Parlamentswahlen brachten hinsichtlich der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse keine wesentliche Verschiebung. Die Stärkung der Opposition liegt darin, dass sie die politische Handlungsfähigkeit auch institutionell wiedererlangt hat. Damit kann sie die bolivariansche Revolution insofern bremsen, als diese den demokratischen Weg der Gesetzestreue gewählt hat. Selbst wenn die Figur des Präsidenten ein initiativer politischer Motor ist, braucht es die Zustimmung der Legislative. Für tiefer greifende Veränderungen ist in der kommenden Legislaturperiode keine Zweidrittelmehrheit mehr vorhanden. Geplante Maßnahmen wie die Ausweitung der Entscheidungskompetenz der Kommunalräte auf Provinzebene können so von der Opposition blockiert werden.
Soll oder muss Hugo Chávez also den demokratischen Weg verlassen, um die Revolution zu vertiefen und ihre sozialistischen Elemente auszuweiten? Kann er einen ausreichenden gesellschaftlichen Konsens erhalten, wenn er seine Anhängerschaft aus den Unterschichten auf die Straße ruft, um die potentielle Blockade von Rechts durch die direkte Aktion des Volkes zu brechen? Bleibt für den sozialistischen Weg nur die revolutionäre Methode der „Diktatur des Proletariats“ jenseits der parlamentarischen Demokratie? Theoretisch und mittelfristig ist dies wahrscheinlich, unmittelbar aber kaum denkbar. Nicht nur die unentschlossene Mittelschicht würde vor einer Radikalisierung zurückschrecken. Auch Chávez’ Regierungs- und Parteiapparat, in dem die „Bolibourgeoisie“ eine signifikante Kraft darstellt, könnte an einem solchen revolutionären Protagonismus des Volkes zerbrechen. Ganz zu schweigen vom sicheren Eingreifen des US-Imperialismus, der einen derartigen Vorwand zur Isolation Venezuelas sehnlich herbeiwünscht. Was bleibt ist die Kräfteakkumulation von unten, der Kampf um Positionen in der PSUV und den Institutionen durch die linken Volksorganisationen. Der Moment des revolutionären Bruches behält auch in Venezuela seine unkalkulierbare Offenheit.