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Neue Revolution mit alten Problemen
10. Juni 2011 - Gernot Bodner, Oscar Contreras

intifada: Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 26. September 2010 brachte eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten der anti-chavistischen Opposition. Was ist passiert?

Oscar Contreras: Was am 26. September passiert ist, hat ähnliche Gründe wie die Niederlage beim Verfassungsreferendum im Dezember 2007. Das Problem liegt dabei nicht etwa darin, dass Comandante Chavez sich zuwenig engagiert oder die strategische Perspektive verloren hätte. Der Grund für die Schwierigkeiten der Revolution ist die Entstehung einer bürokratischen Kaste in der Regierung. Eine soziale Schicht, die den Motor der Revolution, das mobilisierte Volk, ersetzt. Dieses Phänomen kennen wir von anderen revolutionären Prozessen. In der venezolanischen Geschichte selbst wurde bereits 1958, nach dem Sturz des Diktators Perez Jimenez, eine revolutionär-demokratische Dynamik durch eine solche Entwicklung gestoppt.

intifada: Welche Faktoren erklären die Entstehung der bolivarianischen Bürokratie?

Oscar Contreras: Als die Revolution, oder genauer gesagt die bolivarianische Regierung und ihre staatlichen Institutionen, sich konsolidiert haben, setzte sich eine reformistische Tendenz durch. Sie entstand aus der Mentalität, dass der Kampf vorbei und keine weitere Veränderung nötig sei. Man könne sich nun auf den Privilegien der neuen Situation ausruhen. Wir sprechen heute von vier Mühlsteinen, die am Hals der Revolution hängen: Dem Reformismus, der den Bürokratismus produziert, dieser produziert wiederum die Ineffizienz und ihren perversesten Ausdruck, die Korruption. Damit trifft die Bürokratie die moralische und ethische Essenz des Prozesses. Die Menschen spüren die Scheinheiligkeit des Diskurses der „revolutionären Führer“, die Opferbereitschaft predigen, während sie sich bereichern und die Volksbasis von allen Entscheidungsebenen ausschließen.

intifada: Chavez bekam mit dem Stimmenverlust bei den Wahlen dieses Problem deutlich vor Augen geführt. Welche Maßnahmen wird er ergreifen?

Oscar Contreras: Chavez ist durch diese Situation unter Druck und hat bereits mehrfach in öffentlichen Reden zum Ausdruck gebracht, dass die Korruption eine Bedrohung der Revolution ist, mit der endlich Schluss gemacht werden muss. Besonders in den städtischen Gebieten hat die Revolution an Unterstützung verloren, selbst in Provinzhauptstädten wie San Fernando de Apure. Chavez brachte in seiner Wahlanalyse neuerlich die Notwendigkeit eines institutionalisierten Kommunikationsbereiches mit dem Volk zur Sprache. Nur durch einen direkten Zugang des Volkes zur Regierung, eine wechselseitige Kommunikation, können die Fehlentwicklungen angegangen werden. Doch von den Worten zur Umsetzung ist es ein weiter Weg. Erstens, weil Chavez zwar den Willen dazu hat, aber alleine damit ist, zweitens, weil er von der bürokratischen Kaste umzingelt wird und drittens, weil ihm eine Avantgardepartei fehlt, die seine politische Linie in Taten umsetzt. Derzeit übernehmen Partei und formale Führung zwar die Worte von Comandante Chavez, aber zur Umsetzung gelangt nur das, was ihnen selbst genehm ist.

Aus diesem Grund organisierten wir am 25. November 2010 eine große Demonstration in Caracas. Denn nicht jene sind heute loyal zur Revolution, die nicht kritisieren. Im Gegenteil ist eine produktive Kritik unerlässlich. Ziel der erfolgreichen Demonstration war es, in der gegenwärtigen Konjunktur, die nicht durch bevorstehende Wahlen belastet ist, Comandante Chavez zu einem breiten Dialog mit dem Volk über die Probleme und Aufgaben der Revolution aufzurufen.

intifada: Was sind die Gründe, dass es trotz einer günstigen Ausgangslage – ein enthusiastisches und mobilisiertes Volk – nicht gelungen ist, das Problem der Bürokratie in den Griff zu bekommen?

Oscar Contreras: Der bolivarianische Prozess hat zu einer starken Mobilisierung und Organisation des Volkes geführt. Aber mit den wachsenden Aufgaben ist ihr Ausmaß unzulänglich geworden. Gleichzeitig gibt es viele nicht erfüllte soziale Alltagsforderungen, was zu Skepsis unter den Menschen führt und damit dem Fortschreiten der Selbstorganisation des Volkes entgegensteht.

Wir können feststellen, dass der bolivarianische Prozess vor allem auf der kulturellen Ebene zu einem hegemonialen, antiimperialistischen Massenbewusstsein geführt hat. Aber es fehlt an Klarheit über die politischen, ökonomischen und sozialen Strategien. Um auf all diesen Ebenen die Organisation und das Bewusstsein zu heben, ist die einzige Antwort ein Mehr an Partizipation, an Demokratisierung, eine Stärkung der Volksmacht.

intifada: Die bolivarianische Verfassung sieht eine solche partizipative Demokratie vor und konkretisierte sie im Gesetz der kommunalen Räte. Trotz gesetzlicher Grundlage scheint aber die Realität eine andere zu sein.

Oscar Contreras: Die Verfassung und das Gesetz der Kommunalräte sind von enormer Bedeutung. Sie waren ein Motor für die Bildung von ersten Volksmachtstrukturen im Land. Doch dieser Prozess steht vor einem Widerspruch: Während die Gesetzgebung den Impuls für die Volkspartizipation gegeben hat, ist die konstituierte, staatliche Institutionalität zu einem Hindernis für ihre Entwicklung geworden. Es wird von oben versucht, den kreativen, emanzipatorischen Impuls des Volkes zu kontrollieren. Daher findet sich im Gesetz der Kommunalräte immer noch der Satz, dass das Ministerium der Kommunen das Leitungsorgan der Kommunalräte ist. Gegen dieses Konzept hat sich die Revolutionäre Strömung Bolivar und Zamora mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.

intifada: Venezuela unterscheidet sich von vergangenen Revolutionen vor allem dadurch, dass der Ursprung der Veränderung in demokratischen Wahlen lag und nicht in einem Umsturz. Damit ist das Problem der alten Institutionalität natürlich besonders virulent. Wie stellt sich in dieser Konstellation die Frage nach Mitteln und Wegen zur Überwindung des alten Staatsapparats?

Oscar Contreras: Eine Revolution kann durch einen raschen Umsturz das Staatsproblem lösen, aber auch über einen schrittweisen Umbau. Der Weg der Reformen impliziert aber die Gefahr des Reformismus, der nur oberflächlichen Anpassung und nicht strukturelle Veränderung möchte. Venezuela ist eine demokratische Revolution, in der der Staatsumbau nicht über einen anfänglichen Umsturz gelöst wurde. Er kann daher nur über strukturelle Reformen verlaufen. Doch wie befürchtet, hat sich dabei der Reformismus durchgesetzt, der verändert um nicht zu verändern. In dieser Situation, wo das Neue entsteht, während das Alte noch nicht verschwunden ist, liegt der Schlüssel in der Organisation und im Bewusstsein des Volkes sowie in der strategischen Führung durch Comandante Chavez.

intifada: Wie arbeitet die Revolutionäre Strömung Bolivar und Zamora am Aufbau dieser Volksmacht von unten?

Oscar Contreras: Politik ist immer eine Frage von Kräfteverhältnissen. Unsere ursprüngliche Basis für eine Volksmachtstrategie lag in der Bauernbewegung. Die Bauern sind als sozialer Sektor aber eine Minderheit im Land. Als mit dem Gesetz der Kommunalräte eine organisatorische Dynamik entstand, begannen wir über die Bauernbewegung in die städtischen Sektoren vorzudringen, um dort kommunale Rätestrukturen aufzubauen. In diesem Kontext ist es auch gelungen, erste Schritte in der Arbeiterbewegung auf Betriebs-ebene zu machen. Ziel ist es, eine territoriale Volksmacht über Kommunalräte, Kommunen und kommunale Städte aufzubauen, eine Machtstruktur von unten, die die alte Institutionalität ersetzen kann.

intifada: Welche Bedrohungsszenarien ergeben sich für die bolivarianische Revolution in nächster Zeit?

Oscar Contreras: Es wurde befürchtet, dass die weltweite Krise über die niedrigen Ölpreise die Programme der Revolution gefährden könnte. Die Auswirkungen waren jedoch im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas gering, was sicher Ergebnis der souveränen Politik von Chavez ist, die das Land vom Diktat der internationalen Finanzorganisationen unabhängig gemacht hat. Was die interne Opposition betrifft, so war diese über Jahre völlig marginalisiert, nachdem ihre Putschstrategie gescheitert ist. Doch geschwächt heißt nicht besiegt: Mittels der Medien nützt sie die Schwächen der Revolution aus, um über Halbwahrheiten und Angstmeldungen eine Stimmung in der Bevölkerung zu schaffen, die den alten politischen Machtgruppen als Wahlbasis dient. Auch hier kann nur durch die Organisation und das Bewusstsein des Volkes gegengesteuert werden. Nur so können wir auf diesen psychologischen Krieg antworten und der konterrevolutionären Propaganda durch die Überwindung der Probleme im Prozess ihre Grundlage entziehen.

Das Interview führte Gernot Bodner.

Oscar Contreras, Jahrgang 1963, ist Sprecher der „Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora“ sowie der „Revolutionären Strömung Bolivar und Zamora“, einem Zusammenschluss linker Volksorganisationen der Bauern-, Arbeiter- und Stadtteilbewegung in Venezuela. Im Rahmen einer Europareise besuchte er vom 26. bis 30. November Österreich.