Wenn auch extremer Ausdruck des politischen Islam, kennzeichnet sich der Salafismus durch sein niedriges politisches Profil. Salafiten richten sich streng nach dem Wortlaut des Koran und der Überlieferungen des Propheten, seiner Mitgefährten und der nachfolgenden islamischen Gelehrten. Dieser abstrakte Islam reduziert ihren Anspruch auf die Einführung der Strafgesetze aus der Scharia und die äußerliche Anpassung der Gesellschaft an die Lehren der Religion. „Moderne“ Anliegen wie Freiheit, Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit usw. sind für sie fremd und importiertes Gedankengut. Dadurch unterscheiden sie sich von den Moslemischen Brüdern, die pragmatisch genug sind, um mit modernen Begriffen zurechtzukommen und auch zu „irdischen“ politischen Programmen fähig sind.
Saudi-Arabien, das Mutterschiff
Die traditionelle Strömung des Salafismus verbietet auch das Auflehnen gegen die Machthaber und sieht Gehorsam gegenüber dem „moslemischen“ Staat als Pflicht an. Diese Strömung ist z.B. die Stütze des Saudi-Regimes auf der arabischen Halbinsel. Das Regime selbst ist aus einer Allianz zwischen der Saud-Familie und den salafitischen (wahabitischen) Verbänden entstanden.
Die zweite, jihadistische Strömung des Salafismus war eine Reaktion auf die Dekadenz der Saud-Familie. Ihr Bruch mit dem traditionellen Salafismus besteht darin, den Gehorsam gegenüber dem „ungläubigen“ Staat aufzukündigen und ihm den Kampf anzusagen. Verstärkt wurde diese Strömung durch ihren Export nach Afghanistan in den 1980ern. Die Rückkehrer aus Afghanistan bildeten den Kern des salafitischen Jihads, dessen berühmtester Auswuchs die Qaida darstellt. Sie betrachten ebenfalls irdische Gesetzgebungen als Blasphemie, sind jedoch jedem Staat feind. Extremere Formen dieser Strömung betrachten die gesamte Gesellschaft als „ungläubig“ und sehen sich im Krieg gegen sie, auch wenn diese aus Moslems besteht.
Beide Strömungen sind sich in ihrer Feindschaft gegenüber den säkularen Kräften, aber auch den Schiiten und Sufisten einig. Dies macht sie im regionalen Kontext zum guten Partner im Kampf gegen Widerstandsbewegungen und gegen den Iran, also gegen jede Bedrohung des Saudi-Reichs. Andererseits stehen sie als Hürde vor jeder liberalen Reform in Saudi-Arabien. Als Staatsraison bedeutet diese anti-schiitische Haltung eine Kluft zwischen dem Staat und der schiitischen Mehrheitsbevölkerung im erdölreichen Osten Saudi-Arabiens. Daher liegt es im Interesse der Sauds, die radikalen Exzesse des Salafismus aus dem Königreich wegzuexportieren oder wenigstens gegen ein „ungläubiges“ Land zu richten.
Instrument gegen die Massenbewegung
Die Salafiten hielten sich während der Massenbewegung eher zurück. Die Jihadisten blieben ganz ruhig und die Traditionellen verurteilten den Ungehorsam und betrachteten Demonstrationen als unzulässig und religionsfremd. Gesteuert vom verängstigten Saudi-Regime positionierten sich die salafitischen Fatwas während der Aufstände in Tunesien und Ägypten gegen die Demonstrationen. In Saudi-Arabien selbst halfen religiöse Verbände den Sicherheitskräften bei der Niederknüppelung von Demonstrationen, etwa bei der Unterdrückung der Proteste vom 11. März.
Anders verhielten sich die Moslemischen Brüder, die sich nach anfänglicher Zurückhaltung von der Bewegung tragen ließen.
Nach dem Sieg der Bewegung in Ägypten wurden die Salafiten jedoch aktiv und kamen mit den absurdesten Forderungen wie etwa der Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum, der Zerstörung der „heidnischen“ pharaonischen Bauten oder der sofortigen Einführung der Scharía und der Bestrafung der Christen an die Öffentlichkeit. Obwohl ihre Ansichten die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen verbieten (Volkswille ist Gotteswille untergeordnet), nahmen sie in Ägypten an der Volksabstimmung auf Seite des Regimes und der Moslemischen Brüder teil.
Ihre losen Strukturen ermöglichen jeden denkbaren Exzess, da sich danach die bekannten Salafiten davon distanzieren können. Das ermöglicht auch anderen Spielern (etwa Geheimdiensten), politische Morde und Terrorakte als Aktionen von Salafiten darzustellen.
Libyen, Bahrain und die saudische Gegenoffensive
Saudi-Arabien tat alles, um die Regime von Ben-Ali und Mubarak an der Macht zu halten. Mit dem Aufstand von Bahrain veränderte sich der Charakter der saudischen Gegenoffensive und wandelte sich in einen konfessionellen Krieg der Sunniten gegen die Schiiten. Auch hier lieferten die Salafiten die ideologische Komponente. Später lieferten die Moslemischen Brüder (die sonstwo die demokratische Bewegung befürworten) eine wertvollere Unterstützung der Unterdrückung in Bahrain und seiner Konfessionalisierung als jene der Salafiten.
Mit dem Aufstand in Libyen und seinem Ausarten in einen bewaffneten Konflikt gewann der Westen (und Saudi Arabien) wieder die Oberhand. So konnte sich Saudi-Arabien als Unterstützer der Demokratie darstellen, bevor seine Truppen in Bahrain einmarschierten.
Somit haben die Saudis gezeigt, dass sie nach wie vor der regionale Spieler sind. Sie kaufen die Liberalen ein, bewegen die Salafiten, lenken die Jihadisten, steuern die Moslemischen Brüder und marschieren notfalls auch in Nachbarländer ein. So riskant das Auskommen dieser Abenteuer ist, bleibt für die Saudis (und für den Westen) alles andere weniger gefährlich als eine wahre Demokratie im Arabischen Raum.
Der angenehmere Feind; Beispiel Jordanien
Auch dort, wo anders als in Saudi Arabien die Salafiten keine Befürworter des Regimes sind, bleiben sie für das Regime aufgrund ihrer politischen Primitivität der angenehmere Feind. Regime, die an der Macht sind, weil sie der Westen gegen „Islamisten“ unterstützt, brauchen eben „böse Islamisten“ und keine moderaten Islamisten wie die Moslemischen Brüder, die sich ebenfalls mit dem Westen arrangieren würden. Die Brüder sind daher im Gegensatz zu den Salafiten eine Konkurrenz. Daher scheut sich z.B. das jordanische Regime nicht, die demokratischen Kräfte hart niederzuschlagen, während Mobilisierungen des jihadistischen Salafiten toleriert werden und innerhalb einer Woche 240 salafitische Gefangene freigelassen wurden. In Jordanien existiert neben der traditionellen salafitischen Strömung eine jihadistische, die ihre Sympathie zu Al-Qaida nicht verbirgt. Diese bietet dem Regime jeden Vorwand zur Repression an und ist daher sehr willkommen. Das Bombenattentat der Salafiten im März 2011 auf die Zentrale der Moslemischen Brüder in Amman kann in diesem Kontext verstanden werden.
In mehreren Städten Jordaniens waren die Salafiten in der Lage, Tausende zu Massenprotesten gegen das Regime auf die Straßen zu bringen. Als das Gegengewicht zu den moderaten Molemischen Brüdern gebildet wurde, verwendete das Regime am 15. April 2011 die gleiche Technik (Polizei und als Gegendemonstranten getarnte Schläger), die sie bei der Unterdrückung der Proteste der Linken und der Moslemischen Brüder angewandt hatte. Danach fand eine Massenverhaftung unter den Salafiten statt. Das Regime, das die Opposition mehrfach zu infiltrieren glaubt, sieht sich dauerhaft in der Lage, Gewaltausbrüche der Jihadisten unter Kontrolle zu halten. Es sieht die Opposition lieber aus Jihadisten als aus demokratischen Kräften gebildet. Dies, obwohl der Radikalismus der demokratischen Kräfte gerade mal zur Forderung nach Wiederherstellung der Verfassung von 1952 reicht, die eine konstitutionelle Monarchie anstatt absoluter Macht des Königs beinhaltet.
Surrealismus in Gaza
Obwohl die islamische Bewegung bisher der Träger des antiimperialistischen Widerstands gegen den Westen und seine Regime war, stößt sie durch Repression und ihren Unwillen, die bestehende Gesellschaftsordnung zu verändern, an ihre Grenzen. Das war auch der Grund, warum die Demokratiebewegung diesmal nicht aus den Moscheen herauskam, sondern aus den Gewerkschaften und den säkularen Kräften entstand.
Auch in Palästina stößt das islamische Widerstandsprojekt an seine Grenze. Auch wenn Hamas die tragende Kraft des Widerstands ist, ist sie nicht in der Lage, die gesellschaftliche Konzeption der Moslemischen Brüder zu verlassen und einen Volkskonsens zu bilden. Auf Ebene der palästinensischen Politik ist Hamas nicht in der Lage, die Logik der PLO hinter sich zu lassen und einen totalen programmatischen Bruch mit den Kollaborateuren in Ramallah zu erreichen. Vielmehr ist Hamas auf nationale Versöhnung und Dialog ausgerichtet, was früher das Leitmotiv (und Untergangsgrund) der Linken war. Diese nationale Versöhnung findet aufgrund der destruktiven Haltung der Behörde von Ramallah nicht statt, die auf die Erlaubnis von Israel wartet. Die Schritte zur Deeskalation von Seiten der Hamas haben keine Annäherung an die PNA gebracht, vielmehr erscheinen sie wie ein einseitiger Waffenstillstand. Dadurch war Hamas trotz Wahlsieg und trotz der Kontrolle über den befreiten Gazastreifen nicht in der Lage, eine politische Alternative zur gescheiterten Zweistaatenlösung zu bilden.
In diesem politischen Stillstand wird die Luft für Hamas allmählich dünner. Bemüht sie sich um nationalen Konsens und hält sich kulturell/ideologisch zurück, läuft ihr der harte Kern zu den radikaleren und nicht mittellosen Salafiten über. Betreibt sie die Islamisierungspolitik intensiver, verschärft sich der Konflikt mit den anderen politischen Kräften, mit denen im Moment ein politischer Konsens nötig wäre.
Die Salafiten, die einst die Verbündeten von Hamas gegen die Kollaborationsbehörde der PNA waren (die Gefangennahme des israelischen Soldaten war eine gemeinsame Aktion), wurden nach der Machtübernahme von Hamas zu einer ernsthaften Bedrohung. Hamas ließ für eine bestimmte Zeit zu, dass salafitische Verbände gegen liberale Lebensweisen in Gaza agierten. Da wurden Hochzeiten angegriffen, Internetcafés verbrannt und Frauen bedroht. Einige konservative Gesetze wurden auch von der Hamas-Regierung verabschiedet.
2009 rief eine der salafitischen Gruppen einseitig ein islamisches Emirat in Gaza aus, was mit einer rigorosen Reaktion seitens der Hamas-Regierung beantwortet wurde. Mehrere Anführer der Jihadisten befinden sich im Gefängnis.
Die Entführung und Ermordung von Vittorio Arrigoni wirft Licht auf die komplizierten Verhältnisse in Gaza. Die Entführer töteten Arrigoni Stunden vor dem Ablauf ihres Ultimatums. Es ist unklar, ob sie dies aus Angst vor der Befreiung der Geisel durch die Hamas-Polizei taten oder ob Arrigonis Ermordung von Anfang an das Ziel der Aktion war. Die wichtigsten salafitischen Gruppen distanzierten sich von der Aktion. Es ist noch offen, wer tatsächlich hinter dem Mord an Arrigoni steckt. Der einzige Gewinner aus dieser Aktion ist Israel. Der Tod des Solidaritätsaktivisten Arrigoni ist nicht nur ein Verlust für die Palästinenser, sondern auch Sand im Getriebe jeder weiteren Solidaritätsflotte nach Gaza. Sind die Entführer eine kleine salafitische Gruppe, die unabhängig agierte, so deutet die Aktion auf die sich anbahnende Gefahr von hirnlosen Splittergruppen hin, die in jede Richtung schießen und nur Schaden verursachen. Bis jetzt haben salafitische Gruppen in Palästina nichts Richtiges gemacht. Sie werden sogar der islamischen Bewegung zur Last.
Reserven des Imperialismus?
Der Imperialismus hat gezeigt, dass er über mehrere bewusste und unbewusste Verteidigungslinien seiner Herrschaft in der arabischen Region verfügt. Versagen die Kompradoren-Regime, so bleibt die Bewegung in der Zwickmühle der Liberalen und der Moslemischen Brüder. Beide wollen das Abhängigkeitssystem unverändert lassen, wobei die Masse zwischen einer islamischen und einer liberalen kapitalistischen Herrschaft wählen dürfte. Verlieren die Kompradoren-Regime die Kontrolle oder werden sie gegenüber dem Westen souveräner, so sind die Irregeführten der Qaida und ähnlichen salafitischen Gruppen da, um dafür zu sorgen, dass im Chaos die Karten neu gemischt werden. Bis zur totalen Befreiung der arabischen Region haben progressive Kräfte noch einen sehr langen Weg vor sich.