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Der Euro
30. Oktober 2011 - Stefan Hirsch

Nach der Einführung der Einheitswährung hat die deutsche Bourgeoisie und ihre Regierung mit gewaltigem Lohndruck und Sozialraub eine Hyperkonkurrenzfähigkeit der Exportindustrie erreicht (von 2001 bis 2006 ist die Summe aller Löhne und Gehälter in Deutschland inflationsbereinigt gefallen.); auch weil der Euro vor Aufwertung geschützt hat. Südeuropa, dessen Industriestruktur durch die Globalisierung ohnehin angegriffen war (deutsche Werkzeugmaschinen kann man nach China verkaufen, portugiesische Textilien weniger), konnte da nicht mithalten (auch weil der Euro Abwertungen verhindert hat).

Die herrschenden Eliten in Südeuropa begannen den abhängigen und untergeordneten Charakter der Wirtschaftsstrukturen zu verstärken: eine Immobilienblase in Spanien, ein ausufernder und parasitärer griechischer Staatsapparat als Selbstbedienungsladen der Oligarchie. Ergibt insgesamt eine gewaltige Verschiebung relativer Konkurrenzfähigkeit. Das hat zu ausufernden Defiziten im südeuropäischen Außenhandel geführt. In der Zeit niedriger Zinsen und gewaltiger Liquidität vor der Finanzkrise war die Finanzierung dieser Defizite aber nicht besonders schwierig. Mit der Finanzkrise war die Liquidität jedoch weg und die Gesamtschulden wurden auf einmal als relativ hoch erkannt. In Griechenland betrafen diese Schulden den staatlichen Sektor, in Spanien ausschließlich die privaten Haushalte und die Banken, Portugal war eine Mischung. Italien hat die Schuldenbonanza ausgelassen, die sinkende Konkurrenzfähigkeit hat einfach zu extrem schwachem Wachstum geführt (die Staatsschulden waren seit langem relativ hoch).

Eine insgesamt unhaltbare Position. Im Frühjahr 2010 stockt die Finanzierung und Refinanzierung der Schuldenberge – der Kaiser war nackt.

In ihrer grenzenlosen Weisheit haben die europäischen Eliten schließlich beschlossen, die Kosten und die Last der Anpassung ausschließlich und vollständig auf die Steuerzahler der Defizitländer abzuwälzen. Die konnten sich am wenigsten wehren.

Das fällt zusammen mit dem vollständigen Wiederaufleben alter neoliberaler Weisheiten. Kanzlerin Merkel verkündet schon 2010, die Euro-Zone leide als ganze an zu geringer Konkurrenzfähigkeit und zu hohen Staatsschulden. Daher müssten alle Mitglieder mit dem Sparen beginnen und ihre Arbeitsmärkte „flexibilisieren“ (heißt: Löhne senken). Eine offensichtliche Absurdität: Wenn alle sparen und alle Löhne senken, dann endet das in einer Depression, weil die Kaufkraft radikal absinkt. Konkurrenzfähigkeit ist eine Funktion des Währungskurses – wenn alle auf Lohn verzichten, aber die USA durch Gelddrucken und China durch Wechselkursintervention den Dollar und den Renminbi um 10 Prozent abwerten können, dann hat sich an der Konkurrenzfähigkeit nichts geändert.

Wenn wir die Probleme des Euro ein bisschen auseinanderanalysieren, dann fallen drei Themenbereiche ins Auge, die natürlich miteinander verbunden sind.

Unterschiedliche Konkurrenzfähigkeit

Südeuropa fehlt Konkurrenzfähigkeit. Die kann ganz grundsätzlich über vier Methoden wieder hergestellt werden: Man kann Löhne und Preise in den Krisenländern senken. Das funktioniert über eine fortgesetzte Wirtschaftskrise, wahrscheinlich ein Jahrzehnt lang. Für die Betroffenen eine Katastrophe. Nur weil die Löhne um 25 Prozent fallen, geht die Miete nicht mit hinunter. Auf der anderen Seite kann man die relative Konkurrenzfähigkeit Griechenlands und Italiens heben, wenn in Deutschland höhere Löhne bezahlt werden. Die deutsche Industrie und die „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung halten das dann für die „Bestrafung der Fleißigen“ – das copyright für den Ausspruch hält der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz. Ein lustiger Kerl: die Fleißigen sind offensichtlich nicht jene, die das Zeug bauen, das die deutsche Industrie verkauft – wir würden vermuten, dass diese eine Bestrafung in Form von Lohnerhöhungen durchaus akzeptieren würden. Die „Fleißigen“ des Wolfgang Franz sind die Chefs jener, die wirklich arbeiten. Die dürfen natürlich nicht durch höhere Löhne für ihre Beschäftigten bestraft werden.

Eine solche Politik müsste durch eine expansive und nachfrageorientierte Politik in den Ländern mit Überschüssen des Außenhandels und besserer Konkurrenzfähigkeit ergänzt werden (wieder Deutschland, aber auch Österreich und die Niederlande). Im Augenblick sieht nichts danach aus, die deutsche Bundesregierung versucht die Neuverschuldung 2011 auf fast Null zu drücken.

Nächste Möglichkeit für die Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit Südeuropas: Eine Steigerung der Produktivität samt Umbau der südeuropäischen Industriestruktur. Das geht nicht über gigantische Sparpakete, sondern mit großen staatlichen Investitionen und müsste von anderen EU-Staaten mitfinanziert werden. Südeuropa würde dies ein soziales Massaker ersparen.

Für Griechenland werden solche Maßnahmen angedacht und mit dem Etikett „Marshall-Plan“ versehen (in Erinnerung an Zeiten, wo die Eliten durch die Sowjetunion unter Druck waren und solche Dinge eher möglich waren). Tatsächlich geht es aber nur um die schnellere Auszahlung von Mitteln der EU-Regionalfonds. Zu spät, zu wenig und für Spanien oder Italien gibt es gar nichts. Es würde auch der Logik der Standortkonkurrenz entgegenlaufen, welche die EU in den letzten Jahrzehnten geprägt hat (und ist für Wolfgang Franz wahrscheinlich die „Belohnung der Faulen“).

Letzte Möglichkeit ist der Austritt aus dem Euro und eine dann folgende Abwertung. Das wäre mit einem sofortigen Kollaps des Bankensystems verbunden sowie wahrscheinlich höheren Inflationsraten. Für die Mittel- und Unterschichten aber sicher eine akzeptable Alternative. Für die Überschussländer (Deutschland, Österreich, Niederlande) gäbe das eine ziemliche Katastrophe. Einmal müsste das Bankensystem aufgefangen werden, das seine Schulden nicht mehr eintreiben kann. Andererseits bekommt man eine massiv überbewertete Währung, die Konkurrenzfähigkeit ist sofort beim Teufel. Vermutlich müssen dann wieder alle den Gürtel enger schnallen.

Schuldenberge

Das nächste Problemfeld ist die Höhe der Gesamtschulden. Diese sind in einigen EU-Ländern problematisch geworden, neben Portugal, Griechenland, Spanien und Italien auch in Irland (das bereits EU-Finanzhilfe beantragt hat) und Belgien. Wegen der großen Verbindlichkeiten des Bankensystems in Osteuropa könnte man auch Österreich auf die Liste setzen, das aber im Augenblick nicht auf dem Radar der Finanzmärkte auftaucht. Staatsschulden (sowie die Schulden des Bankensektors, die seit der Finanzkrise routinemäßig dem Staat umgehängt werden) werden zu jenem Zeitpunkt problematisch, zu dem die Finanzmärkte vermeinen Schwierigkeiten zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt werden höhere Zinsen verlangt, und das macht die Schulden zu teuer.

Bei zu hohen Staatsschulden gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann mit einem wütenden Sparprogramm versuchen die Neuverschuldung zu senken. Wenn aber die Sparanstrengungen zu groß sind, dann helfen sie nicht mehr wirklich, weil das staatliche Sparen die Wirtschaft umbringt und eine ruinierte Wirtschaft auch keine Steuern bezahlt. Gäbe es in Griechenland heute ein Wirtschaftswachstum, das dem deutschen oder österreichischen vergleichbar wäre, wäre das griechische Staatsdefizit angesichts der rabiaten Sparerei bereits jetzt relativ niedrig, sicher jedoch unter fünf Prozent des BIP. Damit wäre die griechische Schuldenkrise praktisch gelöst, die Gesamtschulden im Vergleich zum BIP würden bereits sinken. Nur wächst Griechenland nicht wie Deutschland. Die Sparmaßnahmen entziehen der Wirtschaft Nachfrage, diese sitzt in einer schweren Rezession fest, die Neuverschuldung liegt bei 10 Prozent des BIP und die Gesamtschulden im Vergleich zum BIP explodieren. Bei einer Arbeitslosigkeit von 16 Prozent fällt das Steuern-Eintreiben eben schwer. Dabei ist die Situation in Ländern mit zu geringer Wettbewerbsfähigkeit schwieriger. Belgien, Österreich oder Irland können oder könnten rückläufige Inlandsnachfrage zu größeren Teilen mit steigenden Exporten auffangen. Auch in Griechenland boomt der Export wegen der sinkenden Löhne und dem im Vergleich höheren Wachstum in anderen europäischen Ländern – eine jährliche Steigerung von über 10 Prozent (Frühjahr 2011). Aber er steigt von einer zu geringen Basis, um einen wirklichen Unterschied zu machen. 10 Prozent von wenig ist nicht sehr viel. Für eine schnellere Steigerung müsste man investieren können, das ist aber schwierig. Weder in Griechenland noch in Spanien vergeben die ums Überleben kämpfenden Banken noch Kredite an Mittelbetriebe.

Eine Wiederholung dieser griechischen Erfahrung wird es wohl in Italien geben: Eine schwach wachsende Wirtschaft wird mit einem 48 Mrd. Euro Sparpaket konfrontiert (Zahlen von August 2011), das wütende Angriffe auf den Sozialstaat und absolut tödliche Kürzungen für Bildung und Infrastruktur beinhaltet. Unter solchen Voraussetzungen scheint eine Rezession unvermeidlich.

Die zweite Möglichkeit ist das Streichen der Staatsschulden, oder wenigstens eines Teils davon. Mit einiger Wahrscheinlichkeit führt das zum Zusammenbruch der jeweiligen Bankensysteme, die auf einem großen Teil der Staatsschulden sitzen. Ein Haufen Leute verliert sehr viel Geld.

Für Griechenland hat die EU einer kleinen Umschuldung zugestimmt. Die Banken mussten einen (relativ kleinen) Teil der griechischen Staatsschulden abschreiben. Dies wird jedoch nicht ausreichen. Bezeichnend ist auch der erbitterte Widerstand, mit dem die Europäische Zentralbank und vor allem die Bundesbank selbst diese kleine Maßnahme bekämpft haben.

Für die Eliten ist das Streichen der Schulden (ein Staatsbankrott) der letzte Ausweg. Erst einmal versucht man die Bevölkerung kaputt zu sparen. Und gegen die Eliten? Wenn eine solche Aktion nicht in Abstimmung mit großen internationalen Gläubigern passiert (wenn also EU und IWF einem – wenigstens teilweisen – Schuldenerlass nicht zustimmen und weiter Geld zur Verfügung stellen), dann bleibt dabei auch das Problem der Finanzierung des laufenden Staatsdefizits. Auch ohne Zinszahlungen ist etwa der griechische Staatshaushalt nicht ausgeglichen. Wenn man die Schulden streicht, dann wird es erst mal schwierig neues Geld zu bekommen – die Sparmaßnahmen müssten noch einmal verschärft werden. Für die griechische Bevölkerung macht so ein Schritt also nur Sinn, wenn gleichzeitig die Oberschicht zur Finanzierung des Staates gezwungen wird.

Finanzsektor

Für die Regierungen außerhalb der Defizitländer stellt die Stabilität des Finanzsektors eigentlich das größte Problem dar. „Lehman Brothers“ heißt der Präzedenzfall: Eine große Pleite kann Schockwellen auf den Finanzmärkten auslösen. In Griechenland haben deutsche und französische Banken mit 35 beziehungsweise 50 Mrd. Euro Verlustrisiko – das ist nicht mehr besonders viel, die Eurostaaten und die EZB haben ihnen schon einen guten Teil der Risiken abgenommen. Aber eine italienische Pleite (oder der Austritt Italiens aus dem Euro und Tausch der Euro-Schulden in neue Lire) würde mit Sicherheit das Finanzsystem der Euro-Zone versenken.
Rettungspakete

Angesichts dieser Bedrohungsbilder stümpern die Euro-Regierungen durch die Krise. Zwei Dinge sind ganz oben auf der Agenda: die Faulen (Griechen und andere Sünder) müssen bestraft werden. Die Fleißigen (Oligarchen) muss man beschützen. Die Eurostaaten übernehmen die griechischen Staatsschulden. Die EZB rettet das griechische Bankensystem mit immer weiterer Liquidität, die griechische Oberschicht hebt diese Liquidität dann von ihren Bankkonten ab und bringt ihr Vermögen im Ausland in Sicherheit. Dann dreht die EZB durch, weil sie bei einem Zahlungsausfall Griechenlands ebenfalls Geld verliert.

Die Absurditäten gehen weiter: Die irischen Banken müssen vom Staat gerettet werden, damit die deutschen, britischen und französischen Banken nicht Pleite gehen. Dann ist der irische Staat pleite und muss von den Steuerzahlern der restlichen Euro-Staaten gerettet werden. Die faulen Iren müssen ihre Hausaufgaben erledigen und schrecklich bestraft werden, mit drakonischen Einsparungen.

Aus der Logik der Oligarchie macht das vielleicht noch Sinn, besonders stümperhaft ist jedoch die Zusammenstellung der Rettungspakete. Aus Populismus sind die Summen immer so knapp, dass ein Zusammenbruch gerade noch verhindert werden kann. Sie sind aber niemals groß genug, dass die Finanzmarktpanik einmal vorbei wäre und die „Ansteckungsgefahren“ abklingen würden. Die Wellen der Panik werden dabei immer intensiver: Was mit dem Vertrauensverlust Griechenlands begonnen hat (2010), umfasst später auch Irland und Spanien. Im Juli 2011 taucht schließlich Italien auf dem Radar der Finanzmärkte (und Spekulanten auf) auf und auch Frankreich wird in Mitleidenschaft gezogen.

Dabei ist eines klar: Je länger die europäischen Regierungen keine klare Linie finden, um so weiter steigt die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierbaren Entwicklung. Ende August 2011 schicken Schuldenpanik und staatliche Sparmaßnahmen Europa wahrscheinlich in eine neue Rezession, die das Schuldenproblem nur verschärfen wird.

Das alles müsste nicht sein. Auch nicht im Kapitalismus. Etwas weniger verbohrte, verkommene und ideologische Eliten hätten ein besseres Paket zusammengebracht. Eine ordentliche (kapitalistische) Regulierung des Finanzsektors, mit ordentlichen Anforderungen für das Eigenkapital (Anfang des 20. Jahrhunderts hielten Banken 20 Prozent Eigenkapital vor) und einem Verbot von esoterischen Derivaten – damit die Ritter der Marktwirtschaft nicht ständig vom Staat gerettet werden müssen. Eine ordentliche (kapitalistische) Nachfragesteuerung in Deutschland (und dem Rest der nordeuropäischen Überschussländer) – gab es auch schon mal. Ein (kapitalistischer) Marshallplan für Südeuropa. Kapitalverkehrskontrollen (Beschränkungen, wie viel Geld von Konten abgehoben und in das Ausland transferiert werden darf), um die Liquidität der Banken aufrecht zu halten – üblich bis in die 1970er Jahre. Eine Finanzierung von Staatsschulden über Zwangsanleihen für Vermögende, dort wo die Zinsen sonst zu hoch werden – alles schon gehabt. Oder gemeinsame Anleihen der Euro-Zone um die Märkte zu beruhigen. Ein Streichen von Staatsschulden auf ein Maß, das sie letztlich bedienbar macht. Und zu Guter letzt eine Zentralbank, die der völlig undemokratischen „Unabhängigkeit der Geldpolitik“ abschwört und sich bereit erklärt, im Fall einer Finanzmarktpanik, wenn nötig, die Schulden aller Euro-Länder zu monetarisieren und Geld zu drucken, damit sie bedient werden können.

Ende der Euro-Zone?

Die oben genannten Maßnahmen bedeuten letztlich, dass die Oligarchie die Krise mit bezahlen müsste und dazu hat sie keine Lust. Ein bisschen ausholend – denn diese Aussage trifft nicht nur für Europa zu: Zur längerfristigen Überwindung der kapitalistischen Krise bräuchte es ein Minimum an sozialem Ausgleich. Und das scheint nicht in Sicht.

Eine solche Politik wäre den Elitenprojekten der letzten Jahre diametral entgegen gesetzt: Umverteilung von Unten nach Oben, Sakralisierung der Finanzmärkte und ein Fetisch der Geldwertstabilität, Peripherisierung Südeuropas und deutsches Exportwunder. Wir würden daher davon ausgehen, dass die kapitalistischen Eliten ihre Krise nicht ordentlich beherrschen werden. Angesichts der sagenhaften Stümperei ist zusätzlich jederzeit ein Unfall möglich, der die Schockwirkungen der Lehman-Pleite in den Schatten stellt. Auch wenn der Unfall ausbleibt, weil ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, scheint es für die südeuropäischen Krisenstaaten kaum eine Perspektive jenseits der fortgesetzten sozialen Katastrophe zu geben. Auf solch einer Grundlage scheint der Fortbestand der Euro-Zone mehr als fraglich. Ohne ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich gibt es weder ein absehbares Ende der globalen Krise, noch ein Überleben der Gemeinschaftswährung. Der Euro als imperiales Hegemonialinstrument ist dabei, an seinen Widersprüchen zu zerbrechen.

Ein Kollaps der Euro-Zone hätte eine gewaltige Schockwirkung auf die Weltwirtschaft, vor allem aber auf die europäischen Überschussländer: Deutschland, die Niederlande und Österreich.