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„Die arabischen Revolutionen sind mir eine Bestätigung“
30. Oktober 2011 - Gregor Kneussel, Heiny Srour, Anna Steiner

intifada: Welche Erfahrungen haben Sie als Filmschaffende gemacht, und könnten Sie etwas zur Entstehung Ihres Films „Stunde der Befreiung“ sagen?

Heiny Srour: Als Frau Anfang der 1970er Jahre war es nicht leicht, einen solchen Film zu machen – ich war die einzige auf der Welt, die einen Film in einem Partisanenkrieg drehen wollte. Es gab zwei andere bekannte Frauen: Agnès Varda in Frankreich und Věra Chytilová in der Tschechoslowakei. Beide drehten jedoch in der Sicherheit des Studios, unterstützt von einer großartigen Filmindustrie, sie hatten an den besten Filmakademien studiert – Varda fünf Jahre in Frankreich und Chytilová sechs Jahre in Moskau –, und ich hatte überhaupt keine Ausbildung in dieser Richtung absolviert.

Die „Front für die Befreiung des Arabischen Golfs“ war feministisch ausgerichtet, und das hat mich motiviert, zwei Jahre lang gegen alle möglichen Hindernisse anzurennen. Die Produzenten sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und nach zwei Jahren begann ich selbst an meiner Vernunft zu zweifeln. Sie sagten mir alle, ich solle doch Schauspielerin werden, denn ich sah gut aus. Ich war nach diesen Gesprächen verzweifelt. Nach zwei Jahren folgte ich schließlich einem letzten Hinweis: Roger Pic. Pic war ein berühmter französischer Fotograf und Filmemacher. Er galt auch als Kommunist. Schon nach fünf Sekunden überzeugte er mich. Die anderen Produzenten hatten mir auf die Brüste und Beine gestarrt, aber Pic sah mir in die Augen und hörte mir zu. Während der Résistance musste er etwa 25 gewesen sein, und die Frauen im Widerstand gegen die Nazibesatzung hatten Großartiges vollbracht. Ich dachte also: Wenn auch er mir sagt, dass es verrückt ist, ohne Film-Ausbildung und in einem Kriegsgebiet zu drehen, dann muss ich wirklich wahnsinnig sein. Aber er war von dem Projekt überzeugt und schickte mich zu mehreren Leuten, die den Film finanzieren könnten, und gab mir seine Empfehlung. Ich drehte also meine Runden und niemand gab mir auch nur einen Groschen, aber was zählte war, dass er mich überzeugt hatte, dass das Projekt sinnvoll war. Er hat mich motiviert. Es sollte noch länger dauern, und der Film entstand eigentlich 1971, aber aus Geldmangel konnte ich ihn erst 1974 fertig stellen.

intifada: Sie bauen Brücken zum Arabischen Raum, zu den Revolutionen dort – damals wie heute.

Heiny Srour: Die heutigen Revolutionen sind mir eine wichtige Bestätigung. Sie stimmen mich nicht nur positiv und optimistisch, sondern geben mir wirklich das Gefühl eines Triumphs. Da ist endlich unsere Befreiung, sie begann außerhalb des Zentrums und sie wird sich auch nördlich des Golfs ausbreiten. Die Revolution im Oman wurde niedergeschlagen, sie endete in einem Völkermord und Sultan Qabus war vierzig Jahre lang an der Macht. Man muss ihm allerdings zugestehen, dass er ein weiserer Herrscher war als sein Nachbar im Südjemen. Er wurde natürlich von seinen britischen Herren beraten, doch er baute einen modernen Staat auf. Sein Vater hatte keine einzige Straße oder Schule bauen lassen, und verbot Medizin, Geschäfte, Schulen, Bücher, Radios – alles, was modern war. Sultan Qabus investierte die Öleinnahmen in Infrastruktur; Schulen und Unis waren kostenlos, ebenso das Gesundheitswesen, das Land blühte und war stabil. Jedes Mal, wenn ich den Film sah, kamen mir die Tränen, doch heute habe ich die Bestätigung, dass die Menschen letztlich doch unsere Forderungen, unsere Revolution wollen: Demokratie und Würde und Brot. Allerdings sind feministische Forderungen in der Bewegung nicht sehr stark, das wird noch eine Zeit lang dauern. Doch selbst in dieser Revolution gab es Scheichs, die der Muslimbruderschaft nahestanden und jetzt die Frauen loben. In Ägypten forderten einige die Gleichstellung der Christen, während Kirchen angegriffen wurden und der Westen Krokodilstränen über die armen Christen vergoss. Ein Universitätsprofessor sagte auch, dass die neue Verfassung Ägyptens Christen, Muslime und Juden gleichstellen muss. Es gibt aber praktisch keine Juden in Ägypten, höchstens eine Handvoll. Es ist also wirklich überraschend, dass die Juden da überhaupt erwähnt werden. Feminismus steht nicht wirklich auf der Tagesordnung, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. In Tunesien gibt es stärkere Tendenzen in diese Richtung, da der nicht-religiöse Teil der Bewegung stärker ist.

intifada: Was bedeutet es für Sie, Jüdin zu sein?

Heiny Srour: Sie wollen über mein Judentum sprechen? Nun, an allererster Stelle bin ich Libanesin. Ich wurde im Libanon geboren und bin dort aufgewachsen.

Die gesamte politische Tätigkeit der Linken wurde von der Aufspaltung in Religionsgruppen – Christen, sunnitische Muslime, schiitische Muslime – behindert und zunichte gemacht. Wir hatten siebzehn Jahre Bürgerkrieg, das war ein Alptraum. Im Libanon ist das Religionsbekenntnis auf dem Personalausweis eingetragen. Wenn man als Christ an einer Straßensperre von Muslimen aufgehalten wurde, wurde man womöglich umgebracht oder entführt. Für die Angehörigen war es schlimmer, wenn man entführt wurde. Das ist eine schreckliche Qual für die Familie. Wir haben das selbst erfahren, als mein Schwager entführt wurde. Ich kenne Leute, die noch nach dreißig Jahren hoffen, dass ihr entführter Sohn oder Bruder oder Vater oder Ehemann zurückkommt. Tausende wurden im Libanon nur wegen ihres Religionsbekenntnisses entführt, es war einfach grauenhaft. Wir haben daher gefordert, dass das Religionsbekenntnis nicht mehr auf den Ausweisen aufscheinen soll.

Wenn man mich heute über meine Religion fragt, dann erinnert mich das viel zu sehr an diese grauenhaften Morde und Entführungen. Da kommen wirklich schlimme Erinnerungen hoch. Bei einem palästinensischen Frauen-Filmfestival in Ramallah wollten die Organisator/innen einen Katalog zusammenstellen. Sie schickten mir deshalb eine Kurzbiografie auf Arabisch über mich und baten, die Details vor der Veröffentlichung zu überprüfen. Dieser Absatz fing an mit den Worten: „Heiny Srour ist eine jüdische Filmemacherin …“ oder so ähnlich. Ich sagte ihnen darauf: Nun, ich möchte meine religiösen Wurzeln nicht verstecken, aber Sie würden über eine palästinensische Filmemacherin mit christlichem Hintergrund auch nicht schreiben „Frau soundso ist eine christliche Filmemacherin.“ Ich will von dieser Logik nichts mehr hören. Wollen wir einen Religionskrieg? Das hatten wir ja im Libanon und ich bin absolut dagegen.

Die Frage nach meinem religiösen Hintergrund bringt wirklich schmerzliche Erinnerungen. Ich habe immer für einen nicht-religiösen Staat gekämpft, und ich lehne Heuchelei ab. Ich kann nicht im Libanon für einen nicht-religiösen Staat eintreten und dann im Ausland mein Judentum, meine Identität, in der Öffentlichkeit wie eine Fahne schwenken. Es ist natürlich ein Teil von mir. Ich bin Libanesin. Ich bin Jüdin. Ich bin in französischsprachige Schulen gegangen. Ich habe ein Vierteljahrhundert in England gelebt. Dort habe ich sehr viel von den Gewerkschaftskämpfen gelernt, auch Verhandlungstaktiken und Kompromisse einzugehen. Das alles ist ein Teil von mir. Ich verehre auch Baudelaire, aber Baudelaire allein macht nicht meine Identität aus – er hat einige sehr sexistische Gedichte über Frauen geschrieben. Nichts ist schwarzweiß.

Als Libanesin und als Jüdin habe ich natürlich die Sache der Palästinenser gut verstanden. Im Libanon leben eine Viertelmillion Flüchtlinge aus Palästina in Lagern. Die Juden wurden im Libanon diskriminiert, aber man sagt, dass im Libanon jeder diskriminiert wird, und das stimmt natürlich. Die Juden wurden auch viel weniger diskriminiert als die Palästinenser. Es gab zwar eine antijüdische staatliche Politik – Juden durften zum Beispiel nicht in Banken arbeiten, durften nicht an staatlichen Schulen und Universitäten unterrichten usw. –, aber es gab keinen staatlichen Antisemitismus, und die Palästinenser wurden viel stärker diskriminiert. Worum es geht ist, dass ich die palästinensische Sache unterstützen würde, auch wenn ich Buddhistin und in Japan geboren wäre, aus Gerechtigkeitsliebe. Heute gibt es wirklich nach all den Jahren sogar in Japan Unterstützung für die Palästinenser, eine Bewegung für Boykott, Sanktionen und Abzug von Investitionen. Mir ist klar, dass die Palästinenser verzweifelt nach Juden suchen, die sie unterstützen, weil sie von den Zionisten als Antisemiten beschimpft werden, aber das ist die Taktik der Zionisten, die den Vorwurf des Antisemitismus als moralische Erpressung einsetzen. Ich denke, es ist an der Zeit zu sagen: Auch wenn irgendwelche Atheisten Buddhisten ihr Land wegnähmen, wäre das das Gleiche. Es geht hier nicht um Judentum, Islam oder Christentum; es geht um Gerechtigkeit, und Land, das Menschen weggenommen wurde, die seit Jahrtausenden da gelebt hatten. Es ist wirklich schade, dass es zu diesem Konflikt nicht mehr politische Kreativität gibt.

intifada: Wo sind Sie aufgewachsen?

Heiny Srour: In einem „gutbürgerlichen“ Teil von Beirut, mit französischsprachigen Schulen, am Rand des jüdischen Viertels. Unser Haus war hinter dem Präsidentenpalast.

intifada: Und wie sind Sie Kommunistin geworden?

Heiny Srour: Ich würde nicht sagen, dass ich Kommunistin geworden bin, denn ich war allem und jedem gegenüber sehr kritisch. Niemand kann mich in eine Schublade oder in eine politische Partei stecken. Das gilt auch für den Feminismus. Ich war immer gegen Männerhass, dass „alle Männer Vergewaltiger“ seien. Nicht alle Männer sind Vergewaltiger. Ich bin zwar auch von Sexisten umgeben, aber viele Männer unterstützen die Frauenbefreiung und einige Männer sind feministischer als viele Frauen. Ich war nie in einer Kirche oder Sekte, und viele Bewegungen werden zu Kirchen und Sekten sowie zu Gegenkirchen und Gegensekten – das interessiert mich nicht, denn ich bin ein Freigeist. Jedenfalls hoffe ich das. Manchmal gelingt es mir nicht, unter dem Druck der Gesellschaft. Bei den Veranstaltungen in Wien und in Graz sagte ich beispielsweise nicht, dass die „Front für die Befreiung des Arabischen Golfs“ sehr fortschrittlich war, was die Frauenfrage betrifft, dem Westen um dreißig Jahre voraus. Ich fürchtete, man würde das für eine Übertreibung oder mich für eine Lügnerin halten, und das war feige. Ich habe also meine Momente der Schwäche.

Der Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen (UNDP) hat Statistiken veröffentlicht, nach denen die weltweiten Militärbudgets insgesamt das Hundertfache der Budgets für Bildung und Sozialwesen zusammengenommen ausmachen, und da Treffen sich Anliegen der Frauen und der Männer in allem, was sich auf der Welt abspielt: Dass Mörder hundertmal mehr Geld bekommen als die Frauen, die Leben hervorbringen, schützen und für es sorgen, zeigt, wie verrückt diese Welt ist und wie wichtig die Frauenfrage ist, wie sehr wir als Frauen dafür kämpfen müssen, dass in Soziales und nicht in Mord investiert wird. Die Zahlen des UNDP zeigen auch, dass Frauen das arme Geschlecht sind. Sie machen zwar zwei Drittel der Arbeit – Lohnarbeit außer Haus und unbezahlte Arbeit als Ehefrauen und Mütter, die aber genauso getan werden muss –, besitzen aber nur ein Prozent des weltweiten Reichtums und bekommen nur einen winzigen Bruchteil des Einkommens. Dass es einige Frauen in hohen Positionen gibt – Ministerinnen und Staatschefinnen –, täuscht manchmal darüber hinweg, dass Frauen als ein Segment der Gesellschaft immer ärmer werden. Für mich war, ist und bleibt die Frauenfrage also eine hochpolitische Angelegenheit.

„Stunde der Befreiung“ behandelt einen der radikalsten Kämpfe in der arabischen Welt: die Guerilla-Bewegung zwischen 1965 und 1975 in Dhofar, Oman, gegen den britischen Kolonialismus. Der Film dokumentiert die Errungenschaften der „Front zur Befreiung des Arabischen Golfs“ in politischer, sozialer und feministischer Hinsicht. Bis zu deren Zerschlagung war die Bewegung im Begriff, eine heute auf der Halbinsel unvorstellbare egalitäre Gesellschaft aufzubauen. Bei den Aufnahmearbeiten legte die Regisseurin 800 Kilometer zu Fuß in bergigem und verminten Gebiet unter Bombardierung zurück. „Stunde der Befreiung“ wurde 1974 als erster Film einer arabischen Regisseurin auf dem Festival von Cannes gezeigt.

Das Interview führte Anna Maria Steiner
Übersetzung aus dem Englischen von Gregor Kneussel