1. Januar: Bei einem Bombenanschlag auf eine koptische Kirche werden insgesamt 21 Menschen getötet und 79 verletzt. Ägypten ist im Schockzustand. Der Anschlag wird wechselweise Al Qaeda, einer palästinensischen Organisation und ägyptischen Salafisten zugeschrieben.
25. Januar: erstmals seit den 1970er Jahren schaffen es Tausende von Demonstranten, organisiert Polizeisperren zu durchbrechen und sich aus mehreren Stadtteilen zu Tausenden auf dem Tahrir-Platz zu vereinigen. In den folgenden Tagen mobilisieren überall in der Stadt kleine Gruppen von jungen Leuten die Bevölkerung für weitere Großdemonstrationen. Es kommt zu mehreren hundert Toten in verschiedenen Städten, aber statt nach Hause zu gehen, besetzen die Leute den Tahrir-Platz und errichten dort eine Zeltstadt. Salafisten mobilisieren gegen die Demonstrationen, die Muslimbrüder halten sich zurück.
30. Januar: erste Millionendemonstration. Auf dem Tahrir-Platz donnern Düsenjäger über die Menge. Die Demonstranten schreien gegen den furchterregenden Lärm an: „nicht wir, sondern er (der Präsident) wird gehen!“ Ihre Forderungen sind klar: Sturz des Regimes, Errichtung eines demokratischen, zivilen Rechtsstaates, Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Die Moslembrüder und einzelne Salafisten schließen sich den Demonstranten an und verteidigen den Platz in den nächsten Wochen Seite an Seite mit anderen politischen Kräften und Menschen aus allen Schichten und Altersgruppen der ägyptischen Bevölkerung gegen massive Angriffe von Schlägertruppen, Scharfschützen und Sicherheitskräften in Zivil.
11. Februar: der Präsident tritt zurück und ein Militärrat übernimmt die Macht. Die Ägypter jubeln und erinnern den Militärrat an ihre Ziele: ein ziviles, demokratisches politisches System, juristische Aufarbeitung von Korruption und Menschenrechtsverletzungen, freie Wahlen und eine neue Verfassung, die allen Ägyptern gleichermaßen politische Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.
8. Juli: Nach wachsender Unzufriedenheit mit der schleppenden Umsetzung der Forderungen der Revolution wird der Tahrir-Platz wieder besetzt. Wie in allen Phasen der Revolution, tragen fast alle Plakate und Transparente auf dem Platz die Symbole Kreuz und Halbmond, die an die Revolution von 1919 erinnern, in der ebenfalls Christen und Muslime gemeinsam für Unabhängigkeit von britischer Besatzung und Errichtung eines zivilen Rechtsstaates demonstriert hatten.
29. Juli: mehr als eine Million Muslimbrüder, Salafisten und Mitglieder der ehemals militanten gama’at islamiya und Sympathisanten demonstrieren auf dem Tahrir-Platz für einen islamischen Staat und die Anwendung der Schari’a. Sie greifen die Schlagworte und den Rhythmus der Parolen der Revolution auf und formulieren sie um. Statt „das Volk will den Sturz des Regimes“ skandieren sie „das Volk will die Anwendung der Schari’a“ und statt „madaniya miya miya“ (100% zivil) fordern sie „islamiya miya miya“ (100% islamisch). Bärtige Männer dominieren das Bild. Bei Sonnenuntergang ziehen sie wieder ab. Der Spuk ist vorbei und der Platz bietet wieder den gewohnten Anblick bunt gemischter Gruppen, die mit vielfältigen Aktionen die gemeinsamen Forderungen der Revolution zum Ausdruck bringen.
Was war geschehen? Woher kommen plötzlich diese Massen bärtiger Männer und gesichtsverschleierter Frauen, die die Gegner eines islamischen Staates in aggressiven Parolen auffordern, das Land zu verlassen. Warum brachen sie ihre Vereinbarung mit den anderen politischen Kräften, mit denen sie sich auf gemeinsame Forderungen geeinigt hatten, so dass sich die meisten anderen Gruppen tagsüber vom Platz zurückzogen? Und wer sind diese Salafisten, die tagsüber den Platz dominierten?
Wer sind die Salafisten?
Die Salafisten sind in der Tat eine neue Kraft auf der politischen Bühne. Vor der Revolution beschränkten sie sich im wesentlichen auf da’wa, auf Aktivitäten, mit denen Muslime dazu aufgerufen werden, religiöse Vorschriften (gemäß der Salafi Interpretation) zu befolgen und sich aktiv für den Islam einzusetzen. Ehemals militante Gruppen wie die gama’a islamiya und tanzim al-gihad können auch den Salafisten zugerechnet werden. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und den da’wa Salafisten liegt darin, daß sie im Unterschied zu letzteren das umstrittene Prinzip der Pflicht zur Rebellion gegen unislamische, ungerechte Herrscher anerkennen und darauf aufbauend Mitte der 1970er Jahre den bewaffneten Kampf gegen das ägyptische Regime aufnahmen. Die da’wa Salafisten lehnen dieses Prinzip strikt ab, auch wenn der Herrscher korrupt ist und nicht gemäß der Schari’a regiert. Die militanten Gruppen begannen 1997 einen Revisionsprozeß, der mit der Aufgabe des bewaffneten Kampfes endete. Die meisten Beobachter gehen davon aus, daß sie damit auch das Prinzip der Rebellion gegen unislamische Herrscher aufgaben. Man kann bestimmte Texte und Aussagen von ihnen jedoch auch dahingehend interpretieren, daß sie dieses Prinzip nur ausgesetzt aber nicht endgültig aufgegeben haben. Die meisten ihrer Mitglieder wurden in den letzten Jahren nach und nach aus den Gefängnissen entlassen und viele engagierten sich in salafistischen da’wa Aktivitäten.
Die Salafisten sind keine geschlossene Organisation, sondern bilden eine Vielzahl von Gruppen, die sich um bekannte Salafisten-Sheikhs gruppieren. Sie nutzten v.a. Moscheen für die Verbreitung ihrer Botschaft und die Rekrutierung neuer Mitglieder, aber auch Satellitenfernsehkanäle und Internetseiten. Sie haben Zugang zu beträchtlichen Ressourcen, die v.a. aus zakat (religiöse Almosen, die für Muslime Pflicht sind), Spenden und Zuwendungen aus Saudi Arabien bestehen. Letztere werden über ein kompliziertes Netzwerk religiöser NGOs und Institutionen verteilt. Dazu gehören auch ägyptische religiöse NGOs, v.a. die gama’iya schara’iya (Schari’a NGO) und die gama’iya ansar al-sunna al-mohamadiya (Sunna NGO, Sunna = religiöse Lebensweise des Propheten), die bereits 1912 und 1926 gegründet wurden. Diese beiden NGOs sind nicht nur Kanäle für vielfältige Unterstützung verschiedenster islamistischer Gruppen, sondern schulen in ihren religiösen und erzieherischen Aktivitäten auch das Denken ihrer Mitglieder und der Nutznießer ihrer sozialen Dienstleistungen in den ideologischen Grundprinzipien, auf die die verschiedenen islamistischen Strömungen aufbauen. Viele führende Mitglieder islamistischer Gruppen waren zu einem bestimmten Zeitpunkt Mitglieder in einer dieser beiden NGOs.
Die Salafisten schafften es in den letzten zwei Jahrzehnten, eine Vielzahl von Moscheen zu übernehmen und auch in den staatlichen religiösen Institutionen wie Al Azhar, des ältesten und in der ganzen islamischen Welt geachteten Zentrums islamischer Forschung und Lehre, Anhänger zu sammeln. Dazu gehören z.B. Mitglieder der sogenannten „Front der Azhar Gelehrten“. Die Aktivitäten der Salafisten wurden durchaus vom Staat geduldet, solange sie sich im Rahmen der von Regime und Sicherheitsapparat vorgegebenen Grenzen hielten. Das Regime profitierte im Gegenteil von den Salafisten und nutzte sie dazu, zu bestimmten Zeitpunkten Auseinandersetzungen zu provozieren, die von den sozialen und politischen Brennpunkten der immer lauter werdenden Proteste der letzten Jahre ablenken sollten. In den Jahren vor der Revolution wuchs der Widerstand gegen das Regime, entwickelte neue Protestformen und umfasste immer breitere Kreise der Bevölkerung. Den Hintergrund bildete die immer maßlosere Korruption verbunden mit der zunehmenden Verarmung der mittleren und unteren Bevölkerungsklassen sowie die immer offener zutage tretenden Pläne des Regimes, den Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak, gegen den Willen des Großteils der Bevölkerung zur Not gewaltsam als Nachfolger zu installieren.
Um den Widerstand zu neutralisieren, räumte das Regime den Salafisten breiten Spielraum ein, um religiöse Spannungen zu provozieren oder auch um gegen kulturelle und literarische Produktionen zu mobilisieren, die als moralisch oder religiös anstößig deklariert wurden. Gleichzeitig erlaubten die provokanten Aktionen der Salafisten dem Regime, sich dem Westen gegenüber als Bollwerk gegen die Machtergreifung radikaler Islamisten zu präsentieren. Die letzte große Kampagne der Salafisten richtete sich gegen die koptische Kirche, der vorgeworfen wurde, Frauen, die zum Islam konvertiert waren, gegen ihren Willen in Kirchen und Klöstern festzuhalten. Außerdem wurde ihnen auch immer wieder Verwicklung in Anschläge gegen Christen und christliche Einrichtungen vorgeworfen. Der letzte große Anschlag gegen eine Kirche in Alexandria wurde kurz vor der Revolution am 1. Januar verübt und kostete 21 Menschen das Leben. Nach der Revolution wurden Dokumente gefunden und ins Internet gestellt, die eine Verwicklung des Staatssicherheitsdienstes (SSD) in die Anschläge nahelegen. Diese Dokumente sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln, da der SSD nachweislich selbst Dokumente gefälscht hat. Die Vorwürfe gegen den SSD werden gegenwärtig von der Staatsanwaltschaft untersucht.
Die Salafisten selbst verurteilten den Anschlag und sprechen sich gegen Gewalt gegen Nicht-Muslime aus. Die Presse in den letzten Monaten war jedoch voll von Augenzeugenberichten über die Anstiftung zu einer Serie gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen durch Salafisten, bei denen mehr als 25 Menschen ums Leben kamen. Die Begründung für die offizielle Verurteilung der Gewalt seitens prominenter Salafisten Sheikhs gibt auch zu denken. Sie argumentieren, dass Nicht-Muslime im Islam einen Schutzstatus, dhimma, genießen, wofür sie in einem islamischen Staat eine besondere Steuer, gizya, zahlen müssen. Das Konzept von dhimma und gizya ist jedoch kaum mit demokratischen Prinzipien wie Staatsbürgertum und Rechtsgleichheit vereinbar.
Ideologie und Wurzeln des Salafismus
Die Salafisten betrachten sich als die wirklichen Nachfolger (salaf) des Propheten und seiner Gefährten. Sie fordern eine strikte Orientierung an der Umsetzung islamischer Prinzipien zur Zeit der frühen islamischen Gemeinde. Sie bekämpfen bid’a oder Neuerungen, die nach ihrer Meinung im Gegensatz zu diesen Prinzipien stehen und shirk oder die Verletzung des islamischen Prinzips tawhid, das die Einheit Gottes betont sowie seinen alleinigen Anspruch auf Anbetung. Damit stehen sie nicht nur im Gegensatz zu Säkluaristen und liberaleren Auslegungen der islamischen Religion, sondern auch zur volkstümlichen Ausprägung der Religion und den der Volksreligion nahestehenden Sufi-Orden, die durch bestimmte Praktiken und Rituale die spirituelle Nähe Gottes suchen. Die Salafisten sind heute stark von den Wahabisten Saudi Arabiens beeinflusst, die für ihren extremen Puritanismus und ihre staatstragende Ideologie bekannt sind. Die Wurzeln des ägyptischen Salafismus reichen jedoch vor den saudischen Einfluss zurück und liegen in einer konservativen Strömung der Nahda- oder Renaissance-Bewegung, die v.a. von den Schriften des ägyptischen Gelehrten Raschid Rida (1865-1935) verkörpert wird.
Trotz ihrer Forderung der Rückkehr zu den Wurzeln des Islams ist der Salafismus definitiv eine moderne Erscheinung. Er entwickelte sich ebenso wie der liberale Islam aus der Nahda-Bewegung, die sich als Reaktion auf die französische Besatzung Ägyptens von 1798-1801 gebildet hatte. Trotz der kurzen Zeit erschütterte die Konfrontation mit Napoleon und seinen Truppen Ägypten bis in seine Grundfesten. Sie repräsentierte den ersten Zusammenstoß mit der technologischen, militärischen und administrativen Überlegenheit des kapitalistischen Europa, von dessen Entwicklung Ägypten seit den Kreuzzügen nicht mehr viel mitbekommen hatte. Sie stellte die Ägypter, die die Christen Europas noch als rückständige Barbaren zur Zeit der Kreuzzüge in Erinnerung hatten, vor die Frage wie es zu dieser schockierenden Unterlegenheit der Muslime kommen konnte und welche Rolle der Islam in dieser Entwicklung spielte. Die beiden Antworten auf diese Frage begründeten die heutigen liberalen und konservativen islamischen Strömungen. Erstere sehen in der Religion vor allem ein Hindernis, eine Quelle von Erstarrung und Blockierung von Erneuerung. Sie plädieren daher für eine moderne Neuinterpretation der Religion und eine stärkere Trennung von religiösen und weltlichen Angelegenheiten. Letztere sehen den Grund der Rückschrittlichkeit im Gegensatz in der Vernachlässigung der Religion. Sie fordern ebenfalls eine Neuinterpretation des Islam zur Erneuerung der Gesellschaft, jedoch auf der Grundlage der Rückkehr zu seinen Wurzeln.
Die zentralen Fragen der Nahda-Bewegung und die Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft sind bis heute aktuell, auch wenn das moderne Ägypten sich inzwischen selbst zu einer – um mit Samir Amin zu sprechen – abhängig kapitalistischen Gesellschaftsformation entwickelt hat und Entwicklungsfragen vorwiegend aus liberaler und sozialistischer Perspektive diskutiert werden. Die verschiedenen islamistischen Strömungen bleiben davon nicht unberührt. Die größte Oppositionsgruppe vor der Revolution, die Muslimbrüder, fordert schon seit den 1980er Jahren die Entwicklung Ägyptens auf der Grundlage demokratischer Institutionen und freier Wahlen. Seit der Revolution sind fast alle islamistischen Kräfte damit beschäftigt, Parteien zu gründen, um an den für November geplanten Parlamentswahlen teilzunehmen. Ende August gab es bereits 11 Parteien von Islamisten, davon drei, die von Personen aus dem Umkreis der Muslimbrüder und sieben, die von von Salafisten gegründet wurden, zwei davon von Mitgliedern ehemals militanter Gruppen.
Bedeutet das nun, dass die Salafisten Demokratie und politische Freiheit akzeptieren oder dass sie sie nur nutzen wollen, um an die Macht zu kommen, um sie danach so schnell wie möglich wieder abzuschaffen? Und wollen die meisten Ägypter nun einen säkularen oder einen islamischen Staat?
Die 29. Juli Demonstration: zoom-in
Szene 1, kurz nach Mitternacht: Massen bärtiger Islamisten strömen auf den Tahrir-Platz. Eine Gruppe von Platz-Besetzern aus verschiedenen Provinzen kommentiert „hier kommt die ‚Revolution Revolution bis zum Sonnenuntergang-Truppe’“, wobei sie das Wort nasr/Sieg der Parole ‚Revolution Revolution bis zum Sieg’ mit dem Wort ‚’asr’/Sonnenuntergang ersetzen. Sie spielen damit auf den Ruf der Salafisten an, immer nur dann aufzutauchen, wenn keine Gefahr besteht und keine Mühe erforderlich ist. Der Kommentar drückt den Zweifel an der Haltung der Salafisten zur Revolution und damit eine klare Distanz aus.
Szene 2, frühe Morgenstunden: Muslimbrüder und Salafisten agitieren die Massen von mehreren Bühnen aus mit aggressiven Parolen gegen Säkularisten. Am Rand der Zeltstadt in der Mitte des Platzes spricht ein junger Mann mit einer etwa 45-jährige Frau, beides Platz-Besetzer aus ärmeren Kairener Volksvierteln. Der Mann fragt die Frau nach dem Unterschied zwischen den Muslimbrüdern und den Salafisten worauf die Frau antwortet, die Muslimbrüder seien Muslime und die Salafisten Christen. Sichtlich konsterniert fragt der Mann zurück, warum die Salafisten dann allahu akbar (Gott ist groß, Teil des muslimischen Gebets) rufen würden, worauf die Frau antwortet, dass Christen schließlich denselben Gott anbeten würden und daher natürlich auch allahu akbar rufen würden. Und außerdem solle der junge Mann beide nicht so ernst nehmen, denn beide seien Fanatiker. Offensichtlich gibt die Frau Fanatikern wenig Chancen im revolutionären Ägypten – trotz der beeindruckenden Zahl der Islamisten auf dem Platz zu diesem Zeitpunkt.
Szene 3, frühe Morgenstunden: eine Frau mit unbedecktem Haar, offensichtlich Ausländerin, steht am Rand des erhöhten Rondells in der Mitte des Tahrir-Platzes und beobachtet die Islamisten, die auf der Bühne gegenüber Parolen gegen Säkularisten skandieren und alle Gegner eines islamischen Staates auffordern, das Land zu verlassen. Vor ihr steht ein Teeverkäufer, der aussieht wie ein Salafist und zusammen mit einem Mann aus der gebildeten Mittelschicht in die Parolen einstimmt. Nach und nach drehen sich beide verlegen zu der Frau um, die offensichtlich all das verkörpert, was in den Parolen attackiert wird. Der Teeverkäufer drängt die Frau freundlich, ein Glas Tee als Geschenk anzunehmen und der andere Mann sagt in perfektem Englisch „mach dir keine Sorgen, wir meinen das nicht so“, worauf sich beide wieder umdrehen und weiter Parolen skandieren. Die Szene wirft die Frage auf, wieweit die Sympathisanten der Salafisten deren Ideologie eigentlich wirklich ernst nehmen.
Szene 4, mittags nach dem Freitagsgebet: ein junger Mann, der mit seinem Bart, seiner weißen Galabiya und seinem gehäkelten Käppi wie ein typischer Salafist aussieht sitzt auf der Schulter eines Demonstranten und skandiert islamistische Parolen in ein Mikrofon. Er kam mit einem der von den Salafisten organisierten Busse aus seinem Dorf in der Provinz Kafr El Sheikh und nimmt zum ersten mal in seinem Leben an einer Demonstration teil. Das glückliche Strahlen auf seinem friedvollen Gesicht bildet einen krassen Gegensatz zu seinen aggressiven Parolen und man fragt sich, ob seine Motivation nicht eher die aufregende Erfahrung ist, endlich selbst Teil dieser umwälzenden Ereignisse zu sein, die er vorher nur im Fernsehen zu sehen bekam und die er nicht wirklich verstand. Er kannte jedenfalls weder die genaue Bedeutung von Säkularismus noch von Staatsbürgertum. Die Islamisten scheinen den von den Ereignissen der Revolution marginalisierten Ägyptern ein Forum zu bieten, ihren Anspruch auf Teilnahme in einer Sprache zu artikulieren, die sie kennen.
Szene 5, früher Nachmittag: ein junger Mann, der ein T-Shirt mit dem Porträt von Che Guevara trägt, skandiert auf der Schulter eines Demonstranten Parolen mit der Forderung nach einem islamischen Staat. Auf die Frage, ob er wüsste wer der Mann auf seinem T-Shirt sei, antwortet er: „Ja, das ist Guevara“. Auf die Nachfrage, ob das nicht ein Widerspruch sei, da Che Guevara nicht nur Säkularist sondern sogar Kommunist war, erwidert er, dass das keine Rolle spiele, denn Guevara habe schließlich auch gegen den Imperialismus der USA gekämpft. Die umstehenden Mitdemonstranten nicken Zustimmung. Diese Antwort suggeriert, dass die Gemeinsamkeit der Gegnerschaft zu den USA für diese Demonstranten wichtiger ist, als der Gegensatz zwischen Islamisten und Säkularisten – zumindest solange diese Säkularisten nicht in Ägypten leben. In jedem Fall deutet die Szene jedoch auf die Verwirrung hin, die in bezug auf den Versuch der Islamisten besteht, das Streben nach Freiheit, Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit in den Rahmen des Gegensatzes islamischer versus säkularer Staat zu zwängen. Die islamistischen Parolen sind möglicherweise für viele Sympathisanten zunächst eher eine Metapher zum Ausdruck ganz anderer Forderungen nach Unabhängigkeit, Nichteinmischung und eigenständiger Entwicklung.
Was bedeutet diese Demonstration nun wirklich und wer gehört eigentlich zu diesem Lager der Islamisten?
Das Lager der Islamisten
Nach der Revolution kamen alle politischen Strömungen, die zuvor durch ein umfassendes System von Repression, Manipulation, Kooptierung und Kriminalisierung unterdrückt worden waren, an die Oberfläche und damit auch bislang zugedeckte interne Widersprüche und Interessenskonflikte. Die Moslembrüder (MB), die größte organisierte Oppositionsgruppe vor der Revolution, hat besonders mit internen Konflikten zu kämpfen. Die MB schafften es, acht Jahrzehnte lang viele soziale und politische Umwälzungen zu überleben. Dies gelang ihnen durch die Kombination einer kohärenten, hierarchischen Organisationsstruktur, einer autarken ökonomischen Basis auf der Grundlage von Wirtschaftsunternehmen und Investitionstätigkeiten, die geheim und auf Vertrauensbasis gemanagt wurden, einer beeindruckenden Zahl von klugen politischen Köpfen und Meistern von Taktik und politischen Manövern sowie einer breiten Mitgliederbasis, die durch politische ebenso wie durch soziale und ökonomische Beziehungen an die Organisation gebunden sind. Diese Strukturen, die den MB viele Jahre gute Dienste leisteten, erweisen sich heute auf dem Hintergrund der neuen politischen Freiheiten und der Forderungen der Revolution nach Demokratie, Transparenz und Rechenschaftspflicht in vieler Hinsicht als untauglich. Vor allem die Jugend der MB, die während der Revolution Seite an Seite mit ihren säkularen Gefährten den Angriffen des Regimes standhielten, fordern mehr Transparenz und interne Demokratisierung. Die Führung der MB zeigte bislang wenig Willen, diesen Forderungen nachzukommen, da sie nicht nur materielle und Machtinteressen berühren, sondern auch die Gefahr bergen, dass sich damit interne Spannungen aufgrund der verschiedenen sozialen und Klasseninteressen ihrer Mitglieder verschärfen und die Organisation auf längere Sicht vor eine Zerreißprobe stellen. Sie befürchten zudem, dass liberale Kräfte sich überzeugender als sie selbst als die kompetenteste Kraft zur Umsetzung der Forderungen der Revolution nach einer Transformation Ägyptens in einen zivilen, demokratischen Staat mit politischer Freiheit, gleichen Rechten und modernen Institutionen präsentieren könnten.
Die Führung der MB hat sich daher für das entschieden, was sie am besten kann: politische Manöver. Sie transferierte die internen und externen Auseinandersetzungen auf ein neues Terrain, in dem die Bedingungen von ihr und nicht von ihren Herausforderern definiert werden. Dieses Terrain ist das neu gebildete islamistische ‚wir’, konstruiert als Gegensatz zu säkularen und anderen nicht-islamistischen politischen Kräften. Das neue islamistische Lager ist keineswegs spontan entstanden, sondern wurde in den letzten vier Monaten aus rein politischen Gründen bewusst unter der Führung der MB konstruiert. Es ist weder kohärent, noch konsistent, aber es präsentiert sich als einer der beiden Pole einer Dichotomie unter dem Namen islamistisch/authentisch im Gegensatz zu nicht-islamistisch/vom Westen manipuliert.
Das Lager der Islamisten umfasst im wesentlichen die MB und die Salafisten, inklusive der ehemals militanten Gruppen und der salafistisch orientierten Angehörigen der staatlichen religiösen Institutionen. Die MB sind so etwas wie der Kopf dieses Lagers. Sie bestimmen die Themen der Polarisierung und überlassen den Salafisten die Frontarbeit. Die wichtigsten Felder der Auseinandersetzung bislang waren die Volksabstimmung im März über bestimmte Verfassungsänderungen sowie die Debatte über bestimmte Prinzipien, die vom künftigen Parlament auszuarbeitende Verfassung integriert werden sollen. Die Verfassungsänderungen betrafen im wesentlichen die Beschneidung der Amtszeit des Präsidenten sowie die Stationen auf dem Weg zu freien Wahlen und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Unter der Anleitung der MB machten die Salafisten daraus eine Abstimmung für oder gegen den Islam, indem sie vorgaben, dass die Kritiker der vorgeschlagenen Änderungen in Wirklichkeit Art.2 der alten Verfassung abschaffen wollten, der den Islam als Staatsreligion und die Schari’a als Hauptquelle der Gesetzgebung benennt. Unter dem Eindruck dieser Kampagne fordern nicht-islamistische politische Kräfte seitdem eine Einigung über bestimmte Prinzipien, die Freiheit und Gleichheit für aller Ägypter garantieren und unverändert in die neue Verfassung aufgenommen werden sollen. Den Hintergrund bildet die Befürchtung, dass die Islamisten als die am besten organisierte Kraft das künftige Parlament und damit den Inhalt der neuen Verfassung dominieren könnten.
Innerhalb dieser Auseinandersetzung hatte die Machtdemonstration am 29. Juli vor allem eine PR-Funktion. Sie sollte den Anschein erwecken, dass die Mehrheit der Ägypter hinter den Islamisten steht und somit sowohl zur Einschüchterung der politischen Gegner als auch zur weiteren Mobilisierung genutzt werden kann. Es ist kaum anzunehmen, dass solche Machtdemonstrationen einfach wiederholt werden können, denn es erfordert beträchtliche materielle und personelle Ressourcen, alle tatsächlichen und potentiellen Sympathisanten zu mobilisieren und in Bussen nach Kairo zu bringen. Außerdem legen die oben beschriebenen Szenen nahe, dass sich längst nicht alle Teilnehmer so bewusst dem islamistischen Lager verschrieben haben, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Was bedeutet das nun alles für die Zukunft? Viele Variablen sind noch offen. Mit ihren konfrontativen Attacken brachten die Salafisten z.B. die Sufi-Orden mit ca. 15 Millionen Mitgliedern gegen sich auf, die der Volksreligion nahe stehen und mit traditionellen Familien- und Stammesstrukturen verflochten sind. Die Sufi-Orden befürchten nun, dass ein islamischer Staat nach salafistischen Vorstellungen ihr Ende bedeuten würde. Sie könnten zusammen mit den nach größerer Unabhängigkeit und einer neuen Identität suchenden staatlichen religiösen Organisationen wie Al Azhar den Kern eines alternativen islamischen ‚wir’ bilden, das keinen Gegensatz zu den liberalen, linken und nationalistischen Kräften konstruiert und der Mehrheit der Ägypter viel näher steht als das Lager der Islamisten.
Die MB selbst, die sich in den letzten Jahren immer mehr liberalen, demokratischen Vorstellungen angenähert hatten, werden sich wahrscheinlich zum geeigneten Zeitpunkt und ebenfalls aus taktisch politischen Überlegungen von den Salafisten distanzieren und als moderate Kraft präsentieren, die allein in der Lage ist, die Geister, die sie rief, wieder zu domestizieren. Andererseits gibt es Anzeichen, dass ein Teil der gama’at islamiya sich wieder militanteren Konzepten zuwenden und einen Teil der Salafisten mit sich ziehen könnte. Offen ist auch noch, inwieweit sich die konterrevolutionären Kräfte aus dem Umfeld des alten Regimes wieder politisch formieren können.
Und schließlich gibt es die Millionen, die direkt an der Revolution beteiligt waren und die ihr Leben oft spontan und ohne jemals vorher politisch tätig gewesen zu sein für Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt haben. Sie werden sich diese Freiheit nicht so einfach wieder nehmen lassen. Auch wenn die gegenwärtigen Entwicklungen zum Teil besorgniserregend sind, so sind sie doch gesund und der einzige Weg, in einer offenen Auseinandersetzung zu einem staatlichen und institutionellen Rahmen zu finden, in dem unterschiedliche soziale, kulturelle und Klassenkonflikte ohne und gesellschaftliche Gewalt und staatliche Repression ausgetragen werden können.