Dabei verliert man im Westen natürlich kein Wort über die zahlreichen zivilen Opfer der Nato-Angriffe in Libyen. Das ist leidlich bekannt aus allen bisherigen „humanitären“ Kriegen. Will man von Revolutionen sonst nichts wissen (und bevorzugt den Begriff Terroristen), geht nun das Wort vom Sieg der Revolution allzu leicht von den Lippen. Ausgeblendet wird dabei, dass der Westen alles tut, um die gegen seinen Willen von Volksbewegungen angestoßenen demokratischen Prozesse in Tunesien und Ägypten zu blockieren. Der Westen arbeitet intensiv mit den alten Eliten zusammen und will sogar einen Teil der Muslimbrüder, die er jahrzehntelang verfemte, ins Boot holen. Ziel ist es, wirkliche demokratische Reformen, welche die Interessen der breiten Massen aufs Tapet bringen würden, zu verhindern.
Noch eklatanter ist die Situation am Golf. Den Ölprinzen wird dabei zugejubelt, wie sie die demokratische Rebellion ihres Volkes blutig unterdrücken. Zynischerweise sind diejenigen, die den Volksaufstand von Bahrain niederschlugen, auch jene, die für Libyen von Demokratie schwadronieren. Doch wenn es dem Westen offensichtlich nicht um Demokratie geht, um was dann?
Den demokratischen Revolutionen Gewalt antun
Die Vulgärkritiker haben allzu schnell eine Erklärung parat: Erdöl. Doch das greift zu kurz, war doch Gaddafi ein verlässlicher Geschäftspartner (und sogar persönlicher Freund Berlusconis), vermutlich verlässlicher als alles, was nun nachkommt.
Nein, in Libyen hat das Wirtschaftliche nur eine kollaterale Wirkung. Es geht um viel mehr, nämlich um die Vorherrschaft über die arabische Welt, die von den demokratischen Bewegungen in Frage gestellt wird. Nachdem man sie nicht mehr unterdrücken konnte, versucht man sie zu umarmen und notfalls mit Gewalt umzulenken.
Gaddafi bot sich als Exempel an. Er war zwar mit dem Westen verbündet, aber erst seit Kurzem und mit einer langen und wechselhaften Vorgeschichte des Konflikts. So gut die Freundschaft mit Berlusconi auch war, die jahrzehntelange soziale Verflechtung der Eliten mit dem Imperialismus war nicht in gleicher Weise gegeben wie in Tunesien und Ägypten. Zudem schätze man ihn als schwach ein. Allerdings hatte sich die Rebellion als noch schwächer herausgestellt, die keinen Monat auf eigenen Füßen zu stehen vermochte. Der Westen glaubte sich billig als demokratischer Phönix aus der Asche aufspielen zu können und damit die politische Führung wieder in die Hand zu bekommen. Das muss und wird von den arabischen Sozialrevolutionären, die alles in Gang gebracht haben, als Warnung gelesen werden.
Schwache „Nato-Bodentruppen“, noch schwächeres prowestliches Regime
Ursprünglich entstanden aus dem Impuls der demokratischen Umbrüche in Tunesien und Ägypten, verkam die Rebellion schnell zur Bodentruppe der Nato. Die Führung übernahmen, grob gesagt, zwei Strömungen, offen Prowestliche und Islamisten verschiedener Couleurs, die den Westen für ihre Interessen benutzen zu können glaubten.
Doch bei der antiwestlichen Stimmung in der gesamten islamisch-arabischen Welt braucht man nicht viel politische Intuition, um zu verstehen, dass die politischen Kosten für Hilfe von der Nato sehr hoch sein werden. Wer will schon sein Leben für ein von den Nato-Staaten kontrolliertes Regime riskieren? Die prowestlichen Milizen sind dementsprechend politisch und militärisch schwach und völlig abhängig.
Den Imperialisten schien dies selbst nicht geheuer. Beeindruckend der Widerstand der Gaddafi-Leute, die selbst unter aussichtslosen Bedingungen bis zum Schluss kämpfen – jedenfalls kein Vergleich mit dem Saddam-Regime im Irak. Es liegt nahe, dass der Grund für die Standhaftigkeit vor allem Clan-Loyalitäten sind. Aber dass man den Kampf als antiimperialistisch darstellen kann, wird wohl sein Scherflein zur Moral beitragen.
Der Westen hat Angst davor, dass der Staat in die Unkontrollierbarkeit zerfallen könnte. Er hat Angst vor einem schwachen, handlungsunfähigen Regime, das Freiräume für Widerstand bietet. Er hat Angst vor Islamisten, die nicht das tun, was man von ihnen erwartet.
Schon drohte Catherine Ashton, die EU-Außenbeauftragte, damit beim „Aufbau von Parteien, der Organisation von Wahlen oder der Schaffung anderer Institutionen“ behilflich sein zu wollen. Nachdem man über keine eigenen Bodentruppen verfügt, wird wohl die Idee von UNO-Truppen aufkommen, um die Situation im Sinne des Westens zu stabilisieren.
Politisch verantwortlich: Gaddafi
Bei den Nato-kritischen Kräften hört man viel von Verschwörungen. Der gesamte Volksaufstand sei eine Machination des CIA & Co. Betrachten wir die Sache anders. Die USA und ihre Verbündeten würden nicht die Welt beherrschen, wenn sie nicht zur permanenten Verschwörung fähig wären. Die westliche Intervention mit allen Mitteln ist eine Grundbedingung, eine Konstante jeglicher Politik. Und trotzdem laufen die Dinge meistens nicht so, wie es sich diese Weltenlenker wünschen.
Tatsache ist jedenfalls, dass die Revolte von Tunesien und Ägypten inspiriert wurde und daher eine ähnliche politische Stoßrichtung hatte. Die Forderung nach Demokratie war und ist auch in Libyen legitim.
Die beste und einzige Möglichkeit, die imperialistische Militärintervention abzuwenden, wäre für Gaddafi gewesen, auf die Forderungen einzugehen, ihnen nachzugeben. Doch das wollte er unter keinen Umständen, denn das Volk zählt für ihn nicht. Gegen sein Volk kämpfend, wurde er zur Selbstverteidigung gegen den Imperialismus gezwungen – ein zum Scheitern verurteiltes Ding der Unmöglichkeit, für das er die volle politische Verantwortung trägt.
Warnung an Syrien
Derzeit tut Assad alles, um in die Fußstapfen Gaddafis zu treten und das Volk abzustoßen. Doch der Unterschied ist, dass die Bewegung in Syrien wesentlich stärker und politisch entwickelter ist. Die übergroße Mehrheit lehnt eine westliche Militärintervention ab, die nun mit den libyschen Ereignissen ins Spiel gebracht werden wird. Daher könnte sie über die Türkei unter islamischem Deckmantel durchgeführt werden. Aber auch das stößt auf massive Ablehnung.
Es ist zu hoffen, dass ein wesentlicher Teil der demokratischen Bewegung in Syrien nicht in die Falle der westlich-türkischen Intervention gehen wird. Aber ein gewisser Teil des politischen Islam wird es wohl. Er wittert die Chance, als Ersatz für die verbrauchten Diktaturen mit Washingtons Hilfe an die Macht zu gelangen. Von Pro-Interventionskräften sollten sich die antiimperialistischen Teile distanzieren und auch keine Bündnisse schließen. Mit den antiimperialistischen Teilen der islamischen Bewegung muss jedoch ein revolutionäres Bündnis geschlossen werden. Nicht der Islam sollte das Kriterium für Bündnisse sein, sondern die Stellung zum Imperialismus.
Es gilt, diesen antiimperialistischen Teil zu unterstützen. Kann er sich nicht durchsetzen, wird er wohl das erste Ziel der westlichen Aggression sein. Denn letztendlich geht es darum, eine sozialrevolutionäre Massen- bewegung gegen die westliche Ordnung, wie sie in der gesamten arabischen Welt im Entstehen begriffen ist, im Keim zu ersticken, eben auch mit militärischen Mitteln.