02:25 Uhr: Unser Transport ist, wie befürchtet, pünktlich. Muawya, der Taxiunternehmer in meinem Alter, ist zu früher Stunde gnädig, will uns die nächtliche Fahrt so angenehm wie möglich machen und drückt den Knopf zu seiner Lieblingsmusik. Into My Arms von Nick Cave trägt uns förmlich durchs Dunkel der Nacht, das uns die Häuser, in denen die vom Fastenbrechen erschöpften Bewohner Tulkarms längst zur Ruhe gekommen sind, nur umrisshaft erkennen lässt. Während wir Neuankömmlinge hier im äußersten Westen der Westbank letzte Kämpfe mit dem Schlaf ausfechten, erkundigt sich Bettina, die der guten Sache wegen hierher nach Palästina gekommen ist, und die Ulrike und ich für ihren unbeirrbaren Einsatz in diesem ungleichen Kampf bewundern, bei Muawya über die an uns vorbeiziehende Chemie-Fabrik: Von den Israelis hierher gestellt, verhilft sie nicht nur asthmatischen Palästina-Reisenden wie mir zu Atemnot, sondern macht den Distrikt auch gleich prominent in punkto Atemwegserkrankungen, Augenentzündungen und einem überdurchschnittlichem Krebsrisiko, von dem nicht nur hier behauptet wird, dass es das höchste im mittleren Nahen Osten sei. Tags drauf werden wir von einem unmittelbar angrenzenden Bauern erfahren, dass die aus ihr abgeleiteten Abwässer für Missernten und nachhaltiges Pflanzensterben verantwortlich sind. Uns dämmert: Israel scheint äußerst gründlich zu sein in seinem Bestreben, Palästinensern ihr Dasein so effizient wie möglich zu verunmöglichen.
Von Morgendämmerung allerdings noch keine Spur, als wir kurz vor drei Uhr Taybe erreichen, einen der in der Westbank omnipräsenten Checkpoints. Die Tatsache, dass sich deren Zahl im 5.655 Quadratkilometer großen Westjordanland laut UN-Angaben von 630 vor eineinhalb Jahren auf aktuell 505 verringert hat, lässt kaum Hoffnung keimen. Gefängnisse, durch die 5.000 Menschen hier in Taybe jeden Tag auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit passieren müssen. Wir gaffen auf all die unfreiwilligen palästinensischen Frühaufsteher, von denen manche wieder zurückkommen, weil das Lesegerät den Fingerprint nicht erkennt oder aus unerfindlichen Gründen die Identitätskarte über Nacht ungültig geworden ist. Allein schon die Tatsache, dass sich Menschen in ihrem eigenen Land ständig ausweisen müssen, erbost. Und dann: Genehmigungen – für: nahezu alles. Nichts anderes als israelische Beschäftigungspolitik kann es sein, Palästinenser für Arztbesuche, berufliche Reisen, Jerusalemaufenthalte, schlichtweg: für was auch immer, schriftlich Erlaubnis einholen zu lassen. Niemand soll unerlaubt über die Grenzen im eigenen Land kommen – zu Sicherheitszwecken, wie man uns Tage zuvor am Checkpoint in Ramallah, der sich mit EU-Pass mühelos passieren ließ, beteuerte. Gründlichkeit auch hier.
Spontaneität hingegen scheint in der Westbank nur erlaubt, wenn es darum geht, sich Neues für oder gegen Araber auszudenken: Denn neben den Flying Checkpoints als spontan errichteten Kontrollpunkten trifft man in palästinensischen Autonomiegebieten beispielsweise auch auf aus dem Nichts auftauchende Road-Blocks – vom israelischen Militär errichtete Straßenblockaden und auf die von militanten Siedlern auf den ohnehin in miserablem Zustand befindlichen Palästinenser-Straßen aufgetürmten Steinhaufen. Wer als Lenker eines Wagens mit palästinensischem Kennzeichen nicht zuvor per Handy-Kurznachricht von ihrem Vorhandensein in Kenntnis gesetzt worden ist und während der Fahrt auf sie trifft, muss damit rechnen, weitere Stunden im Auto zu verbringen, zumal ein gut positionierter Road-Block eine Wegstrecke von zwanzig Minuten schnell auf zwei Stunden anwachsen lassen kann. Eine Erfahrung, die auch meine Reisegefährtin und ich indirekt machen mussten, als uns Bakhria, eine junge Aktivistin aus Jerusalem, mittels SMS-Botschaft des Inhalts „stuck in beit jala“ gleich um zwölf Stunden versetzte.
Das Auffinden von Gründlichkeit, gepaart mit Spontaneität, entbehrt, so merken wir bald, hier in der Westbank einer gewissen Unausgewogenheit – allerdings nur für die israelische Besatzungsmacht. Denn was ordentlich sein muss und was chaotisch sein darf, wird seitens der israelischen Regierung bestimmt und vom israelischen Militär exekutiert. Wer spontan festgehalten, ins Gefängnis geworfen, von Siedlern mit Steinen beworfen oder mittels scharfer Munition verletzt wird, obliegt damit klar der israelischen Besatzung. Geplant oder spontan: Erlaubt ist, was dazu dient, Palästinenser zu vertreiben. Die dabei den Zweck heiligenden Mittel dürfen spontan gewählt werden oder aber auch von langer Hand geplant sein; wichtig ist nur, dass ihre Umsetzung mit Gründlichkeit erfolgt. So also geht es in der Westbank zu, denke ich mir auf dem Nachhauseweg vom Checkpoint in Taybe: gründlich und spontan – und beides offensichtlich gut geplant.