Header Image
Ägypten verlässt den Westen
7. November 2011 - Wilhelm Langthaler

Kurz zusammengefasst fanden wir eine äußerst dynamische Situation vor. Der durchsichtige Versuch des alten Regimes, sich seines Kopfes zu entledigen und damit die Dinge möglichst beim Alten zu belassen, ist gescheitert. Die Volksbewegung befindet sich im Aufschwung und wird sich so einfach nicht stoppen lassen. Die neuen Akzente in der Außenpolitik, namentlich das Embargo gegen Gaza zu lockern und wieder diplomatische Beziehungen zum Iran aufzunehmen, geben die Bewegungsrichtung an.

Unmittelbar nach dem Fall des Diktators sprachen wir von einem Block des alten Regimes, dem es zumindest gelungen war mit dem Verfassungsreferendum vom 19. März die Initiative an sich zu reißen. Bereits wenige Monate später zeigt dieser Block Zerfallserscheinungen. Zeichen dafür sind die Gerichtsverfahren gegen Vertreter des alten Regimes, Mubarak eingeschlossen, die am Anfang nicht abzusehen gewesen waren. Praktisch alle, die Armee, die Tycoons, die Medien etc. fühlen sich gezwungen die „Revolution“ zu umarmen. Die Wahlen rücken näher und dem alten Regime mangelt es an einer politischen Partei. Noch weniger verfügt es über einen politischen Führer, den es ins Rennen um die Präsidentschaft schicken könnte. All das sind Krisensymptome des politischen Blocks, der in Kontinuität zum alten Regime steht.

Stolperstein Verfassungsreferendum

Für die Wahlen musste eine formale Grundlage geschaffen werden. Auch dazu diente das Referendum vom 19. März. Es war jedoch vor allem eine kluge politische Operation der alten Elite. Die realen Änderungen an der Verfassung sind minimal. Artikel 179, der im Namen der Terrorbekämpfung grundlegende politische Rechte beschnitt, wurde gestrichen. Kernstück der Verfassungsänderung ist das Prozedere bezüglich einer neuen Verfassung. Demnach wird die verfassungsgebende Versammlung vom Parlament bestellt, das demnächst zur Wahl steht.

Eigentlicher Sinn der Abstimmung war, der radikalen Forderung nach einer direkt vom Volk gewählten Konstituante, so wie es in Tunesien der Fall ist, einen Riegel vorzuschieben.

Das Ergebnis des Urnengangs (mehr als 70% Ja-Stimmen) war unmittelbar ein Erfolg des alten Regimes, das die Situation stabilisierte und der Volksrevolte Wind aus den Segeln nahm. Unter Führung der Armee fanden die alten Eliten, die Moslembruderschaft und die salafitischen Kräfte zusammen und ließen die Konturen eines neuen herrschenden Blocks sichtbar werden.

Hier die Argumente einiger liberaler und vor allem der linken Kräfte für ein „Nein“:

a) Zuerst braucht es einen demokratischen Prozess für eine neue Verfassung. Damit erst sind die Bedingungen für wirklich demokratische Wahlen gegeben. Wahlen auf der Basis des alten, höchst präsidentialistischen Systems nützen tendenziell der alten Elite.

b) Die Parlamentswahlen im September sind zu kurzfristig angesetzt, um der Volksopposition Chancen einzuräumen. Auch der Termin bevorteilt die Kräfte des alten Regimes und vor allem ihre Partner.

c) Eines der wenigen bisher von der Junta verabschiedeten Dekrete regelt die Bildung politischer Parteien für die Beteiligung an Wahlen. Die formalen Hürden wurden im Vergleich mit jenen unter Mubarak sogar noch erhöht.

d) Einer der politischen Führer der „Volkskomitees“, Gamal Abd el-Fattah, erhob die Forderung nach einer provisorischen, zivilen Regierung, gestützt auf alle Kräfte der revolutionären Bewegung, die den Militärrat ablösen soll. Diese Idee ist repräsentativ für das gesamte radikale Milieu.

Wir wollten wissen, wie die Moslembruderschaft (MB) auf diese Konzepte regieren würde. Fragen, gestellt an ihre zweite Führungsebene, auch an jene Vertreter, die von der Linken als offener eingeschätzt wurden, brachten keine Ergebnisse. Sie vermieden klare politische Antworten und benutzten eine allgemeine islamische Rhetorik der Einheit. Als wir jedoch Magdi Hussein von der „Islamischen Arbeiterpartei“ fragten, bekamen wir genau jene Antworten, die wir uns von der MB erwartet hätten. Von der Linken kommend, hatte sich seine Partei bereits vor Jahrzehnten in das Milieu der MB begeben. Hussein kann als inoffizielles Sprachrohr der MB begriffen werden. Er hat sogar seine Kandidatur für die Präsidentenwahlen angekündigt und hofft ihr inoffizieller Kandidat zu werden, denn die Moslembrüder selbst wollen keinen Kandidaten stellen.

„Die Linke fürchtet sich davor die Wahlen zu verlieren. Daher wollen sie sie verschieben.“ Das „Nein“ beim Referendum würde die Militärherrschaft de facto prolongieren, während die angenommene Verfassungsänderung für einen schnellen Übergang zu einer zivilen Regierung sorgte. Beide Argumente erscheinen uns als demagogisch.

Viel wichtiger unter den Massen, vor allem unter jenen, die sich nicht an der Volksbewegung beteiligen, war die Projektion, dass sich eine eigenartige Front aus Kommunisten, Liberalen und westlichen Agenten gebildet hätte, die sich gegen den islamischen Charakter Ägyptens verschworen hätten. Die MB hätte mit dem „Ja“ in letzter Minute die Scharia gesichert.

Mohamed Waked, einer der politischen Führer der „Nationalen Front“, ein Projekt aus der revolutionären Bewegung eine politische Kraft zu bilden, die auch bei den Wahlen kandidieren kann, schätzt das „Nein“ indes wesentlich positiver ein. „Wenn man in Rechnung stellt, dass sie die Medien vollständig kontrollieren, während es uns an elementaren Ressourcen fehlt, so haben wir uns gut geschlagen.“

Der stabilisierende Effekt des Referendums ist schnell verflogen. Die Bewegung preschte vorwärts. Der Tahrir-Platz bleibt ein lebendiges politisches Laboratorium und Zentrum der Proteste. Hunderttausende erheben die Forderung nach einem Prozess gegen Mubarak und nach dem Rücktritt von General Tantawi, dem Chef der Militärjunta. Nach Abdelhalim Kandil, einem bekannten Journalisten, führender Figur von Kifaya und prominentem Nasseristen, ist die Frage nach einer neuen Verfassung keineswegs erledigt. Die Bewegung hält an der Forderung nach einer echten verfassungsgebenden Versammlung, gestützt auf die Volksbewegung, fest.

Gescheiterte Versuche repressiven Vorgehens

Erstaunliche Werbungen sieht man in den Straßen Kairos. Alle lassen die Revolution hochleben. Unternehmen, die zum Netzwerk Mubaraks gehörten, genauso wie die Militärs, bejubeln die Revolution. Außer den Salafiten kann sich niemand öffentlich gegen die Revolution wenden. Trotz dieses allgemeinen Klimas versucht die Armee ab und an mit repressiven Vorstößen der Bewegung Grenzen zu setzen. Mehrmals schon wurde der Tahrir-Platz geräumt. Am 8. April verhaftete man mehrere Offiziere, die sich an einer Demonstration gegen Tantawi beteiligt hatten. Sie wurden vor ein Militärgericht gestellt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ihre Freilassung ist eine wichtige Forderung der Bewegung.

Bis jetzt hat die Junta drei antidemokratische Dekrete erlassen:

a) Eines zu Schlägern, das vorgibt sich gegen den Pro-Mubarak-Mob zu richten, das in Wirklichkeit aber gegen die Aktivisten der Bewegung zielt. Einige von ihnen wurden vor Militärgerichte gestellt, während Mubarak – wenn überhaupt – der Prozess vor einem Zivilgericht gemacht werden wird.

b) Ein Streikverbot. Überall entwickeln sich soziale Bewegungen. Es gibt eine ausgesprochene Welle an Streiks und Arbeiterprotesten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Vielfach werden unabhängige Gewerkschaften gegründet. Bisher getraute sich der Staat nicht sein Dekret durchzusetzen.

c) Die bereits genannte Verordnung zur Bildung politischer Parteien. In dieser werden die Hürden, insbesondere die finanziellen, sehr hoch gelegt, so hoch, dass mögliche aus der Bewegung hervorgehende politische Formationen praktisch von den Wahlen ausgeschlossen werden.

Wir befinden uns in einer Situation des permanenten Konflikts zwischen Junta und Bewegung. Partiell wird es zu repressiven Versuchen kommen, aber eine volle Konterrevolution erscheint unwahrscheinlich. Kandil: „In der modernen Geschichte Ägyptens schritt die Armee nie gegen das Volk ein und auch heute können die Generäle die Soldaten nicht gegen das Volk losschicken. Doch die Armee braucht den permanenten Druck des Volkes.“

Außenpolitische Wende

Ägypten bildete die letzten Jahrzehnte die wichtigste Stütze der USA in der arabischen Welt. Es stützt Israel, so wie in den Verträgen von Camp David 1978 festgehalten. Mit dem Ende Mubaraks ist das nicht mehr aufrecht zu erhalten. Meistens ändern Wahlen nicht viel. Doch dieses Mal sind sie sehr wichtig, denn die politische Elite muss sich zum ersten Mal Wahlen stellen und daher auch mehr oder weniger auf die politischen Wünsche des Volkes eingehen. Und dieses ist mehrheitlich antiamerikanisch und antiisraelisch eingestellt.

Das erste Zeichen einer Wende war die Ankündigung der teilweisen Aufhebung der Blockade gegen Gaza. Natürlich wird die Armee versuchen amerikanische und israelische Interessen so wenig als möglich zu verletzen, aber bereits diese Symbolik führte zu Verärgerung in Tel Aviv und Besorgnis in Washington. Von der Aufhebung des Embargos kann indes keine Rede sein. Diese kann nur durch den fortgesetzten Druck der Volksbewegung erreicht werden. Tatsächlich finden fast permanent Demonstrationen für die Schließung der israelischen Botschaft in Kairo statt. Eine weitere Forderung ist die Annullierung des Gasliefervertrages, der in Ägypten selbst dringend benötigten Brennstoff zu 20% des Marktpreises an Israel quasi verschenkt.

Im Zusammenhang mit der partiellen Grenzöffnung in Rafah steht die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas, die von Mubarak bisher immer blockiert worden war. Auch in dieser Frage waren verärgerte Reaktionen von Zionisten zu vernehmen.

Genauso wichtig ist die Intention des Militärrats, die Beziehungen zum Iran, dem Erzfeind der USA, Israels und Saudi-Arabiens, zu normalisieren.

Inzwischen hat das Regime viele dieser anfänglichen, unter dem Druck der Bewegung vorge-nommen Änderungen des außenpolitischen Kurses zurückgenommen. Dennoch sind sie bedeutsam, insofern sie zunächst die Stärke des Volksaufstandes ausdrückten und heute für die Schwierigkeiten stehen, welche die Bewegung damit hat, das Regime endgültig loszuwerden.

Die Moslembruderschaft

Allgemein wird in Ägypten mit einem Wahlerfolg der Moslembrüder oder der ihr zugeordneten Formation gerechnet. Indes spielen diese ein kompliziertes Spiel mit mehreren Variablen. Für ihre fromme Klientel suchen sie möglichst große Distanz von politischen Funktionen. Gegenüber dem Militär gaben sie mit dem Referendum ein Zeichen der Bereitschaft einer zumindest losen Zusammenarbeit ab. Auf der anderen Seite versuchen sie auch die demokratische Bewegung für sich zu reklamieren, obwohl sie erst auf sie aufsprangen, als sie unaufhaltsam erschien.

Schließlich lancierten sie einen schlauen Vorschlag: eine gemeinsame Liste für das neue Ägypten, auf der sie die Hälfte der Plätze stellen, während die anderen Kräfte sich den Rest teilen. Auf diese Art und Weise werden alle Kräfte repräsentiert – von Gnaden der MB. Zudem fürchten sie eine zu starke internationale Exposition, die sie so dämpfen könnten. Obwohl dieser Vorschlag keinerlei Chance auf Annahme hat, dient er den MB dennoch, um die an sie gerichteten Vorwürfe, die Zusammenarbeit zu verweigern, zu entkräften.

Tatsächlich brauchen die MB in gewisser Weise sowohl die Kooperation mit der Junta als auch mit der Bewegung. Sie koalieren mit der Armee und der alten Elite, um die Bewegung unter Kontrolle zu halten und umgekehrt. Obwohl sie vermutlich als stärkste einzelne politische Kraft aus den Wahlen hervorgehen werden, wären sie allein zu schwach, um sich als führende Kraft aufzuschwingen. So können sie beanspruchen, die Resultante zu sein.

Nicht nur deswegen spielen sie eine widersprüchliche Rolle. Das kann auch an ihrer Geschichte festgemacht werden. Unter dem prosowjetischen, nationalistischen Regime von Nasser kooperierten sie in der bipolaren Logik mit dem Westen. Es ist aber ein oftmals begangener Fehler, sie als Agenten oder Marionetten des Imperialismus zu verstehen. Der Bezug zum Islam dient ihnen als symbolischer, kultureller Antiimperialismus. Von Sadat wurden sie gegen die Linke eingesetzt. Doch Mubarak stutzte ihnen wiederum die Flügel und reduzierte sie auf eine halblegale Opposition.

Die Bewegung gegen Mubarak war einzigartig, weil die Linke und die MB auf einer demokratischen Plattform zusammenfanden, die historisch gesehen ein linkes Gepräge hat. Auf dem Tahrir-Platz vermischten sich die Milieus, was unerhörte Auswirkungen auf die jüngere Generation der Anhängerschaft der MB hat. Für die kulturkonservative Führung der MB ist es nun schwer sich gegen demokratische Rechte zu stellen oder offen konfessionalistisch zu sein. Anders ausgedrückt sind sie näher an den Mainstream gerückt.

Was die soziale Frage im engeren Sinn betrifft, halten die MB jedoch an einer prokapitalistischen Position fest. Sie lehnen Streiks und Arbeiterproteste ab. Eigentumsrechte bleiben heilig. Ihre Führung besteht überwiegend aus mittelständischen Berufen wie Ärzten, Ingenieuren und Professoren, fast einer Kaste gleich. Es ist die Kultur eines Händlerkapitalismus, die sich nur an Auswüchsen wie den Tycoons stößt. Die Verteidigung der sozialen Schichtung, die enge Kopplung von sozialem Status und wirtschaftlichem Erfolg, ist tief in ihrer Variante des Islam verankert. So haben sie auch die Rücknahme der Landreform Nassers durch Mubarak unterstützt.

Eingedenk der explosiven sozialen Situation und der wachsenden Kraft der Mobilisierung von unten, zeichnen sich größere politisch-soziale Konflikte ab, in denen die Linke sich allein gegen die alte Elite, die Armee und die islamischen Kräfte (die salafitischen natürlich mit eingeschlossen) befinden könnte.

Im Übrigen haben die Saudi-nahen Salafiten durch ihre Rolle als Mob von Mubarak jede Glaubwürdigkeit als Antiimperialisten verloren.

Die Linke

Es wäre sowohl eine unzulässige Vereinfachung als auch eine Unterschätzung der Zersetzung der Linken nach 1989/91, wenn man die Volksrevolte als links bezeichnen wollte. Tatsächlich ist die organisierte Linke sehr klein. Sie kann dennoch eine wichtige Rolle spielen. Es war letztlich Kifaya („genug“), eine Koalition linker und nationalistischer Kräfte, deren unablässige Proteste unter widrigen Bedingungen den Weg für den massiven Ausbruch des Volkszorns ebneten. Über weite Strecken hatten sich die MB einmal mehr, einmal weniger beteiligt, während sie einen Kanal zum Regime offen hielten. Ihr Aufspringen auf den fahrenden Zug charakterisiert ihr generelles Verhalten in den letzten Jahren. Die Frontlinie gegen die Diktatur wurde jedenfalls von der Linken besetzt.

Die Bewegung ist ein breites, demokratisches Erwachen, das zahlreichen und unterschiedlichsten Kräften Platz bietet, von Liberalen bis hin zu den MB. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die expliziten Forderungen der Linken für die Bewegung nichts Fremdes darstellen, sondern als radikale Variante aus ihr herauswachsen:

a) eine konstituierende Versammlung auf den Trümmern des alten Regimes

b) Antiimperialismus

c) Klassenkampf gegen die kapitalistische Oligarchie

Ad a) Gerade eben weil sie die völlige Schleifung des alten Regimes bedeutet, ist die Konstituante kein einfaches Ziel. Während die MB diese Forderung nicht offen ablehnen können, hintertreiben sie sie durch ihre Zusammenarbeit mit der Junta für einen geordneten Übergang. Die Idee: zuerst das bereits abgehaltene Verfassungsreferendum, dann Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und auf der Basis stabilisierter Institutionen eine neue Verfassung – unter weitgehendem Ausschluss der Volksbewegung. Letztere schreitet indes vorwärts und versucht diesen Plan zu vereiteln.

Letztes, dafür aber umso wirkungsvolleres, Mittel der Eliten ist die konfessionelle Frage. Hier liegt auch die Achillesferse der Linken, die hinsichtlich des Säkularismus gespalten ist. Wichtige Teile gehen noch mehr als die Liberalen gegen den Islam. Das Faktum, dass die Bewegung keine islamische ist, darf nicht den Blick auf den nach wie vor übergroßen symbolischen Wert des Islam verstellen. Ägypten war das erste arabische Land, das in engen Kontakt zur westlichen Kultur und zum Kolonialismus gekommen ist. Eine Linie der Selbstverteidigung, der Selbstbestätigung war immer der Bezug auf den Islam mit allen seinen politischen Unzulänglichkeiten, reaktionären Elementen und der Tendenz, die bestehende politische Herrschaft zu bewahren.

Nach unserem Verständnis geht es darum, dieses Element der symbolischen Selbstbestimmung zu verstehen und zu würdigen, während man auf dem Prinzip der Souveränität der Volksmassen besteht. Diese Kombination ist keine einfache Sache, aber die einzige Möglichkeit die Mehrheit des Volkes um das Projekt der Linken zu sammeln. Gelingt das nicht, stabilisiert sich die Allianz der MB mit dem alten Regime und marginalisiert so die Linke. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich die MB immer unter dem Druck der salafitischen Strömungen befinden, die leichtes Spiel haben, wenn die Linke die symbolische Bedeutung des Islams nicht respektiert.

Ad b) Zum Antiimperialismus und Antizionismus besteht ein viel breiterer Konsens auch mit den MB. Doch die revolutionäre Linke muss immer nachstoßen, damit die Proklamationen nicht leere Worte bleiben und ihnen auch Taten folgen.

Ad c) Mittelfristig wird die soziale Frage in den Vordergrund treten. Sie bildet auch die wichtigste Bruchlinie mit der MB. Obwohl ihre Anhängerschaft tief in die Armut hinein reicht, bleiben die kapitalistischen Mittelklassen dominant. Nicht umsonst unterstützten die MB das von der Junta erlassene Verbot von Streiks. Ihr Argument ist die wirtschaftliche Stabilität. „Zurück an die Geschäfte, um das Volk zu ernähren.“

Die soziale Lage ist dramatisch und verschärft sich weiter. Vor dem Fall Mubaraks hatte man Ägypten als einen der besten Schüler der globalen Finanzinstitutionen gelobt. Doch selbst dort waren zwischenzeitlich Zweifel ob der Tatsache aufgetreten, dass sich der notorische Trickle-down-Effekt einfach nicht einstellen wollte: Die Inflation liegt bei 12% und für Lebensmittel bei 20%. Selbst unter Mubarak mussten die Preise gestützt werden, andernfalls hätten Hungerrevolten gedroht. 5% des BIP wird für die Stützung der Brennstoffpreise aufgewendet. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die durchschnittlichen Industrielöhne liegen unter jenen Chinas. Die Hälfte des benötigten Getreides wird importiert. Es gibt einen heftigen Konflikt mit den Staaten am Oberlauf des Nils über die Wasserverteilung, eine Lebensfrage für eines der trockensten Länder der Welt.

Mubarak folgte strikt den neoliberalen Vorgaben. Günstige Bedingungen und vor allem geringe Lohnkosten sollten ausländische Investitionen für die Exportindustrie anziehen. Das funktionierte ausschließlich in dem Sinn, dass eine kleine Elite ungeheure Vermögen anhäufte, während die Armen nur noch ärmer wurden. Die gegenwärtigen Arbeitskämpfe könnten indes zu höheren Löhnen führen, was unter gewissen Bedingungen einen neuen kapitalistischen Zyklus anstoßen könnte. Wenn aber der wirtschaftspolitische Rahmen der Mubarak-Zeit beibehalten wird, könnten sie sogar die gegenteilige Wirkung zeitigen.

Eine sozioökonomische Wende weg vom Neoliberalismus hin zu etwas, was die indischen Widerstandsbewegungen „Entwicklung von und für das Volk“ nennen, ist dringend nötig. Es ist also nicht genug, der Oligarchie die politische Macht zu entreißen, sondern man muss sich auch ihrer ökonomischen Basis bemächtigen. Abdelhalim Kandil: „Die nächste Etappe der Revolution wird die soziale sein.“ Obwohl auf diesem Feld größere Konflikte zu erwarten sind, steht die Bewegung einschließlich der Linken hier noch ganz an den Anfängen.

Gegenwärtig verzeichnet die Linke einen signifikanten Aufschwung. Neue Gruppen entstehen und die alten bekommen Zuwachs. Am 7. Mai fand in Kairo eine Konferenz für eine verfassungsgebende Versammlung und gegen die Militärjunta statt, an der für die Organisatoren unerwartet mehrere Tausend Menschen teilnahmen – Zahlen die noch bis vor Kurzem undenkbar gewesen wären.

Während Kifaya laut einem seiner Initiatoren Abdelhalim Kandil seine Aufgabe erfüllt hat und daher überholt ist, gibt es zwei breitere politische Projekte der revolutionären Linken. Auf der einen Seite die „Volkskomitees“, die in den Armenvierteln und Mittelstandsquartieren organisiert werden und an denen sich auch mehrere politische Organisationen beteiligen. Auf der anderen Seite die „Nationale Front“ (die den Begriff „qawmi“ verwendet, der das Panarabische betont, und nicht „watani“, welches sich nur auf Ägypten beziehen würde). Sie versucht der Bewegung einen politischen Ausdruck zu geben, grob gesprochen auf Basis der oben genannten drei Aspekte, auch mit dem Ziel, bei den Wahlen anzutreten. Auf der Ebene der Wahlen läuft die Linke (und noch mehr die revolutionären Kräfte) indes Gefahr viel schwächer als auf der Straße zu erscheinen.