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„Die tunesische Linke bleibt bei ihrer Familie“
7. November 2011 - Sami Brahem, Wilhelm Langthaler, Ajmi Lourimi

intifada: Sind Sie für einen islamischen Staat?

Ajmi Lourimi: Anfangs waren wir keine politische Bewegung im eigentlichen Wortsinn. Wir betrachteten den Islam als Lösung für alle Probleme. Gleichzeitig waren wir mit der forcierten Entislamisierung durch die Regierung konfrontiert. Für uns war die arabisch-islamische Identität in Gefahr. Dagegen propagierten wir die Reislamisierung.

Doch der Islam ist die Religion des Volkes geblieben, man konnte ihn nicht ausreißen. Die Globalisierung strebt eine Homogenisierung an, aber diese gelingt nicht. Der kulturelle Pluralismus ist fest etabliert und in ständiger Entwicklung.

Heute geht es daher nicht mehr um die Verteidigung des Islam, sondern um die Demokratie, in der dieser in Freiheit und Würde gedeihen kann. Die alten Eliten sind nicht mehr einheitlich. Sie können nicht mehr wie sie wollten.

Sami Brahem: Von der Seite der Marxisten vermissen wir allerdings eine solche Selbstkritik, einen solchen Wandel, selbst wenn sie heute von Demokratie sprechen. Manche von ihnen sind extrem intolerant und sehen in der islamischen Bewegung den Hauptfeind. Man könnte sie Fascho-Laizisten nennen. Sie sind trotz ihrer Phraseologie eine Reserve der Konterrevolution.

intifada: Ihre Feinde werfen Ihnen vor die Scharia einführen zu wollen?

Ajmi Lourimi: Nein, die Einführung der Scharia, so wie sie von unseren Feinden an die Wand gemalt wird, befindet sicht nicht im Programm von Enahda. Auch nicht in der Form, wie sie in Afghanistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Somalia und anderen Ländern praktiziert wird. Und schon gar nicht die Körperstrafen.

Wir verstehen die Scharia zuerst als universelles Wertesystem, ebenso wie die Menschenrechte. Nach ihr wollen wir die Gesellschaft gestalten, eine Gesellschaft ohne Kriminalität, gegründet auf Solidarität und Gerechtigkeit. Das heißt auch, dass man den Staatschef nicht heilig sprechen darf.

Dann erst kommt die Scharia als Gesetz, als Strafrecht. Aber so, wie das in den genannten Ländern praktiziert wird, steht das im Widerspruch zum Islam, so wie wir ihn verstehen.

Sami Brahem: Für mich sind die Menschenrechte Teil des Islam. Das Strafrecht und die Strafformen selbst müssen historisch gelesen und für die Gegenwart neu interpretiert werden. In diesem Sinn bin ich gegen die Körperstrafen.

Ajmi Lourimi: Die Körperstrafen finden sich im Koran und sind daher Teil des Islam, doch sind sie nicht Teil des Programms von Enahda.

intifada: Würden Sie einen in einem demokratisch gewählten Parlament beschlossenen Gesetzeskodex akzeptieren?

Ajmi Lourimi: Ja.

intifada: Die Kommunistische Arbeiterpartei (PCOT) wirft Ihnen vor mit der Teilnahme an der „Hohen Kommission für die Realisierung der Ziele der Revolution, der politischen Reform und den demokratischen Übergang“ mit der Übergangsregierung und damit den Resten des alten Regimes zu kooperieren.

Ajmi Lourimi: Wir nehmen teil, weil wir den Konsens mit allen Komponenten der Gesellschaft suchen. Nach der zweiten Kasbah-Bewegung, die zum Rücktritt Premiers Mohamed Ghanouchis führte, suchten alle die revolutionäre Einheit. Der demokratische Übergang ist nur mit Konsens möglich, sonst drohen Konfrontation und Chaos.

intifada: Man kann das aber auch als politische Unterstützung für die alten Eliten lesen, die sich im neuen Regime recycelt haben.

Ajmi Lourimi: Natürlich gibt es noch Leute des alten Regimes. Die müssen zurückgedrängt werden. Aber wir dürfen keine institutionelle Leere zulassen, die zu Chaos und Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt. Die Institutionen, die aus der Revolution hervorgegangen sind, sind notwendig. Man muss den konstitutionellen Weg respektieren. Auch die Armee hat sich auf die Seite der Revolution gestellt und muss im Interesse des Volkes die Sicherheit erhalten. Die zweite Übergangsregierung von Essebsi hat schließlich vorgeschlagen zur Sicherung der Revolution die Hohe Kommission zu schaffen. Die Reaktionen waren überwiegend positiv und ein großer Teil der Gesellschaft, von Parteien bis Individuen, beteiligte sich.

intifada: Warum hat Enahda die Kommission verlassen?

Ajmi Lourimi: Wir haben immer wieder kritisiert, dass die Hohe Kommission nicht ausgewogen ist. Wir haben als wichtige Partei drei Sitze, während es zahlreiche Kleinparteien gibt, die kaum jemanden repräsentieren. Die sogenannten Unabhängigen sind in Wirklichkeit nicht unabhängig. Die Mehrheitsverhältnisse in der Hohen Kommission spiegeln jene in der Gesellschaft überhaupt nicht wider. Wichtige Kräfte wie die PCOT haben die Teilnahme verweigert. Auch das hat Bedeutung und muss in Rechnung gestellt werden, denn sie vertreten eine Sektion der Gesellschaft.

Wir haben unsere Teilnahme an der Hohen Kommission suspendiert, weil es in ihr keinen Konsens gibt und er nicht gesucht wird, weil sie nicht demokratisch funktioniert und weil sie die Wahlen nicht vorbereitet. Im Gegenteil, sie errichtet Hürden. Da ist das Problem der Einschreibungspflicht, die es insbesondere am Land vielen Leuten schwer macht sich zu beteiligen. Trotz dieser Schwierigkeiten haben wir uns von Anfang an beteiligt und sind auch in Zukunft wieder bereit teilzunehmen, wenn auf unsere Forderungen eingegangen wird.

Sami Brahem: Es geht ihnen darum einen Wahlerfolg der islamischen Kräfte zu unterbinden. Die marxistischen, feministischen und laizistischen Fundamentalisten (wie die „Demokratischen Frauen“ oder die At-Tajdid wollen maximal kleine Verfassungsänderungen, sie wollen keine demokratische verfassunggebende Versammlung.

intifada: Gilt das auch für die PCOT oder ist mit dieser ein Block möglich?

Ajmi Lourimi: Unter der Diktatur gab es Kooperation gegen die Repression, für die politischen Gefangenen, die Bürgerrechte, gegen Korruption usw. nicht nur mit der PCOT, sondern auch mit anderen linken Kräften wie der PDP. Es gab sogar ein gemeinsames politisches Dokument, in dem wir uns über die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Frauenrechte, die Beziehung Religion-Staat verständigten.

Doch nach der Revolution bildete die PCOT die Front des 14. Januar – ein exklusiv linker Block –, während sich die PDP an der Regierung beteiligte. Der Dialog ist seither zum Erliegen gekommen.

Sami Brahem: Es gibt gegenseitigen Respekt zwischen Enahda und PCOT. Natürlich abgesehen von der Ideologie, können wir zu den unmittelbaren politischen Fragen viele Gemeinsamkeiten feststellen. Aber die PCOT zieht es vor mit der linken Familie zu gehen, deren einzige wirkliche Gemeinsamkeit es ist, gegen die Islamisten zu stehen. Letztlich ist ihre Basis sehr säkularistisch. Man muss die Politik desakralisieren, die bei den Marxisten noch geistlicher ist als bei den Islamisten.

intifada: Welche Antworten haben Sie auf die sozioökonomischen Schwierigkeiten, welche die Revolte mit ausgelöst haben?

Ajmi Lourimi: Wir glauben, dass es eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus gibt. Für uns ist die islamische Pflichtspende Zakat der entscheidende Pfeiler. Alle müssen ab einer gewissen Einkommensschwelle für einen Fond spenden, der nicht vom Staat verwaltet wird.

Grundsätzlich ist für uns die Schaffung von Reichtum kein Verbrechen, sondern eine Tugend. Aber natürlich sind wir gegen die extrem ungleiche Verteilung und für mehr soziale Gerechtigkeit. Wir brauchen Wachstum und Entwicklung, um Armut und Arbeitslosigkeit insbesondere auch in den unterentwickelten Regionen zu bekämpfen.

Demokratie heißt auch, dass wir unsere nationale Unabhängigkeit sicherstellen müssen. Der IWF und die internationalen Finanzinstitutionen haben zu viel Einfluss. Wir müssen ihnen ein anderes Entwicklungsmodell entgegenstellen. Unsere Wirtschaft ist zu stark auf Europa ausgerichtet. Wir sollten unsere Beziehungen zur arabischen Welt oder auch zu Afrika forcieren.

intifada: Was halten Sie von der Idee der Streichung der Staatsschuld, wie sie von Teilen der Linken propagiert wird?

Ajmi Lourimi: Wir können uns die Konfrontation mit unseren internationalen Partnern nicht leisten. Selbst unter Ben Ali eingegangene Verpflichtungen müssen respektiert werden.

intifada: Die ägyptischen Moslembrüder sprechen sich gegen Streiks als Mittel der Interessensvertretung aus. Sie auch?

Ajmi Lourimi: Streik ist ein legitimes Recht. Aber es darf nicht missbraucht werden und es gibt auch andere Mittel.

intifada: Viele islamische Kräfte haben den Nato-Krieg gegen Libyen begrüßt. Sie auch?

Ajmi Lourimi: Nein, wir sind gegen die Nato-Intervention. Aber wir sind für die Revolution und diese war mit friedlichen Mitteln offensichtlich nicht möglich.

Ajmi Lourimi ist Mitglied des Exekutivkomitees der Enahda und einer ihrer historischen Führer. Der Philosoph gilt als Vertreter des progressiv-liberalen Flügels. Zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte er siebzehneinhalb Jahre seines Lebens in den Gefängnissen Ben Alis und kam erst 2007 frei. Er übersetzte Jürgen Habermas ins Arabische.

Sami Brahem ist ein unabhängiger islamischer Intellektueller, der sich für die Historisierung der Scharia und damit ihre Anpassung an die Gegenwartsgesellschaft einsetzt.

Das Interview führte Wilhelm Langthaler