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“Syrischer Aufstand braucht zivilen Schutz, keine Intervention”
7. November 2011 - Hadidi Soubhi

intifada: Der 9. September 2011 wurde von den syrischen Aufständischen „Freitag des internationalen Schutzes“ getauft. Verlangen die Aufständischen in Syrien tatsächlich eine ausländische Intervention?

Soubhi Hadidi: Man muss zwischen internationalem Schutz durch Staaten und Regierungen einerseits und durch zivile Organisationen andererseits unterscheiden. Ersteren können wir nicht vertrauen, da sie in Sachen Menschenrecht mit zweierlei Maß messen und weil sie ihre eigenen Interessen haben. Zweiteres bedeutet, dass Nicht-Regierungsorganisationen wie z.B. Amnesty International, Human Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisationen ihre Beobachter schicken. Es bedeutet auch freie Bewegung und Berichterstattung für internationale (arabische und nicht-arabische) Medien. Ihre Präsenz in den unterschiedlichen syrischen Städten kann die Brutalitäten des Regimes signifikant eindämmen. Das ist etwas anderes als Hilferufe an die USA und die UNO, die keine selbstlosen Agenden haben.

intifada: Es gab von einigen Auslandsgruppen die Forderung nach Sanktionen gegen den syrischen Staat. Schließen Sie sich dieser Forderung an?

Soubhi Hadidi: Ich bin gegen derartige Sanktionen, weil sie mehr dem Volk als dem Regime schaden. Das Regime und die an es gebundenen Mafias können sich schnell an solche Situationen anpassen und ihre Gelder weitgehend in Sicherheit bringen. Die jetzigen westlichen Sanktionen sind kosmetisch, wenn nicht lächerlich und zeugen von der Heuchelei der westlichen Regierungen, die unter dem Druck der Öffentlichkeit den Schein wahren wollen. Andererseits können Sanktionen gegen regimenahe Personen effizienter sein. Ich meine hier Personen aus der Wirtschaft wie den Vorsitzenden der Handelskammer von Aleppo und mehrere Geschäftsmänner, die mit der polischen Macht alliiert bzw. verschwägert sind. Diese haben etliche Investitionen in Europa und können unter Druck gesetzt werden. Genau diese Personen zahlen die Gehälter der Schläger.

intifada: Es gab in den letzten Wochen mehrere Konferenzen der syrischen Opposition im Ausland, wobei mehrmals eine politische Vertretung des Aufstands gewählt bzw. ernannt wurde. Inwiefern vertreten diese Konferenzen den Volksaufstand im Inland?

Soubhi Hadidi: Die meisten dieser Treffen sind steril und bringen dem Aufstand mehr Schaden als Nutzen. Sie haben das Ziel, Oppositionsgruppen im Ausland zufriedenzustellen, die eigentlich keine Unterstützung im Inland haben, wie etwa die Moslembruderschaft und große Geschäftsmänner wie Sonqor. Ich finde, die Opposition im Inland ist in der Lage, wenn auch mit bescheideneren Mitteln, sich politisch zu artikulieren. Die Konferenzen im Ausland haben die Gruppen mehr gespalten als vereinigt. Sie rufen bei den Aufständischen im Inland vielfach Frustration hervor und haben andere negative Auswirkungen. Diese Schritte nützen dem Aufstand nicht.

intifada: Meinen Sie, dass solche Formationen nicht wirklich ernst zu nehmen sind?

Soubhi Hadidi: Im Gegenteil, sie sind sehr ernst zu nehmen, jedoch leider im negativen Sinne. Sie sind nicht nur keine Unterstützung des Aufstands, sondern eine Gefahr für ihn. Das ist sehr ernst zu nehmen. Sie spaßen nicht, wenn sie sich in Paris mit Zionisten vom Schlag eines Bernard Henry Levi treffen. Ihr Ziel ist es, einen Übergangs-, Koordinations- oder Nationalrat (wie auch immer sie ihn nennen mögen) zu ernennen, der seinen Weg zum Elisée, 10 Downing Street und zum Weißen Haus suchen wird. Sie wollen zum Gesprächspartner des Westens werden.

Ich möchte niemanden diffamieren oder des Verrats bezichtigen. Ich weiß, vielen liegt das Land am Herzen und sie haben eigentlich gute Absichten. Jedoch ist der Weg zur Hölle meistens mit guten Absichten gepflastert.

intifada: Wurden hier nicht Personen ernannt, die als Konsenspersonen gelten?

Soubhi Hadidi: Genau das ist einer der schädlichen Effekte. Personen, die bisher als Konsenspersonen galten, müssen sich nach solchen Ernennungen bemühen, alle zufrieden zu stellen. Jemand wie Burhan Ghalioun, der eine breite Anerkennung genießt, muss dann Kompromisse mit der Moslembrüderschaft schließen. Dadurch schweigt er zu politischen Themen, wo er Nein hätte sagen sollen. Das wandelt ihn von einer Konsens- in eine politisch angreifbare Person.

intifada: Was sind Ihrer Meinung nach die höchsten Prioritäten des Aufstands in Syrien sowie der Solidarität im Ausland?

Soubhi Hadidi: Die absolut höchste Priorität ist es, vor Ort die Kontinuität und das Andauern des Aufstands zu sichern und seine Fähigkeiten auszubauen. Z.B. wären logistische Unterstützung, medizinische Hilfe, sichere Häuser und effizientere Medien eminent notwendig. Im Ausland ist mediale Unterstützung hilfreich. Die größte Hilfe besteht jedoch darin, den Aufstand nicht durch nutzlose Konferenzen und Räte zu stören bzw. zu irritieren.

Medial muss betont werden: Die syrische Öffentlichkeit verlangt zivilen Schutz und keine staatliche Interventionen. Zivilschutz wäre im Moment sehr bedeutend, weil das Regime in seiner Todesagonie seine letzten und gröbsten Gewalttaten vollbringen wird. Priorität des Aufstands ist es, das Fortbestehen und die Einheit zu sichern.

Soubhi Hadidi musste als junger Aktivist der Syrischen Kommunistischen Partei – Politbüro (die heutige Demokratische Volkspartei, eine der bekanntesten Parteien der syrischen Opposition) mehrere Jahre im Untergrund leben, bis er in den 1980er Jahren floh. Er gilt als einer der führenden Figuren der oppositionellen „Pariser Gruppe“ des Komitees der „Damaskus Erklärung“ (2005). Hadidi ist Literaturkritiker. Er lebt derzeit in Paris.

Das Interview führte Ali Nasser