Header Image
Euro kaputt
21. Dezember 2012 - Stefan Hirsch

Anspruch und Realität des Euro
Erinnern wir uns. Was waren die Argumente für die Einführung der gemeinsamen Währung?

Erstens: Die Währungsunion würde eine weitere politische Einheit der EU nach sich ziehen – praktisch automatisch. Herausgekommen ist bisher das genaue Gegenteil, die Bevölkerung hat sich recht weitgehend vom Projekt der politischen Eliten abgewandt und die europäischen Institutionen spielen heute maximal die dritte Geige: die Kommission hinter den Nationalstaaten und diese hinter Deutschland. Merkel ist die Chefin des Orchesters, jeder Schein der demokratischen Legitimierung ist zerrissen – denn kein Mensch außerhalb Deutschlands kann Merkel wählen oder abwählen.

Zweitens: Die Währungsunion fördere die „Konvergenz“, das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Staaten. Herausgekommen ist das genaue Gegenteil. Die Währungsunion hat Südeuropa der Möglichkeit beraubt, mittels einer eigenständigen Währungspolitik dem deutschen Lohn­dumping und den veränderten internationalen Wettbewerbsbedingungen standzuhalten. Spanien, Italien und zunehmend auch Frankreich können dem chinesischen und osteuropäischen Druck in Produktionen mit mittlerem oder niedrigem Technologieniveau ob einer überbewerteten Währung nichts entgegensetzen. In ein höheres Techno­logie­niveau kann die europäische Peripherie dank der deutschen Niedrig­löhne nicht vorstoßen. Das Resultat ist die Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit, die Erosion der Industriestruktur, ein kreditfinanziertes Wachstumsmodell in den Jahren vor der Krise – und gewisse Schattierungen von Katastrophe seither.

Drittens: Der Euro führe zu einer Vertiefung des Finanzmarktes, höherer Liquidität und niedrigeren Zinsen – vor allem für die bis dahin von wiederkehrenden Abwertungen betroffenen Staaten der südlichen Peripherie. Er stabilisiere Bankensysteme und Währungen und vereinfache die Finanzierung. Eine Zeitlang hat sich das als korrekt erwiesen. Zinsraten haben sich tatsächlich im gesamten Euroraum nach unten angeglichen, für Südeuropa gab es Währungsstabilität. Das hat auf der einen Seite den kreditgestützten Konsum- und Immobilienboom verstärkt, aber es war auch ein zentraler Vorteil der Eurozone. Die Sorge um die Stabilität der Währung ist es auch, die etwa die griechische Bevölkerung trotz der gigantischen Katastrophe weiter zu einem Fan der Währungsunion (oder wenigstens ihrer Währung) macht.

Tatsächlich sind diese Vorteile aber vorbei: Der Markt für Staatsanleihen ist vollständig fragmentiert und für die Staaten der Peripherie wenig liquid. Die Zinsen bewegen sich auseinander. Die grenzüberschreitende Aufstellung der großen Bankkonzerne erhöht das systemische Risiko in der jetzigen Finanzkrise. Dem italienischen, spanischen wie griechischen Bankensystem droht – wie alle Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg – wieder ein plötzlicher Abfluss der Einlagen über die Grenzen, nach Deutschland. Nur dass der Euro solch eine Kapitalflucht noch erleichtert. Tatsächlich zeigt diese Entwicklung, dass eine Auflösung der Eurozone mittlerweile für möglich gehalten wird. Allein diese Möglichkeit ist eigentlich genug: Der Euro ist keine echte Währungsunion mehr, die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines Austritts einzelner Mitgliedsstaaten macht ihn stattdessen zu einem Sonderfall fixer Wechselkurse. Eine Währungsunion mit Ablaufdatum macht es wenig attraktiv Bankguthaben in den Ländern der Peripherie zu halten.

Damit hat Südeuropa die Nachteile einer Währungsunion, vor allem die Probleme bei der Anpassung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig gibt es keine Vorteile mehr. Unter dem Strich: Wenn es keine fundamentale Änderung gibt, wird die Währungsunion früher oder später das tun, was die Finanzmärkte beginnen vorwegzunehmen: Zerfallen.

Tatsächlich gibt es unterschiedliche Entwicklungsrichtungen, welche die Eurozone einschlagen kann. Diese sind von den Kräfteverhältnissen auf dem Kontinent abhängig und im Großen und Ganzen unterschiedlichen politischen Kräften zuzuordnen.

Triumph des liberalen Populismus – Zerfall durch Inkompetenz
Wer glaubte (und das schließt den Autor dieser Zeilen ein), dass Europa vom Finanzkapital beherrscht wird, sieht sich heute eines Besseren belehrt. Immer wenn Angela Merkel ihren Standpunkt wieder einmal durchgesetzt hat, verliert der deutsche Aktienindex drei bis zehn Prozent, wirkt sie einmal nachgiebiger, geht es im selben Ausmaß nach oben.

Die offizielle Krisenantwort der Eurozone wird heute von einer Gruppe ultraliberaler Populisten geführt. Statt Schulden- und Kreditbonanza werden die alten Werte des Liberal-Konservativismus wieder entdeckt: Sparsamkeit, Fleiß, Eigenverantwortung. Natürlich gibt es keine chinesische Mauer zwischen der deutschen Bundesregierung und der Finanzmarktoligarchie. Gespart wird in erster Linie auf Kosten der Allgemeinheit und der Ärmsten, die wirklich Reichen werden im Endeffekt immer gerettet. Dennoch ist die europäische Krisenpolitik nicht einfach ein Ausfluss des Willens des Deutschen Bankenverbands. Viel eher scheint sie auf einen gesetzten Mittelstand zugeschnitten.

Der Vorteil der Merkel’schen Krisenantwort ist ihre leichte Verständlichkeit. Das Problem wiederum liegt in der völligen Inkompetenz: Konsequent zu Ende geführt, bringt der liberale Populismus den Zerfall der Euro-Zone.

Tatsächlich gibt es keine – oder keine funktionierende – Antwort auf die zentralen Problemfelder: Zuerst ist Merkel völlig unfähig die Finanzmarktpanik zu kontrollieren, die Südeuropa in die Insolvenz reißt. Dort, wo es doch Erfolge gibt, müssen diese gegen deutschen Widerstand durchgesetzt werden. Auf das zweite große Problem, die fehlende internationale Konkurrenzfähigkeit der südeuropäischen Volkswirtschaften, gibt es ebenfalls keine funktionierende Antwort. Einzig ein Programm der inneren Abwertung soll es richten: Sparmaßnahmen, fallende Preise und Löhne müssen die Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen. Ganz abgesehen davon, dass griechische Schulkinder mittlerweile vor Hunger umfallen und die gesamte Eurozone durch den Nachfrageschock in eine schwere Rezession gedreht wird, macht die sinkende Wirtschaftsleistung auch die Schulden von Staat, Unternehmen und Haushalten untragbar. Tatsächlich wird jede neue Krisenrunde der spanischen Staatsfinanzen durch ein neu verkündetes Sparpaket eingeleitet, weil auch „den Märkten“ klar ist, dass Haushalte ohne Geld ihre Bankkredite nicht mehr bedienen können und die umfallenden Banken erst recht dem Staats­budget umgehängt werden.

Kurz: Der „Fiskalpakt“, die Blut-und-Tränen-Rhetorik, das Bekenntnis zum Schuldenabbau – das soll deutsche Kleinunternehmer überzeugen. Aber es funktioniert nicht.

Der oligarchische Keynesianismus und die Spardiktatur als Kompromiss
Wir kommen zur originären Antwort des Finanzkapitals, die mit dem Problem kämpft; von der deutschen Bundesregierung nicht akzeptiert zu werden. Sonst sind alle dafür: Barak Obama, Frankreich, der Internationale Währungsfonds, alles, was der angelsächsische Mainstream der Volkswirtschaftslehre zu bieten hat, die Financial Times, sogar die Führung der Europäischen Zentralbank – wenn nur die unbequeme deutsche Bundesbank nicht wäre.

Während Merkel eher den Gott des Alten Testaments abgibt, die Welt in Fleißige und Sünder einteilend und die Sünder strafend, sehen wir jetzt eine Variante des Neuen Testaments. Herbeigerufen wird ein gütiger Gott, zumindest zur Hälfte: „Vergib uns unsere Schuld, auch wenn wir niemandem seine Schulden erlassen.“ Die Krise möge im Geld ertränkt werden, möglichst im Geld anderer Leute, die privaten Risiken des Finanzsystems sollen verstaatlicht werden.

Vorschläge gibt es viele: Eurobonds – damit übernimmt Deutschland die Schulden des Finanz­sektors in der krisengeschüttelten Peripherie. Die EZB möge zur Stabilisierung des Marktes ohne Limit Banken mit gratis Zen­tral­bank­geld versorgen oder gleich selbst spanische und italienische Staatsanleihen aufkaufen. Oder die EZB möge alle Bank­einlagen der gesamten Eurozone ohne Limit garantieren. Damit übernimmt die Zentralbank die privaten Risiken – langfristig müsste diese dann wieder gerettet werden (Deutschland zahlt), oder die überschüssige Liquidität befördert neue Vermögens­preis­blasen.

Im Gegensatz zu den liberalen Populisten sitzen die Keynesianer auf wirtschaftspolitischen Rezepten, die tatsächlich funktionieren. Die wiederholte Rettung des Finanzsystems und seiner Oligarchen ist wahnsinnig teuer, aber sicher billiger als der Zusammenbruch, den die liberale Orthodoxie erzeugt.

Tatsächlich sieht man: Immer wenn die Eurozone am Abgrund steht, muss Deutschland nachgeben, die EZB packt den Vorschlaghammer aus und rettet den Tag. Bis die nächsten Probleme auftauchen. So sind die weiteren Schritte des Tanzes schon vorprogrammiert: Die Griechenland-Krise wird den schleichenden bank run in Südeuropa immer weiter beschleunigen, Deutschland wird sich einer Vergemeinschaftung von Bankschulden verweigern, das Ganze auf die lange Bank schieben und unerfüllbare Vorbedingungen einfordern. Aber kurz bevor das europäische Bankensystem tatsächlich zusammenbricht, wird die EZB mit frischem Notenbankgeld und noch weiter reichenden Garantien das Vertrauen wieder herstellen. Wenigstens für ein paar Monate.

Tatsächlich liegt im Kompromiss zwischen Merkel, Frankreich und der Europäischen Zentralbank eine mittelfristige Lösung begraben – allerdings eine Lösung die man nach besten Kräften bekämpfen sollte.

Die Europäische Zentralbank wird die Erlaubnis bekommen die Finanzoligarchie mit unbegrenztem Zentralbankgeld zu retten, möglicherweise kommt auch die banking union; die gemeinsame Haftung für Bankeinlagen. Frankreich bekommt irgendeine Form von staatlicher Konjunktur­hilfe für Südeuropa zugesagt, wahrscheinlich in der Form europäischer Finanzierung einzelner Projekte. Dadurch entstehen natürlich auch Staatsschulden, aber es sind Schulden, für die Deutschland haftet und die nicht zu den nationalen Defiziten dazugerechnet werden (ähnlich den verschiedenen Rettungsschirmen). Damit kann der Anschein der Sparsamkeit gewahrt bleiben. Und Deutschland bekommt Schritte Richtung Fiskalunion. Unter „Fiskal­union“ kann man einfach Spardiktatur verstehen. Ähnlich dem bereits aufgelegten Fiskalpakt bedeutet das eine Zwangsjacke für die nationalen Budgets, eine Koordinierung der Budgetpolitik, aber nicht für eine gemeinsame Nachfragestärkung, sondern zur weiteren Zerschlagung des Sozialstaats.

Damit wird die Oligarchie und der Finanzmarkt gerettet, es zahlen die Allgemeinheit und die Ärmsten. Wenn die Bankenhilfen ausreichend hoch sind, ist ein solches Paket in der Lage die Eurozone wieder zu stabilisieren. Für wie lange, das lässt sich schwer sagen. Die grundlegenden Probleme Süd­europas werden damit nicht beseitigt, denn die italienische und spanische Konkurrenzfähigkeit lässt sich nicht ausschließlich durch Sparmaßnahmen wiedergewinnen. Die Krise der Eurozone wird also wieder hochkochen – vielleicht mit noch mehr politischer Sprengkraft, weil in der nächsten Runde Deutschland tatsächlich für alle möglichen Dinge haftet. Und es ist auch zu hoffen, dass solch ein Kurs am Widerstand der Bevölkerungen zusammenbricht.

Das soziale Europa
Ohne durch die ideologischen Scheuklappen der Ultraliberalen am Denken gehindert zu werden, kann das, was wir „oligarchischen Keynesianismus“ genannt haben, relativ weit nach links geöffnet werden. Hin zu Programmen, die durchaus auch Gewerkschaften unterschreiben können: Die Sparpolitik in Südeuropa muss gelockert werden, zur Bekämpfung der Ungleichgewichte des Außenhandels soll Deutschland höhere Löhne und höhere Inflationsraten zulassen. Südeuropa soll mit einem „Marshallplan“ unter die Arme gegriffen werden. Die Financial Times, das Sprachrohr der Großbourgeoisie, ist heute tatsächlich eher an nachfrage­orientierter Wirtschaftspolitik interessiert, als die öster­rei­chi­sche Sozialdemokratie.

Das ist tatsächlich für sich bedeutsam und grundsätzlich positiv: Es zersetzt die neoliberalen Mythen der letzten dreißig Jahre, vor allem jenen besonders mächtigen, dass Wachstum nur durch Standortkonkurrenz und Lohnverzicht zu haben sei. Dagegen taucht eine etwas banale Wahrheit wieder auf: Wer Wachstum möchte, der muss auch für Nachfrage und steigende Löhne sorgen.

Die europäische Linke ist durch den oligarchischen Keynesianismus versucht. Gibt es nicht die Möglichkeit einen anderen Kompromiss zustande zu bringen? Gibt es nicht die Möglichkeit die Fiskalunion weg von der Spardiktatur, hin zur gemeinsamen Nachfragesteuerung zu interpretieren? Gerade die poststalinistische Linke und große Teile der Gewerkschaftsbewegung tendieren schon lange in diese Richtung. Auf einmal sagen auch amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger ähnliche Dinge. Kann man sich ein „soziales Europa“ vorstellen?

Vorstellen kann man sich alles. Deutschland lässt das Lohndumping bleiben und sorgt für ausreichende Binnennachfrage. Südeuropa wird durch großzügige Transfers stabilisiert – die auch noch so treffsicher sind, etwa im Bereich Bildung und Infrastruktur, dass sie steigende Wettbewerbsfähigkeit ohne Lohneinbußen ermöglichen. Hier wären wir ein bisschen skeptisch, Transfers haben noch nie funktioniert, aber führen wir den Gedanken des sozialen Europas einmal zu Ende. Die Finanzmarktpanik wird durch staatliche Regulierung und haufenweise Zentralbankgeld beendet, die Staatsschulden durch Vermögenssteuern reduziert. Oder man lässt die Staatsschulden noch ein bisschen steigen. Wenn der institutionelle Rahmen stabil ist, etwa durch eine gemeinsame Haftung der Eurozone, stellen auch etwas höhere Schulden kein Problem dar. Das viele Zentral­bank­geld erzeugt möglicherweise irgendwann Inflation, vielleicht auch nicht, in jedem Fall ist das in einem Umfeld steigender Löhne nicht besonders tragisch und hilft außerdem beim Schulden­abbau.

Das Ganze ist nicht unattraktiv: Damit hätte man die Sicherheit der Sparbücher hergestellt, auch noch höhere Löhne, wenigstens in den Zentrums­ländern. Man erspart sich große politische und institutionelle Brüche. Auf solche Brüche haben im wohlhabenden Europa wenige Lust, und das erklärt die Popularität eines Programms des sozialen Ausgleichs innerhalb der EU und Eurozone, etwa in Griechenland, wo die Mehrheit unbedingt innerhalb der Euro­zone bleiben will.

Unter anderen Bedingungen, etwa nach dem zweiten Weltkrieg, war der Kapitalismus einmal zu solchen Kompromissen bereit. Aber heute? Welche echten intellektuellen Erkenntnisse der ökonomische Mainstream in den letzten Jahren seit der Finanz­krise auch gewonnen hat, ein Programm der Umverteilung läuft letztlich gegen die Interessen der Oligarchie, die auf so etwas keine Lust hat.

Man blicke nur auf den Geifer, mit dem das griechische Wahlergebnis kommentiert wird. Die Situation ist praktisch absurd: Jeder weiß, dass die Härte der griechischen Sparprogramme sinnlos und nicht durchzuhalten ist. Jeder weiß, dass Griechenland seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Die nächste Tranche „Finanzhilfe“ bezahlen sich die internationalen Gläubiger de facto selbst. Das allermeiste Geld geht in den Zinsen- und Schuldendienst und kommt dort zur EZB und anderen öffentlichen Kreditgebern. Aber dennoch: Wenn eine Schuldenstreichung von Unten gefordert wird, aus den Spielregeln der Oligarchie ausgebrochen wird, dann ist Feuer am Dach. In deutschen Wirtschaftsinstituten wird ein EU-Protektorat gefordert (klingt besser als Kolonialregime). Letztendlich kann man sich ein sehr soziales Europa zusammenträumen, bekommen wird man es wohl nicht.

Das soziale Europa ist nichts, was man frontal bekämpfen müsste, aber es wird sich als Illusion erweisen. Eine Währungs- und Fiskalunion lässt sich grundsätzlich als Ort des sozialen Ausgleichs und der koordinierten Nachfragesteuerung konzipieren, aber Standortkonkurrenz und Lohndumping sind Teil der DNA der real existierenden Eurozone. Schon bei seiner Einführung wurde der Euro als Druckmittel für „vernünftige“ Wirtschaftspolitik verstanden. Weil Auf- und Abwertungen eben nicht mehr möglich sind, verschafft das Lohndumping bleibende Wettbewerbsvorteile. Die verschärfte Standortkonkurrenz ist eine der Grundlagen der Währungsunion. Man könnte sagen, dieses Ziel hat zu gut funktioniert, gegenüber Deutschland sind einige Standorte nicht mehr konkurrenzfähig. Die Eurozone zerbricht an ihrem eigenen Erfolg.

Europa neu
Wenn sich das soziale Europa als Illusion erweist, gilt es Alternativen aufzuzeigen. Alternativen zu den Stabilisierungsprogrammen der Oligarchie, die auf die Enteignung der Allgemeinheit hinauslaufen, aber auch Alternativen zum totalen Chaos, das ein Zerfall des Euro liefern kann: Opposition von unten und bewusste Desintegration. Es geht darum, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Erstens: Das Schicksal in die eigene Hand nehmen: Südeuropa kann und muss sich selber helfen. Die finanziellen Vermögen italienischer Haushalte betragen 170 Prozent des BIP, weit mehr als die Schulden des Staates, und ein Wert, der höher als in Deutschland ist. Auf solche Dinge kann und muss zugegriffen werden. Die Schulden Süd­europas sind nach nationalem Gesetz ausgegeben, solch ein Gesetz kann geändert werden. Schulden, die zu hoch sind, muss man reduzieren. Beides ist nicht besonders radikal, es entspricht einer jahrhundertelangen Tradition der „Staatsraison“ und dem Insolvenzrecht.

Eine kaputte Bank muss nicht gerettet werden. Wenn Spanien die hundert Milliarden Euro, die sein Finanzsystem zur Konkursabwendung angeblich noch benötigt, in die Kapitalisierung von neuen Banken stecken würde (statt sie den internationalen Gläubigern des spanischen Bankensystems in den Rachen zu stopfen), könnten damit 1000 Milliarden neue Kredite vergeben werden. Mehr als genug.

Kurz: Eine Verschuldungsfalle ist kein Sachzwang, sondern eine Frage des politischen Willens, des Willens, die Vermögenden und das internationale Bankensystem bezahlen zu lassen. Es stellt sich dabei die Frage, ob eine solche Politik mit dem Verbleib in der Eurozone zu vereinbaren ist. Man muss sich bewusst sein, dass die EZB über ein sehr einfaches Druckmittel verfügt: Sollte sie die Refinanzierung des Bankensystems einstellen (bei einem einseitigen Schuldenschnitt ist davon mit Sicherheit auszugehen), kann selbiges nicht mehr richtig funktionieren. Dann braucht man eine eigene Zentralbank.

Zweitens: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit muss wieder hergestellt werden. Das ist ein Widerspruch zu dem zuvor Gesagten, wo wir uns gegen den Kult der Wettbewerbsfähigkeit, den Kernmythos des Neoliberalismus, gestellt haben. Die Gesamtsumme von „Wettbewerbsfähigkeit“ ist immer null. Wettbewerbsfähigkeit ist ein relativer Wert. Was einer gewinnt, verliert ein anderer.

Dennoch führt ein dauerhafter Verlust von Wettbewerbsfähigkeit in die Katastrophe und die völlige Peripherisierung. Sollten die europäischen Kernländer ihre Politik des Lohndumping nicht aufgeben, dann muss die Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas über Einkommensverluste der Haushalte hergestellt werden. Daran führt kein Weg vorbei und grundsätzlich passiert dieser Vorgang durch die „Strukturanpassungsprogramme“ und „Sparmaßnahmen“ in Griechenland, Spanien und Italien augenblicklich auch.

Aber bisher werden vor allem Lohn- und Arbeitseinkommen gedrückt. Während die Löhne sinken, bleiben Zinszahlungen für Schulden gleich, die Mieten sinken auf Grund schrumpfender Nachfrage, aber keinesfalls automatisch. Die Bevölkerung zahlt, Vermögen und Kapitaleinkommen werden geschützt. Dagegen gibt es zwei Möglichkeiten: robuste staatliche Eingriffe in die Preisbildung oder die Abwertung einer neu geschaffenen nationalen Währung. Damit fallen alle Einkommen einheitlich.

Abwertung ist naturgemäß mit dem Euro-Austritt verbunden, robuste staatliche Eingriffe in Mietpreise und Kreditraten widersprechen dem EU-Recht. Und bei einem Austritt aus dem Euro werden die Inflationsraten wenigstens kurzfristig nach oben schnellen. Es gilt sicher zu stellen, dass nicht wieder die Ärmsten die Opfer steigender Lebenshaltungskosten werden. Heißt: entweder soziales Massaker oder Konfrontation mit den Eliten und der EU.

Was wir mit Sicherheit ausschließen würden, ist die Möglichkeit einer Politik, die einfach den Status quo vor den großen Sparpaketen herstellt. Es gibt einfach keine Möglichkeit die dann anfallenden Außenhandelsdefizite zu finanzieren.

Drittens: Keine „Hilfe“, keine Transfers. Was ist der Inhalt der aktuellen „Hilfspakete“? Aus Schulden des Bankensystems werden Staatsschulden, dann brechen die Staaten ebenfalls zusammen (bisher Irland, Portugal, Griechenland, und Spanien ist nur mehr eine Frage der Zeit) und werden von den Staaten des europäischen Zentrums und dem IWF aufgefangen. Erst eine Verstaatlichung, dann eine Vereurozonung privater Risiken. Die Schulden werden dabei aber nicht gestrichen, nur die Gläubiger wechseln, von privaten zu öffentlichen Institutionen. Und diese beginnen rabiate Sozialabbauprogramme durchzusetzen. Aber wenn Schulden zu hoch sind, muss man sie streichen, nicht neu verteilen. Man muss den Mut haben zu sagen: „Behaltet euer Geld.“

Ähnliches gilt für einen europäischen Marshallplan oder andere öffentliche Transfers in die Peripherie. Jeder ohne entsprechende Gegenleistung einsetzende Geldzufluss, sei es der Zustrom von privaten Finanzanlagen, Hyperrenditen aus dem Erdöl- oder anderem Rohstoffexport, öffentliche Transfers, all das schafft Strukturen der Abhängigkeit. Die aktuelle Krise Südeuropas hängt am einstmals überreichlichen Zufluss von Kapital in das Bankensystem. Sie lässt sich nicht lösen, wenn die privaten durch öffentliche Transfers ersetzt werden. Südeuropa braucht Unabhängigkeit und eigenständige Entwicklung sowie ein europäisches Zentrum, das für ausreichende Nachfrage sorgt, statt über große Außenhandelsüberschüsse die Nachfrage anderer Staaten zu parasitieren. Almosen sind nicht notwendig.

Viertens: Selbstorganisation. Ob durch einen bewussten Bruch mit der Oligarchie und der EU oder durch ein katastrophales Auseinanderfallen des Euro, ganz Europa steht vor einem gewaltigen Einschnitt. Die Bevölkerung aller Staaten muss sich vor seinen Auswirkungen schützen, sich selbst organisieren. Im von der Krise gebeutelten Griechenland entstehen bereits Strukturen der Nachbarschaftshilfe, in denen sich Menschen mit dem Notwendigsten gegenseitig versorgen, darauf achten, dass kein Kind Hunger leidet und der Müll nicht liegen bleibt. Natürlich sind das aus großer Not geborene Strukturen, aber sie sind auch emanzipatorisch, weil sie den Menschen Kontrolle über ihr Schicksal zurückgeben. Das muss mit einem Staat, der die Neustrukturierung der Wirtschaft einleitet, kombiniert werden. Weg von der Finanzdienstleistung, zurück zur Produktion. Weg von der Alimentierung der Super­reichen, hin zur Demokratisierung der Gesellschaft.

Fünftens: Ein neues Europa. Ein Kontinent, der wirtschaftlich und gesellschaftlich so tief verflochten ist wie Europa, benötigt einen gemeinsamen Ordnungsrahmen. Statt dem Europa der Standortkonkurrenz, der Eliten und der Herrschaft der westeuropäischen Zentrumsstaaten brauchen wir ein Bündnis der Demokratie, der Nachfrage­steuerung und der sozialen Entwicklung. Wir sind uns sicher, dass sich die EU in ein solches nicht transformieren kann. Aber die Katastrophe der Eurozone wird eine Neuorganisation des Kontinents auf die Tagesordnung setzen.