Header Image
Europa – was jetzt?
12. Oktober 2009 - Stefan Hirsch

An der Oberfläche ist die Krise gar nicht so leicht zu entdecken, denn in den meisten Staaten fehlt es an echter Opposition, was das Weiterwurschteln erleichtert. Dennoch treten einige Erosions- und Verfallserscheinungen ganz deutlich zu Tage. Das bedeutet übrigens nicht unbedingt eine revolutionäre Krise und auch keine automatische Tendenz zur Überwindung des Kapitalismus. Wir sind uns allerdings sicher, dass in den nächsten Jahren von breiten Teilen der Bevölkerung Antworten auf diese Krise gesucht und geschaffen werden. Es ist die Aufgabe einer antikapitalistischen Opposition, sich in dieses Spiel einzubringen.

1. Eine wirtschaftliche Strukturkrise

Die Europäische Wirtschaft befindet sich in strukturellen Schwierigkeiten, und das nicht erst seit Ausbruch der Krise. Spanien, Großbritannien und Osteuropa haben in den letzten Jahren eine starke Entwicklung des Privatkonsums aufgewiesen und auch Beschäftigung aufbauen können. Die Finanzkrise hat allerdings gezeigt, dass das nur über extrem hohe Kreditvergabe und in der Folge ein gehöriges Leistungsbilanzdefizit mit dem Ausland möglich war – Wachstum, aber nicht nachhaltig. Deutschland ist Exportweltmeister, aber seit Jahren nicht mehr in der Lage, Wachstum zu generieren. Die Weltwirtschaftskrise zeigt jetzt das Ende dieser Wachstumsmodelle: Den Schuldnerländern geht der Kredit aus, Deutschland wird seine Exporte nicht mehr los. Die einzigen Länder Europas, die weder völlig anämisches und außenabhängiges Wachstum, noch extreme Ungleichgewichte des Außenhandels aufgewiesen haben, sind Frankreich, die skandinavischen Staaten, sowie Österreich. Seit dem Beginn der 1990er Jahre bleibt aber das Wachstum der gesamten EU deutlich hinter jenem der USA zurück – von den aufsteigenden Volkswirtschaften Asiens gar nicht zu reden.

Die Schwierigkeiten gehen weiter. Die EU-Propaganda, aber auch viele Volkswirte, erzählen eine Geschichte wirtschaftlicher Konvergenz der EU – wegen Binnenmarkt, Währungsunion und der Versuche der Koordinierung der Wirtschaftspolitik würden die Volkswirtschaften Europas immer weiter zusammenwachsen, ihre wirtschaftlichen Strukturen sich angleichen. Das mag für eine ganze zeitlang richtig gewesen sein, seit der Jahrtausendwende ist es falsch. Auch und gerade innerhalb der Eurozone fallen Wachstum, Inflation und Produktivitätsentwicklung immer weiter auseinander, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Konkurrenzfähigkeit der jeweiligen industriellen Apparate. Während die Produktivität (Leistung eines Beschäftigten) in Deutschland und Skandinavien langsam, aber doch zugenommen hat, ist sie in den Anrainerstaaten des Mittelmeers schon vor der Finanzkrise sogar gesunken (angesichts des gegebenen technischen Fortschritts ein ungewöhnlicher Vorgang.) Seit Einführung des Euro bis 2007 ist die Konkurrenzfähigkeit etwa der italienischen Industrie (gerechnet in Lohnstückkosten) gegenüber der deutschen um 17 Prozent gefallen. Langfristig wird die Eurozone solchen Spannungen nicht standhalten können und auseinander brechen. Eine Verschärfung der Weltwirtschaftskrise könnte deren Ende relativ bald einläuten.

Scheinbar handelt es sich in unterschiedlichen Ländern um unterschiedliche Probleme, die jedes einer eigenen Lösung bedürften, aber das stimmt nur zum Teil. Tatsächlich gerät Europa (weniger die Oligarchie, wohl aber die Bewohner des Kontinents) zunehmend unter die Räder der Globalisierung. Was in den letzten Jahren geschehen ist, ist sowohl der Verlust der Kapazität, selbstständig Wachstum zu erzeugen (die europäische Konjunktur verläuft seit Jahren synchron mit den USA, allerdings bei schwächerem Wachstum), als auch der zunehmende Verlust internationaler Konkurrenzfähigkeit. Während sich die USA über ein de facto Monopol der Kernbereiche der Informationstechnologien und neuer Dienstleistungen fest an die Spitze der internationalen Arbeitsteilung gesetzt haben, befindet sich Europa (auch Deutschland) zunehmend in einem Segment mittlerer Technologie. Und in diesem Bereich gibt es wenig, was man nicht auch in China oder Indien bauen könnte. Vielleicht symptomatisch ist der Bereich der Umwelttechnologie und der erneuerbaren Energie, die als Träger einer „grünen Revolution“ und Hunderttausender neuer Arbeitsplätze fantasiert werden. Tatsächlich wurde der dänische Windturbinenbauer Vestas schon vor einiger Zeit durch einen indischen Konkurrenten übernommen, und die deutsche Solarindustrie wird im Augenblick von chinesischer Konkurrenz überrollt. Die Chinesen zahlen nicht nur geringere Löhne, sie haben auch mehr Erfahrung in Kostensenkung durch sehr hohe Stückzahlen und obendrein die robuste Unterstützung der Regierung. Und letzten Endes benötigt man keinen Nobelpreis, um Solarpanele zusammenzuschrauben.

2. Eine Krise der Perspektive

Der Abstieg (West-)Europas ist dabei kein unaufhaltsames Naturgesetz. Selbst der mittlerweile nur mehr halbliberale Mainstream legt wenigstens teilweise brauchbare Konzepte vor: enorme Anstrengungen müssten unternommen werden um den Technologiegehalt der europäischen Produktionsstruktur zu erhöhen und dessen Diffusion innerhalb der EU zu beschleunigen. Eine Koordinierung europäischer Wirtschaftspolitik in diesem Sinne müsste erfolgen. Die stärker linkskeynesianisch Orientierten fordern einen gewissen sozialen Ausgleich, um den privaten Konsum zu stärken. Und einige sind auch in der Lage, beide Elemente zusammenzusetzen – weil der über mehr Privatkonsum gestärkte Binnenmarkt tatsächlich eine Voraussetzung ist für die Verbreitung technologieintensiver Produktion und der begleitenden Dienstleistungen. In einem deflationären und von hohen Überkapazitäten gekennzeichneten Umfeld werden die notwendigen Investitionen einfach nicht unternommen werden, ein zu kleiner und zu wenig dynamischer Markt verhindert das Einsetzen von Effekten der Massenproduktion, was wiederum internationale Konkurrenzfähigkeit verhindert.

Alle Schwierigkeiten sind überwindbar, aber einiges spricht dafür, dass sie in diesem Fall eben nicht überwunden werden können. Warum? Eine neue Produktionsstruktur mit erhöhtem Technologiegehalt bräuchte gigantische Ressourcen. Angesichts der aktuellen staatlichen Überschuldung müsste man die Massensteuern massiv anheben und damit die Binnenkonjunktur abdrehen, um diese aufzustellen – eine Strategie, die sich selbst behindert, denn die Binnenkonjunktur ist essentiell für eine Höherentwicklung des Produktionsapparates. Andernfalls müsste man die Oligarchie zahlen lassen, über Kapital- Unternehmens und Vermögenssteuern. Die hat aber keine Lust zu zahlen. Genauso wenig ist bis dato auch nur der geringste Ansatz zu nachhaltigerer Umverteilung zu erkennen oder so etwas wie die Bereitschaft, auch nur ein Jota vom Regime des Freihandels abzurücken.

Stattdessen hört man aus den europäischen Zentren der Macht immer nur ein „weiter wie bisher“, was letzten Endes auf eine Radikalisierung der neoliberalen Katastrophe hinausläuft. Deutschland hofft, dass die Welt in 2 Monaten wieder wie früher werde, dann könne man damit fortfahren, zu Hause Löhne zu kürzen, alles kaputt zu sparen, und die Industrieerzeugnisse im Ausland abzusetzen – eine wirklich verzweifelte Dummheit, das „deutsche Modell“ hat ja auch vor der Finanzkrise nicht funktioniert. In Südeuropa schließlich möchte man Deutschland nacheifern, die Exportindustrie per Kostensenkung wieder flott bekommen, den Staatshaushalt durch Einsparungen sanieren. Eine fast noch größere Verzweiflung: Lohnkürzungen und staatliche Sparmaßnahmen entziehen der angeschlagenen Wirtschaft weitere Kaufkraft. Sollte solch ein Kurs gelingen, bricht der europäische Binnenmarkt völlig zusammen, weil gar niemand mehr irgendetwas kauft. Sollte diese Rosskur nicht gelingen, so ist das langfristig das Ende der Euro-Zone, weil zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit dann eine Währungsabwertung erfolgen muss – und die gibt es nur per Austritt aus der Währungsunion. Letztlich ist eine Auflösung der Euro-Zone (oder zumindest ihre Schrumpfung) auch aus kapitalistischer Perspektive wahrscheinlich das Vernünftigste, die einhergehenden Finanzmarkts- und Währungsturbulenzen wären allerdings gewaltig.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Probleme Europas damit viel tiefer gehen, als jene der USA. Natürlich: die USA sind immer noch das Zentrum der Wirtschaftskrise. Aber die Perspektiven sind dennoch besser. Die USA sind immer noch die Spitze der internationalen Arbeitsteilung. Und die amerikanischen Eliten scheinen durchaus zu einer inflationären Politik bereit: Höhere Konkurrenzfähigkeit durch Abwertung des Dollars und die Bereitschaft, so viel Geld zu drucken wie notwendig, um eine Spirale sinkender Preise zu durchbrechen (und damit auch gleich die Staatsschulden zu entwerten.) Auch die USA haben eine Führungskrise, aber diese ist nichts im Vergleich zur europäischen Perspektivlosigkeit.

3. Eine Krise der Eliten

Die Krise europäischer Wirtschaftsstruktur wird ergänzt durch eine Krise der europäischen Eliten. Kurz zusammengefasst: Der Oligarchie fehlt die Kraft, ihre eigene Gier ein wenig zu kontrollieren und ein wenig strategische Vision zu entwickeln, die über den Augenblick hinausgeht. Was soll denn aus der EU werden? Oder aus Deutschland? Natürlich, es gibt militaristisch-imperialistische Träume, die eine europäische Großmacht sehen, mit Truppen und Bomben in der ganzen Welt. Aber die Hauptströmung der europäischen Eliten ist damit zufrieden, der amerikanischen Außenpolitik zu sekundieren. Andere träumen vom „sozialen Europa“ – mit noch weniger Durchsetzungsvermögen. Der österreichische Altbundeskanzler Schüssel hat vor einigen Jahren den denkwürdigen Ausspruch getätigt, seine Vision für Österreich sei es, in der EU überall zu den „ersten drei“ zu gehören. Das ist wenigstens leicht verständlich, aber welches gesellschaftliche Ideal soll sich denn angesprochen fühlen, wenn der einzige Sinn der Politik es ist, konkurrenzfähiger zu sein als Dänemark, Ungarn oder Buxtehude?

Unter solchen Voraussetzungen werden Wahlen immer lächerlicher. Es gibt nicht nur kaum echte Opposition zur Auswahl, der offizielle Einheitsbrei hat eigentlich auch gar nichts zu sagen – außer „wählt uns, wir wollen Macht und Posten“. Dem Wähler erscheinen die Parteien im Zentrum der Macht, die tatsächlich eine Regierung bilden könnten, als klientelistische Netzwerke. Es geht nicht um unterschiedliche Visionen, wie die Welt zu gestalten sei. Ein Blick auf die österreichischen Großparteien, SPÖ und ÖVP: Beide sind für einen menschlichen und sozialen Kapitalismus, möchten diesen aber nicht durchsetzen. Beide wollen das Fremdenrecht verschärfen und folgen der üblichen Sicherheits-Paranoia bei der Kriminalitätsbekämpfung. Beide reden vom Klimaschutz und unternehmen nichts. Beide wollen die „große Verwaltungsreform“ und können diese wegen Sonderinteressen in den eigenen Reihen nicht verwirklichen. Mit dem letzten Beispiel haben wir uns bereits auf eine ganz lächerliche Ebene begeben: In Österreich fällt nicht nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen flach, man kann nicht einmal über idiotische Dinge wie eine Umgestaltung der Bürokratie abstimmen.

4. Enter the Clowns

Der sichtbarste Ausdruck der Krise der europäischen Eliten ist dabei das Abgleiten der Politik in das Grotesk-Komödiantische. Nachdem in den 1990er Jahren der „spin-doctor“ die Bühne betreten hat (der Politik durch Werbung ersetzt hat), hat nun der Clown seinen großen Auftritt: Sarkozy, der seine Hochzeit mit einer Sängerin inszeniert, von der gleichzeitig Akt-Fotos versteigert werden. Ex-Finanzminister Grasser, dessen fachliche Inkompetenz nur durch seinen Selbstdarstellungstrieb und seine Gier geschlagen wird. Berlusconi, der sich möglicherweise für den Hauptdarsteller eines Porno-Filmes hält. Ein slowenischer Präsident, der ausschließlich sein selbst angebautes Bio-Gemüse isst, ein tschechischer, der glaubt, der Treibhauseffekt sei eine linke Verschwörung. Ein polnischer Ex-Präsident und jetziger Oppositionsführer, der bei seiner Mutter wohnt und einen Minister beschäftigt hatte, der die „Teletubbies“ wegen Homosexualität verbieten wollte. Ein anderer polnischer Ex-Präsident (und seit Anfang der 1980er Star der westeuropäischen Fernsehkanäle, die aber seinen Namen immer noch nicht aussprechen können), der gleichzeitig eine Kampagne für die EU führt und eine dagegen – warum auch nicht, solange bezahlt wird.

Der politische Typus des Clown ist die logische Folge des politisch-ideologischen Einheitsbreis, sein verschrobenes „anders sein“ hebt ihn ab. Wenn man inhaltlich schon wenig Wahl hat, dann kann man sich ruhig einen Premierminister nehmen, der wenigstens mit nackten Frauen in die Zeitung kommt.

Das dramatische an der Situation ist, dass man eigentlich Kaczynski, Klaus, Sarkozy und Berlusconi noch mehr strategische Vision zutraut als ihren politischen Gegenspielern, die sich ausschließlich auf die Verwaltung des EU-„common sense“ beschränken.

5. Eine Krise der Ideologie

Die Krise der Ideologie ist natürlich eng mit der Perspektivkrise verbunden. Beide verstärken sich gegenseitig. Es ist klar, die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts sind praktisch verschwunden. Wer an Gott glaubt, ist ein Sonderling. Wer heute in Europa bereit ist, aus Nationalismus „für das Vaterland zu sterben“ ist ein rechtsextremer Sonderling, im Übrigen aber sehr einsam. Wer für den Sozialismus ist, oder in der einen oder anderen Form den totalen Individualismus ablehnt, wird für eine Art Nazi gehalten. Der herrschende liberale Mainstream, der letzte Überlebende des Sterbens der „großen Erzählungen“ ist dabei eine Anti-Ideologie und Anti-Politik. Die Gesellschaft wird durch den Markt organisiert, der ohne das Eingreifen der Menschen auskommt, der sogar nur dann optimal funktioniert, wenn nicht eingegriffen wird. Und er wird flankiert durch eine Philosophie der Postmoderne, die überhaupt alles auflöst und das gezielte Eingreifen des Menschen in die Gesellschaft als unmöglich darstellt. Der Glaube an den Markt ist mittlerweile hoffentlich auch kaputt, die Postmoderne wird in Probleme kommen, denn Zeiten der Krise fordern die konkrete Aktion der Menschen – was sie für den postmodernen Humbug weniger zugänglich macht.

Aber die Krise des Liberalismus bringt nicht automatisch wieder die alten Ideologien zum Vorschein. Zuerst erzeugt sie einmal Verwirrung – und Perspektivlosigkeit.

6. Opposition und Chaos

Wir haben in Europa eine politische, wirtschaftlich-soziale und ideologische Krise. Der aktuelle Kapitalismus ist von beachtlichem Beharrungsvermögen gekennzeichnet, aber es ist schlicht unmöglich, dass so etwas keine Folgen hat. Man muss allerdings aufpassen, sofort überall revolutionäre Krisen zu sehen. Wirtschaftliche Katastrophe und Abstieg müssen keineswegs eine Linksentwicklung auslösen. Die große Weltwirtschaftskrise etwa: diese hat keine einzige sozialistische Revolution gebracht, statt dessen einen Haufen faschistischer Diktaturen. Anderes Beispiel – der Abstieg Boliviens: Die unerhörte Krise der 1970er und 1980er Jahre, die praktisch die gesamte Produktionsstruktur des Landes zerlegt hat, hat auch der radikalen Linken das Genick gebrochen. Historische Parallelen sind immer mit Vorsicht zu genießen, aber dennoch: Bisher war der unmittelbarste Ausdruck der Krise der Ruin eines Teils der Mittelschicht. Kleine Hausbesitzer, deren Fremdwährungskredite in Turbulenzen geraten sind, Privatpensionisten, die versuchen, ihr Geld aus den Pensionsfonds herauszubekommen, damit es nicht vollständig verspekuliert wird. Eine Krise der „fleißigen Sparer“ und der Erben und eine Krise überschuldeter amerikanischer Hausbesitzer. Es gibt keinen Grund, warum sich die politischen Reaktionen auf die Enteignung der kleinen Vermögen unbedingt links deklinieren sollten, und nicht in einer Hinwendung zu Chauvinismus und Autoritarismus.

Sichtbarster Ausdruck waren die Wahlen zum europäischen Parlament. Gerade in von der Krise hart getroffenen Ländern waren rechtsextreme Formationen die großen Wahlsieger: Die ungarischen Faschisten der Jobbik, sowie die griechischen Ausländerhasser der LAOS. Aber auch hier ist Vorsicht angebracht, auch die Darstellung dieser Tendenz darf nicht übertrieben werden. Einen einfachen Aufstieg einer radikalen Rechten vom Typus der 1930er Jahre wird es ebenso wenig spielen wie eine plötzliche Wiederbelebung des Kommunismus. Wenige werden sich einfach in die alten Kampflinien des 20. Jahrhunderts einordnen. Zwar sind die Impulse der Fremdenfeindlichkeit, die Mythen der eigenen Überlegenheit und der Hierarchie ebenso lebendig wie ein Bedürfnis nach Gleichheit und Gemeinschaft, die konkreten Traditionslinien der faschistischen Rechten und des sowjetisch inspirierten Kommunismus sind allerdings weitgehend tot.

Ein wesentliches Kennzeichen der jetzigen Krise ist es, dass sie auf Gesellschaften trifft, die keine echte Opposition kennen (sei sie aus einer Tradition der Rechten oder der Linken). Zur Perspektivlosigkeit der Oligarchie gesellt sich damit die Perspektivlosigkeit möglicher Alternativen. Das logische Ergebnis einer solchen Situation ist Chaos und Konfusion – und das hat bereits vor einiger Zeit begonnen: In den letzten Jahren erleben wir eine fortgesetzte Erosion der zentralen systemtragenden Parteien, bei der letzten Europawahl praktisch einen Zusammenbruch der Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite gibt es wiederkehrende Erfolge verschiedenster meist rechts- und manchmal linkspopulistischer Formationen, die allerdings mit ziemlich geringer Halbwertszeit ausgestattet sind. Selbst die Erfolge echter Faschisten, wie der Deutschen NPD, sind bisher durch besondere Instabilität gekennzeichnet. Einmal im Parlament angekommen, haben ihre Kader die Tendenz sich schamlos zu bereichern und in Kinderporno-Skandale verwickelt zu werden. Dann gibt es natürlich die schon erwähnte Ankunft der Clowns. Chaos produziert Selbstdarsteller und man kann davon ausgehen, dass Berlusconi nicht der letzte ist. Oder es gibt ganz sonderbare Reflexe wie die Stimmen für die FDP. Die FDP ist zwar völlig ahnungslos, aber sie trägt das überholte Mantra vom freien Markt so laut vor sich her, dass sich die letzten Gläubigen recht gut angesprochen fühlen. Die FDP wird damit zu einer identitären Kirche, und auch das ist das Resultat einer Krise. Wer überhistorische Dogmen verkündet, kann eine ganze zeitlang in einem Paralleluniversum weiterrotieren und seinen Anhängern Halt geben. Schwierig wird es dann nur, wenn man tatsächlich an die Macht kommt. Im weiteren Verlauf der Krise werden wir noch mehr erleben: Den Bedeutungsgewinn eines echten Rechtsextremismus (wenn auch mit aller Wahrscheinlichkeit in neuem Gewand) und wahrscheinlich auch das Entstehen völlig neuer politischer Phänomene. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden echte Antworten auf die vorhandenen Probleme auf dem Tisch liegen (echte Antworten, die nicht unbedingt über den Kapitalismus hinausgehen müssen). Es ist nicht gesagt, welche Antwort sich durchsetzen wird.

Wir fassen zusammen: Eine Krise der Weltwirtschaft und im Besonderen eine Strukturkrise Europas. Ein drohender Abstieg des Kontinents, dazu eine soziale Katastrophe. Eine gesellschaftliche Krise, die Chaos produziert. Und das für die nächsten Jahre, sogar Jahrzehnte – der Abstieg in der internationalen Arbeitsteilung ist kein Prozess von heute auf morgen. Das bedeutet nicht automatisch den Aufstieg einer wirklichen Alternative, aber in den nächsten Jahren wird sich ein politisches Feld für antikapitalistische Opposition öffnen.