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Konstruktion der mexikanischen Nation
30. Januar 2011 - Oralba Nájera

1810 und 1910 sind zwei Gründungsmomente der mexikanischen Nation. Gegen ihren Willen war die Regierung gezwungen, der beiden Ereignisse offiziell zu gedenken. Wie werden die Feierlichkeiten begangen? Welche Nation feiern wir heute und welche Nation feiern die Neoliberalen an der Macht?

Im 18. Jahrhundert begann sich die Vorstellung von einer mexikanischen Nation herauszubilden, die sich vom Vizekönigreich Neuspanien unterschied. Urheber der neuen Identität waren die Jesuiten, die 1767 aus Mexiko vertrieben wurden. Francisco Xavier Clavijero schrieb von seinem Exil aus die „Geschichte des Jesuitenordens in Neuspanien“, in der er Zeugnis von der prähispanischen Geschichte, die er bewunderte, ablegte. Der Baron Alexander von Humboldt präsentiert mit seinem „Politischen Essay über Neuspanien“ von 1808 zum ersten Mal die Größe unseres Landes und hielt damit den gebildeten Nachfahren der spanischen Eroberer, den Kreolen, den Spiegel ihrer Einzigartigkeit gegenüber Spanien vor.

Die Nation schuf sich im Kampf der Aufständischen für die Emanzipation von Spanien. Im Namen der entstehenden Nation wuchs die Identität, die nach ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Regierung, ihren Gesetze und ihrer Verfassung verlangte.

Feiern zur Unabhängigkeit

1813 schrieb José Maria Morelos y Pavón „Die Gefühle der Nation“, ein zentrales Werk um das Nationsprojekt zu verstehen, von dem die Aufständischen träumten. Das Dokument wurde auf dem Kongress von Chilpancingo verlesen und war die Grundlage für die „Amerikanische Verfassung“. 1813 waren Hidalgo, Allende und Aldama, drei andere wichtige Führungspersönlichkeiten des Unabhängigkeitskampfes, bereits gestorben. Morelos war der herausragende militärische und politische Führer der aufständischen Bewegung. Das Dokument stattete die Nation mit ihr eigenen Helden aus. Morelos erinnerte an die Indigenen, die gegen die Eroberung gekämpft hatten, die er mit den Führern der Unabhängigkeit verschmelzen ließ. Er verband die nach Freiheit strebende Gegenwart mit den Wurzeln der Vorfahren.

Er schrieb: „Auf den 12. August 1512 (Fall der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán) folgte der 14. September 1813 (Eröffnung des Unabhängigkeitskongresses in Chilpancingo). An jenem wurden Mexiko in Tenochtitlán die Ketten der Sklaverei angelegt; an diesem zerbrechen sie für immer im glückseligen Dorf von Chilpancingo.

Ich möchte, dass der Tag des 16. September jedes Jahr gefeiert wird, als Jahrestag, an dem sich die Stimme der Unabhängigkeit erhob und unsere heilige Freiheit begann (…).

Ich möchte, dass (die Nation) eine Regierung hat, die vom Volk ausgeht. (…) Ich möchte, dass wir die Deklaration aussprechen, dass es keinen anderen Adel gibt als die Tugend, die Weisheit, den Patriotismus und die Wohltätigkeit; dass wir alle gleich sind, denn wir stammen vom gleichen Ursprung ab; dass es keine Privilegien gibt; dass es weder vernünftig noch menschlich noch richtig ist, dass es Sklaven gibt, denn die Farbe des Gesichtes ändert nicht jene des Herzens oder des Gedankens; dass die Kinder des Bauern wie jene des reichsten Gutsbesitzers erzogen werden; dass jeder, der mit Recht zu klagen hat, ein Gericht findet, das ihn anhört, ihn schützt und ihn gegen den Starken und Willkürlichen verteidigt.“[fn]Eigene Übersetzung[/fn]

Wir sind nicht mehr die hybriden Geschöpfe Neuspaniens, Wesen ohne Heimat, ohne Identität. Heute erkennen wir die prähispanische Geschichte als Teil unseres Seins an. Wir sind im Besitz der freien Vergangenheit einer ganz anderen Nation. Ein neues historisches Subjekt entsteht: die mexikanische Nation mit einem Territorium – ein Projekt, das sich auf die prähispanische Geschichte stützt, ausgestattet mit eigenen Vorfahren, Gebräuchen, Mythen und Symbolen. Zu ihnen zählt die Jungfrau von Guadalupe. Sie repräsentiert die Einheit der Indigenen, Mestizen und Kreolen. Es entsteht eine von der Aufklärung, dem Liberalismus und dem Guadalupismus inspirierte Nation.

Die Nation von Miguel Hidalgo und José Maria Morelos ist – so paradox es sein mag – religiös und liberal. Hidalgo und Morelos sind Priester. Die Unabhängigkeit enthält Elemente des heiligen Krieges. Hidalgo verwendete die Standarte der Jungfrau von Guadelupe um eine Einheit für den Volkskrieg zu schaffen. Die Werke von Voltaire, Rousseau, Montesquieu tragen ebenfalls zum Aufstand bei. Hidalgo und Morelos befinden, dass die Souveränität dem Volk zusteht, prangern die Sklaverei, die Klassen- und Kastenunterschiede an, fordern das Ende von Tributzahlungen und ordnen die Aufteilung von Großgrundbesitz an.

General Morelos wurde vom Kongress des militärischen Oberbefehls enthoben. Die gebildeten Kreolen fürchteten die Konzentration der politischen und militärischen Macht in der Person Morelos’. Seine radikalen sozialen Forderungen zielten darauf ab, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundlagen Neuspaniens zu zerstören, während sie gleichzeitig das soziale Programm und die Regierungsstruktur skizzierten, die aus der Volksmacht erwachsen sollte.

Seit Beginn der Unabhängigkeitsbewegung zeichnen sich zwei Nationsprojekte ab: Die gebildeten Kreolen wünschten die Unabhängigkeit, ohne notwendigerweise mit der kolonialen Struktur zu brechen. Das radikale Projekt wurde von Hidalgo, Morelos und Vicente Guerrero repräsentiert. 1815 wurde Morelos gefangen genommen und hingerichtet. Damit war das Projekt einer „Volksnation“, einer „Nation von unten“ demoralisiert. Obwohl im Gebirge von Tixtla Vicente Guerrero den Kampf in Form eines Guerrillakrieges mit doppelter Kraft weiterführte, konnte er das Stadium des Stellungskrieges nicht erreichen, wie das Morelos gelungen war. Guerrero war, wie Hidalgo und Morelos, ein Mann der politischen Ideen. Er unterstützte die von der royalistischen Armee verfolgten Kongressmitglieder, konnte jedoch die Desertion aus den Reihen der Aufständischen nach der Hinrichtung von Morelos nicht verhindern. Der Vizekönig Juan Ruiz de Apodaca bot den Aufständischen Amnestie an. Hunderttausende akzeptierten die Rückkehr zum „Frieden“ in Sklaverei.
Die „Volksnation“ begann zu zerbröckeln.

Konterrevolutionäre Nation

1814 kehrte der spanische König Fernando VII an die Macht zurück, von der ihn Napoleon vertrieben hatte. Er fühlte sich von den liberalen Cortes von Cádiz, der Ständeversammlung, bedroht. Die Inquisition war abgeschafft worden und ohne ihren „bewaffneten Arm“ hatte die Kirche an Macht verloren. Die Cortes von Cádiz waren eine mächtige Waffe für die Unabhängigkeit. Der König verlangte Absolutismus, doch der Aufstand des Generals Rafael Riego zwang ihn dazu, die Cortes von Cádiz anzuerkennen.

In Neuspanien fand sich eine Gruppe von Spaniern, Händlern, Priestern und Mitgliedern der Heiligen Inquisition zusammen um zu konspirieren. Die Gruppe wurde, nach der Kirche, in der sie sich versammelten, „Profesa“ benannt. Sie akzeptierten die Gesetze von Cádiz nicht, die ihren Interessen zuwiderliefen. Ihr Konzept von Unabhängigkeit verfolgte das Motto „lösen ohne zu brechen“. Dazu mussten sie Vicente Guerrero besiegen, womit sie den blutigen General Agustín de Iturbe beauftragten.

Iturbe wurde mehrfach besiegt und es war klar, dass er auf dem militärischen Weg den Guerillero nicht unterwerfen können würde. Da Vicente Guerrero weiteres Blutvergießen verhindern wollte, entsandte er einen Emissär zu Iturbe. Schließlich wurden drei Garantien ausgehandelt: Unabhängigkeit, Religion und Einheit. Die Armee Trigarante ersetzte sowohl das Volksheer als auch die königliche Armee. Der letzte Vizekönig, der aus Spanien gekommen war, Juan de O Donojú, sah keine andere Möglichkeit als die Verträge von Iguala und das Mexikanische Imperium anzuerkennen. Die Unabhängigkeit wurde am 27. September 1821 zur Realität, Iturbe hielt triumphierend in Mexiko Stadt Einzug.

Die Verträge von Iguala und Córdoba beseitigten die Fahnen des Volkes. Ein Mexikanisches Imperium mit moderater Monarchie und Verfassung entstand. In den Verträgen von Iguala wurde Fernando VII oder seinen Nachfahren die Krone angeboten, jene von Córdoba sahen vor, dass der Thron mit einem Mexikaner besetzt werden konnte. Dies wurde schließlich Agustín de Iturbe zuteil. Die Volksnation war militärisch besiegt worden.

Hidalgo oder Iturbe

Im 19. Jahrhundert währte der politische Kampf noch lange Zeit. Er nahm die Form eines Bürgerkrieges zwischen Konservativen und Liberalen, Republik oder Monarchie, Zentralismus oder Föderalismus an. Jede Seite hatte eine andere Vorstellung der Nation. Die Liberalen verfolgten die Ideale von Hidalgo und Morelos weiter, zu denen die republikanische Form und die Gewaltenteilung hinzukamen. Der erste republikanische Präsident Guadelupe Victoria folgte Iturbe nach, der ins italienische Exil floh. Vicente Guerrero wurde 1829 Präsident, jedoch nur für wenige Monate. Die Bedrohung durch eine spanische Invasion machte es notwendig, zu den Waffen zu greifen. Der Vizepräsident Anastacio Bustamente zettelte eine Verschwörung an, um ihn umzubringen. Guerrero wurde am 14. Februar 1831 hingerichtet.

Während des Bürgerkrieges ging aufgrund der nordamerikanischen Invasion mehr als die Hälfte des mexikanischen Territoriums verloren. Der General Antonio López de Santa Ana hatte elfmal das Amt des Präsidenten inne, einige Male als Liberaler, andere Male als Konservativer. Wir wurden von einem weiteren Imperium heimgesucht, als Maximilian von Habsburg 1864 in Mexiko ankam. Benito Juárez und eine Handvoll Liberaler flüchteten aus der Hauptstadt, nachdem sie dem feindlichen Eindringling den Kampf angesagt hatten. Die Juaristen triumphierten im Jahr 1867. In jenen Jahren wurde die Unabhängigkeit am 16. oder am 27. September gefeiert und jeweils Hidalgo oder Iturbe gedacht. Mit der endgültigen Niederlage von Santa Ana 1855 wurde das iturbistische Gedenken beseitigt. Die liberale Version der Geschichte hatte sich durchgesetzt. Die Genealogie ihrer Helden war: Cuauhtémoc, Miguel Hidalgo, José María Morelos, Ignacio Allende, Benito Juárez und Melchor Ocampo.

Mexikanische Liberale

Der Liberalismus begleitete die Bourgeoisie auf ihrem Weg zur Macht. Die Verankerung des Kapitalismus in Mexiko war ein, nach Trotzki, ungleicher und kombinierter Prozess. Unter Benito Juárez entstand eine antiimperialistische, laizistische und republikanische Nation. Andererseits förderten die Reformgesetze (Leyes de la Reforma), die sich stark an die nordamerikanische Verfassung anlehnen, den Freihandel und das Privateigentum.

Benito Juárez verhandelte seine Reformen auch mit den Konservativen, was einer Gruppe von Generälen missfiel. Es folgten Aufstandstätigkeiten, unter denen der Aufstand von Julio López Chávez aufgrund seiner von sozialistischen Ideen inspirierten Ziele hervorgehoben werden muss. López Chávez verfasste ein Manifest an die Unterdrückten und Armen Mexikos:

„Mit welchem Recht haben sich einige Individuen des Landes bemächtigt, das allen gehören müsste? Wir haben gesehen, wie die Großgrundbesitzer, die zunächst Zuflucht in den Rockfalten des Imperiums gesucht haben, nun diese in den Rockfalten der Republikaner finden und dabei immer die Interessen des Volkes mit Füßen treten.

Brüder: Wir wollen den Sozialismus, er ist die perfekteste Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Es lebe der Sozialismus, es lebe die Freiheit!
Chalco, 20. April 1869“[fn]Eigene Übersetzung[/fn]

Díaz übernimmt die Macht

Porfirio Díaz hatte dreißig Jahre lang die Präsidentschaft inne. Der Diktator erlegte dem Land einen Friedhofsfrieden mit Blut und Feuer auf. Er entwickelte den mexikanischen Kapitalismus, indem er ihn den imperialen Interessen der USA, Englands und Frankreichs unterwarf, die in unserem Land billige Arbeitskräfte und Privilegien zur Ausbeutung der Bodenschätze vorfanden. Mexiko wurde zur Nachhut des imperialistischen Wachstums.

Das hundertjährige Jubiläum der Unabhängigkeit fiel mit der letzten Wiederwahl von Porfirio Díaz zusammen. Der durchtriebene Diktator profitierte von den Feierlichkeiten, um die Geschichte Mexikos in seinem Licht zu färben und um die Botschaft in die Welt auszusenden, dass in Mexiko „Frieden, Ordnung und Fortschritt“ herrschten.

Hundert Jahre Unabhängigkeit

Porfirio Díaz machte viel Aufhebens rund um die Geschichte des Vaterlandes, der er sich bemächtigte. Er ließ Plakate mit den Gesichtern Miguel Hidalgos, Benito Juárez’ und von sich selbst aufstellen. Er ließ aus Hidalgos Heimatort dessen Taufbecken kommen und ein Denkmal für Juárez errichten. Feierlichkeiten und Militärparaden gaben einer nationalistischen Kultur, geprägt von der diktatorischen Macht, Nahrung. All das hatte der Diktator bitter nötig, da er sich in einer schwierigen Situation befand. Francisco I. Madero hatte gegen den Wahlbetrug einen Aufstand angezettelt, der von sozialem Unmut getragen war. Es gab auch andere Möglichkeiten, der heldenhaften Vergangenheit zu gedenken, nämlich die des ausgegrenzten Volkes. Hinter von der Polizei aufgestellten Zäunen und Mauern schrie eine Masse von Leprösen und Obdachlosen: „Tod dem alten Saukerl!“ Oppositionelle der Partei gegen die Nationale Wiederwahl störten die Feierlichkeiten auf dem Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko Stadt. Sie hielten Bilder Francisco I. Madero und protestierten gegen den Wahlbetrug.

Bewaffneter Aufstand 1910

Während der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit erstand eine andere Lesart der Geschichte, die von unten, in Puebla. Das war der Beginn der bewaffneten Bewegung. Zeichen des Unmuts flammten im gesamten Staatsgebiet auf. Die Liberale Partei Mexikos (PLM) war von Ricardo Flores Magón am 1. Juli 1906 gegründet worden; der von Emiliano Zapata am 28. November 1911 unterzeichnete Plan von Ayala und das Agrargesetz vom 24. Mai 1915 von Francisco Villa rufen zu einer Volksnation auf. Zapatas Konzept ist auf eine Nation der Gemeinschaften ausgerichtet, Villa legt den Schwerpunkt auf das Bäuerliche, die PLM ist in ihrer letzten Phase sozialistisch. Für die revolutionären Führer ist es Zeit zu handeln. Erneut begleitet die Jungfrau von Guadelupe Emiliano Zapata bei seinem Einzug in Mexiko Stadt, wo er 1914 auf Francisco Villa trifft. In diesem Jahr war die Volksnation ihrem Sieg sehr nahe.

Die Revolution entwickelt sich in mehreren Etappen. Die erste repräsentiert Francisco I. Madero. Sein Protest gegen den Wahlbetrug trägt ihm den Kerker ein. Nach seiner Flucht in die USA ruft er zum gewaltsamen Sturz des Diktators auf. Díaz musste schließlich das Pariser Exil akzeptieren, Madero übernahm die Präsidentschaft. Die zweite Etappe von 1911 bis 1913 entspricht der Amtszeit Maderos, dem es nicht gelang, die sozialen Verbesserungen umzusetzen, die er vom Exil aus versprochen hatte. Er entzweite sich mit Zapata, der die Aufteilung von Grund und Boden forderte. Zapata weigerte sich, die Waffen abzugeben.
Eine Gruppe von Porfiristen verschwor sich gegen Madero und enthob diesen mithilfe des US-amerikanischen Botschafters seines Amtes. Nach zehntägigen Auseinandersetzungen wurden Madero und der Vizepräsident Pino Suárez gefangen genommen und am 22. Februar 1913 hingerichtet. Durch den Staatsstreich gelangte Victoriano Huerta an die Macht.

Die dritte Etappe ist jene des von Venustiano Carranza angeführten Aufstandes gegen Huerta. Im Plan de Guadelupe rief er zu den Waffen, um den Usurpator zu stürzen. Er wurde von Francisco Villa, Álvaro Obregón, Emiliano Zapata und anderen unterstützt. Huerta wurde 1914 gestürzt.

Der revolutionäre Konvent

Das vorläufige Ende des bewaffneten Kampfes brachte die Gelegenheit mit sich, dass Tendenzen innerhalb der Bewegung von 1919 klare Formen annahmen. Laut dem Plan de Guadelupe sollte nach dem Sturz von Victoriano Huerta ein Konvent der Anführer der unterschiedlichen bewaffneten Formationen einberufen werden, um die neue Nation zu konzipieren. Großgrundbesitzer, Industrielle und Händler des Kleinbürgertums forderten ihre Anteile an der Macht. Als Wächter des Privateigentums setzten sie sich für den Freihandel ein und unterstützten Venustiano Carranza. Hingegen kämpften die Volksbewegungen, repräsentiert von Villa, Zapata und Flores Magón, für eine grundlegende Neuerung der Organisation des Landbesitzes.

1914 nahmen Zapata und Villa, gestärkt durch ihren Triumph im Nationalkonvent, die Hauptstadt ein. Doch niemand wusste, wie mit der Zentralmacht umzugehen wäre, die sie während der Monate November und Dezember inne hatten. Niemand dachte daran, eine neue Verfassung zu verabschieden, welche die Forderungen der Arbeiter und des Kleinbürgertums miteinschließen würde – Forderungen, die ihnen nicht bekannt waren. Währenddessen machte sich Carranza, der die Beschlüsse des Konventes nicht anerkannte, auf den Weg zum Hafen von Veracruz. Die politischen Schwächen der Volksarmeen waren offenkundig. Eulalio Gutiérrez, der vom Konvent gewählte Präsident, flüchtete mit dem Geld, gefolgt von Militärs und Intellektuellen. Zapata kehrte in den Süden, Villa in den Norden zurück. Ihre Trennung bedeutete das politische Scheitern, die Niederlage der Volksnation.

Carranza erreichte triumphierend die Hauptstadt und berief eine Versammlung in Querétaro ein, zu der die Führer der Volksbewegung nicht eingeladen waren. Am 5. Februar 1917 wurde die Mexikanische Verfassung verabschiedet, die aus der bewaffneten Bewegung hervorging. Die Bourgeoisie war gezwungen die Forderungen des Volkes anzuerkennen, denn obwohl die Volksrevolution geschwächt war, hatte sie dennoch Kampfkraft. Carranza wurde von den USA anerkannt, was die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen einer modernen, kapitalistischen und von den USA abhängigen Nation erneut festigte.

Parallel zur Absicherung seiner Macht entsandte Carranza Obregón, um Villa militärisch zu schlagen. Dies gelang 1915 in Celaya. Aus Rache verübte Villa 1916 eine Invasion in nordamerikanisches Territorium. Er wurde von General Pershing verfolgt, flüchtete jedoch auf die Hacienda de Canutillo in Durango, wo er seine Vorstellung von Landbestellung und Bildung praktizierte. Er wurde am 23. Juni 1923 in einem Hinterhalt ermordet. Carranza und Obregón ließen auch Zapata ermorden. Flores Magón wurde 1922 in einem Gefängnis in den USA getötet. Mit seinem Verschwinden verfällt die radikale revolutionäre Nation.

Die institutionelle Revolution

Die Machthaber schufen einen nationalistischen, antiimperialistischen und populistischen – nicht jedoch tatsächlich volksnahen – Diskurs. Sie bemächtigten sich der Fahnen und Führer der Volksbewegung, ließen sich als legitime Erben von Hidalgo, Morelos, Villa und Zapata feiern. Die Aneignung der Geschichte und der Helden des Volkes war ein langer und widersprüchlicher Prozess. Die Fähigkeit der herrschenden Klasse sich zu organisieren und die Geschichte zu manipulieren war entscheidend, um dem Volk die Hände zu binden. Es wurde in die Staatsmacht eingebunden. Gewerkschaften, Vertretungskörperschaften der Bauern und anderer sozialer Gruppen entstanden, dem Staat untergeordnet, von korrupten Führern, Verteidigern der Interessen der Unternehmerschaft, kontrolliert. Auf diese Weise entstand ein Staat, der in der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) Gestalt annahm. Es folgten siebzig Jahre einer Parteidiktatur, die sich durch die Revolution von 1910 legitimierte und in deren Namen sie regierte.

Die offizielle nationalistische Ideologie wurde in Schulen, Büchern, Zeitungen, im Fernsehen und Kino, in der Kunst und Musik reproduziert, so dass alle Aspekte des Alltagslebens von der Vorstellung durchdrungen waren, dass der mexikanische Staat revolutionär sei.

Kämpfer, die außerhalb der geölten PRI-Maschine dachten und arbeiteten, erlitten Gefangenschaft, Verschwinden, Folter und Tod. Doch während des Prozesses der Konstruktion der offiziellen Nation wuchs auch die Volksnation.

1968 – die Studenten holen die Volksnation zurück

Die Studentenbewegung trat mit dem Staat in Konflikt. In jenem Jahr wurden die Feierlichkeiten rund um den „Schrei“ der Unabhängigkeit an zwei unterschiedlichen Orten abgehalten, im Nationalpalast mit dem verhassten Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz, der für das Massaker an den Studenten am 2. Oktober verantwortlich war.[fn]Am 2. Oktober 1968 schoss die mexikanische Polizei auf eine Versammlung der Studentenbewegung am Tlatelolco-Platz. Die genaue Opferzahl ist bis heute unbekannt. Schätzungen bewegen sich in einer Spannbreite zwischen zwanzig und tausend.[/fn] Währenddessen versammelten sich Studenten und Sympathisanten in der Autonomen Universität Mexikos (UNAM), um die anderen Geschichte, die rebellische und kämpferische, zu feiern. Die offizielle Geschichtsschreibung wurde in Frage gestellt. Der Tod von Hunderten Studenten entblößte das repressive Gesicht des Staates. Studenten und Professoren stellten sich die Aufgabe, eine andere Geschichte zu schreiben, aus der Sicht des Marxismus, der kraftvoll in das universitäre Leben eingetreten war. Unabhängigkeit und Revolution wurden im Lichte des Klassenkampfes und seiner wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kategorien neu interpretiert.

Bruch mit der Geschichte von unten

1982 fand ein Bruch im Inneren der Macht statt. Präsident Miguel de la Madrid setzte der liberalen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende, indem er Wirtschaftsverträge unterzeichnete, die den Neoliberalismus einläuteten. Unter Salinas de Gortari wurde dieser Prozess beschleunigt. Der Staat verkaufte die Staatsunternehmen, machte Schluss mit dem Recht auf Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheitsversorgung der unteren Klassen.

Im Jahr 2000 gelangte zum ersten Mal die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) an die Macht. Unter anderen stellte sie sich die Aufgabe, die nationale Geschichte neu zu schreiben. Die US-amerikanische Invasion verschwand aus den Schulbüchern, Volkshelden wurden aus der offiziellen Geschichtsdarstellung verbannt, das Massaker an den Studenten kaum erwähnt. Von der Regierung gekaufte Intellektuelle erklärten den Tod der Nation. Alles, was nach Nationalismus roch, wurde lächerlich gemacht. Wir waren keine Mexikaner mehr, sondern Weltbürger.

Der Aufstand des EZLN und des EPR

Die Globalisierung des Finanzkapitalismus schritt über den Fall der Berliner Mauer hinweg. Der Imperialismus erklärte sich zum Sieger, zum einzigen Subjekt der Geschichte. Am 1. Jänner 1994 erhob sich in einem Winkel im Südosten des Landes eine indigene Guerilla, die dem illegitimen Präsidenten und der mexikanischen Armee den Krieg erklärte. Das Zapatistische Heer der Nationalen Befreiung (EZLN) nahm militärisch fünf Gemeinden im Bundesstaat Chiapas ein. Die Bilder gingen um die Welt. Das EZLN ging auch ideologisch in die Offensive. Auf seinen Gewehrläufen trug es die Forderung nach der Geschichte von unten, es hisste die Flagge von Zapata und Villa. Die Geschichtsschreibung des Volkes erstand erneut mit Kraft. Die indigene Präsenz ist ein bedeutsamer Beitrag, denn ihre uralte Existenz wird in der liberalen Verfassung nicht anerkannt. Die bewaffneten Bewegungen von 1810 und 1910 beinhalten die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht.

Am 28. Juli 1996 erhob sich eine andere Guerillabewegung, das Revolutionäre Volksheer (EPR). Im Bundesstaat Guerrero präsentierte sich das EPR mit einem sozialistischen Manifest, es erklärte, die Macht im Staat übernehmen zu wollen. Sein Auftreten war überraschend, da sich das EZLN in Verhandlungen mit dem Staat befand und vorübergehend die Waffen niedergelegt hatte. Das EPR wurde zur bösen Guerilla, eine Hasskampagne ergoss sich gegen die Kämpfer/innen. Am Ende des 20. Jahrhunderts spaltete sich das EPR aufgrund interner Widersprüche. Die Repression in den Zonen, in denen das EPR operierte, war brutal. 2006 wurden zwei Anführer des EPR verhaftet. Sie wurden in Oaxaca gefoltert, wo man sie zum letzten Mal sah. Es bildete sich eine Kommission von Intellektuellen, die ihre Rückkehr forderte, jedoch bislang ohne Erfolg.

Wahlbetrug und Krieg gegen den Drogenhandel

Durch Wahlbetrug übernahm 2006 Felipe Calderón die Präsidentschaft. Sein Gegenkandidat Andrés López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hatte das Nachsehen. Das Land war gespalten. Um sich als Präsident zu legitimieren, erklärte Calderón dem Drogenhandel den Krieg. Die USA boten ihre wirtschaftliche und militärische Unterstützung an, indem sie den Plan Colombia kopierten. In Mexiko heißt er nun Plan Mérida. In vier Jahren Calderón-Regierung hat der angebliche Krieg gegen den Drogenhandel das Land mit Blut überzogen. Die Armee wird schwerer Verbrechen gegen die Menschenrechte angeklagt, doch ist sie durch Sonderprivilegien vor Strafverfolgung geschützt. Der Handel mit Waffen und Drogen geht quer durch den Staat, involviert einige Gouverneure, Bürgermeister, die Armee und Polizei. Im Norden gibt es Bundesstaaten, die von der Drogenmafia kontrolliert werden. Organhandel, Kinderpornographie, Prostitution, Entführung von Migranten und gezielte Frauenmorde sind an der Tagesordnung. Der soziale Zerfall ist skandalös. In den Angaben über die Toten verstecken sich die politischen Aktivisten, Kämpfer von EPR und EZLN, ehrliche Journalisten, Bauernführer, Indigene, Verteidiger der Menschenrechte, Intellektuelle, Umweltschützer, Bergarbeiter, Lehrer ….

Das Jubiläumsjahr

Was den Neoliberalismus am wenigsten interessiert, ist, die Erinnerung an die Geschichte von unten zu erhalten, geschweige denn die Volksnation wieder zum Leben zu erwecken. Doch das symbolisch überladene Jahr 2010 rückte näher und es blieb der Regierung nichts anderes übrig als zweihundert Jahre Unabhängigkeit und hundert Jahre Revolution zu feiern. Die Feierlichkeiten aktivierten die Diskussion über die Nation, die wir waren, sind und sein wollen. Regierung und ihr hörige Intellektuelle veranstalteten eine Reihe grotesk-lächerlicher Events und unterließen keine Anstrengung, um das Jubiläum seines politischen Gehalts zu entleeren.

Von der Volksnation ist nichts übrig geblieben. Armeeeinheiten verhinderten, dass die Menschen zum Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko Stadt, gelangten, denn die Ehrengäste waren rund um den Nationalpalast platziert. So starb eine Tradition, die diese Feierlichkeiten mit der Fröhlichkeit der Massen verband.

Die Militärparade des 16. September diente dazu das Volk einzuschüchtern. Die Militärs marschierten mit faschistischer Miene. US-Militärs waren eingeladen worden, so als ob es die Invasion von 1846-48 nie gegeben hätte. Auch andere Staaten hatten Armeeeinheiten geschickt, zumal in Zeiten der Globalisierung.

Was bleibt vom Nationalstaat, der aus den Ereignissen von 1810 und 1910 entstand? Wenig. Es gibt Dörfer, die sich im Widerstand befinden, Arbeiterbewegung, Bergarbeiter, Bauern und Indigene, die um ihr Überleben kämpfen. Zum Neoliberalismus kommt der Krieg gegen den Drogenhandel. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in extremer Armut. Die Kriminalisierung der Migranten in den USA hat deren Rücküberweisungen, von denen die Bauernfamilien, die Indigenen, die Arbeiter und Teile des Kleinbürgertums lebten, stark reduziert. Die Arbeitslosigkeit hat schwindelerregende Höhen erreicht.

Mit dem Verschwinden der Nation als einem Träger von Werten haben sich Identität, Anerkennung, kollektives Gedächtnis, Geschichte von unten und sozialer Zusammenhalt in individueller Verzweiflung aufgelöst.

Ich möchte mit einem hoffnungsfrohen Gedanken schließen, doch ich finde keinen. Der materialistische und dialektische Ansatz erlaubt es, sich an die Überzeugung zu klammern, dass die Reaktion des Volkes wieder einen qualitativ revolutionären Schritt nach vorne machen wird. Wann, weiß ich nicht.

Übersetzung von Margarethe Berger