Header Image
Linker Journalismus im Libanon
15. Februar 2011

intifada: Was macht das Spezifische an Ihrer Zeitung aus? Wie hoch ist die Auflage und wieviele Mitarbeiter hat sie?

Khaled Saghyeh: Wir haben eine Auflage von etwa 15 000 Exemplaren täglich. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung im Libanon liest überhaupt Zeitungen. Das ist vor allem auf den Bürgerkrieg zurückzuführen. Vor dem Krieg erreichte eine einzige Zeitung eine Auflage von über 60.000, heute erreichen alle Tageszeitungen zusammen kaum eine ähnliche Auflage. Wir beschäftigen ungefähr sechzig Journalisten. Wir haben viele Korrespondenten im Libanon und einige Auslandskorrespondenten.

Was uns von den anderen Zeitungen unterscheidet, ist die journalistische Arbeit. Die meisten Zeitungen hier konzentrieren sich auf Nachrichten im engeren Sinn und übernehmen Meldungen von libanesischen und internationalen Presseagenturen. Sie machen keine Reportagen, keine eigenen Recherchen und keine politischen Analysen. Das ist jedoch genau das, was Al-Akhbar hauptsächlich tut. Nur wenige Seiten sind für Agenturmeldungen reserviert. Der Rest sind unsere eigenen Berichte und Analysen, und die interessieren die Leser mehr als die bloßen Nachrichten, die sie schon am Vortag im Radio oder Fernsehen gehört haben. Auch bei Auslandsthemen versuchen wir, unsere eigenen Nachforschungen zum Thema anzustellen und kopieren nicht einfach die Meldungen der Nachrichtenagenturen.

Wir sehen es nicht als Aufgabe der Zeitung, eine bestimmte linke Linie zu vertreten. Alle Ansichten der Linken kommen zum Ausdruck. Einige Linke lehnen nach wie vor jede Zusammenarbeit mit Islamisten ab; andere definieren Sozialismus nur im wirtschaftlichen Sinne und wollen mit Tradition und Religion nicht brechen. Die Zeitung bietet ein Forum für den Dialog innerhalb der linken Kräfte.

Wir sind aber nicht einfach nur eine linke Zeitung. Unter den jetzigen politischen Umständen gibt es hier Linke, Islamisten, Panarabisten und andere Strömungen, die zusammenarbeiten. Wir tolerieren viele Positionen innerhalb einer allgemeinen politischen Linie. Die Zeitung wurde gleich nach dem Krieg 2006 gegründet, als das US-amerikanische Projekt in der Region sehr aggressiv war. Wir waren hier eine der radikalsten Stimmen gegen dieses Projekt.

intifada: Ihre Zeitung tritt gegen die Regierung und für den Widerstand ein. Was ist Ihre Beziehung zu den politischen Parteien? Beeinflussen diese Ihre Redaktionslinie?

Saghyeh: Die Situation hier ist anders als in westlichen Staaten. Die linken Parteien sind nicht so groß und es gibt hier zwei Lager, die durch eine große Kluft getrennt sind. Auf der einen Seite stehen die Hizbollah („Partei Gottes“) und die anderen Parteien für den Widerstand, darunter besonders die Partei von General Michel Aoun; auf der anderen Seite stehen Sa‘ad Hariris Partei Mustaqbal („Zukunft“) und ihre Verbündeten. Das Land ist gespalten. Die meisten Kollegen hier sehen sich als linke Journalisten, die dem Widerstand verbunden sind. Wir sind für den Widerstand. Unser Bündnis mit einer islamischen Kraft mag für andere Linke nicht nachvollziehbar sein. Für uns ist jedoch nicht die Ideologie des Widerstands ausschlaggebend; es geht darum, ob man für oder gegen diesen Widerstand ist. In den 1980er Jahren waren es die Kommunisten und andere linke Parteien, die den Widerstand gegen Israel begannen. Später setzten die Islamisten ihn fort. Für mich geht es um die Menschen, vor allem die Bewohner des Südlibanons, egal ob sie Linke, Islamisten oder was auch immer sind.

Andererseits sind weder die Hizbollah noch Aoun linke Kräfte. Wie viele andere Drittweltländer verfolgt der libanesische Staat ein neoliberales Programm, das aufgrund des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren erst in den 1990ern eingesetzt hat. Wir als Linke sind gegen dieses Programm. Die Partei, die es in der Regierung durchsetzte, war die Mustaqbal. Das bedeutet nicht, dass die Hizbollah frontal dagegen ist, aber sie hat diese Pläne jedenfalls nicht eingebracht. Als eine Kraft, die für den Widerstand und gegen diese neoliberalen Pläne ist, stehen wir im Moment der Hizbollah näher als der Mustaqbal.

Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass wir nicht von der Hizbollah abhängig sind. Die Partei begrüßt zwar unsere Haltung für den Widerstand, sieht jedoch die politischen Differenzen zu ihr und zur Partei von Aoun. Uns bleibt daher oft nur ein recht schmaler Pfad: Wir würden beispielsweise niemals Forderungen nach Bürgerrechten für die Palästinenser im Libanon aufgeben. Genau diese sind Aoun aber ein Dorn im Auge; er kann sie aus konfessionellen Gründen nicht akzeptieren.

Gleichzeitig tragen wir zur Radikalisierung des oppositionellen Diskurses zu Wirtschaftsthemen bei. Viele ökonomische Debatten wurden von Al-Akhbar angeregt, besonders als alle Großparteien an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligt waren.

Um einen landesweiten Konsens für eine Einheitsregierung herzustellen, wird der Wirtschaftspolitik eine geringere Priorität eingeräumt. Zum Beispiel spricht die Hizbollah wirtschaftliche Themen schlicht nicht an, solange die Mustaqbal im Gegenzug die Bewaffnung der Hizbollah nicht in Frage stellt.

intifada: Ein wichtiges Thema Ihrer Zeitung ist die konfessionelle Gliederung des politischen Systems im Libanon, das in Europa kaum bekannt ist. Welche Folgen hat dieses konfessionelle System?

Saghyeh: Im Libanon gibt es viele religiöse Bekenntnisse und politisch ist alles nach der Religionszugehörigkeit aufgeteilt. Fast jeder politische Streit verwandelt sich in einen konfessionellen Konflikt und umgekehrt. Es hängt immer vom Ausgangspunkt der Analyse ab. Einige Analytiker wollen nur die religiösen Konflikte sehen und interpretieren die Politik dementsprechend. Oder sie gehen von einem anderen Standpunkt aus und betrachten Personen und Parteien danach, ob sie mit dem Widerstand gegen Israel sind oder mit Israel zusammenarbeiten. Und weil das Land religiös zersplittert ist, nimmt diese Differenz eine konfessionelle Form an. Ab diesem Punkt wird es schwierig, jemanden aus einer anderen religiösen Gemeinschaft von einem politischen Standpunkt zu überzeugen. Es geht dann nicht mehr um Argumente, sondern um ein Stammesdenken, wo jeder an der Identität seiner Konfession und der entsprechenden politischen Identität festhält.

In der Zeit nach dem Bürgerkrieg bis 2005, als die syrische Armee im Libanon war, haben die Syrer die konfessionellen Probleme im Land geregelt. Aufgaben wurden je nach dem Religionsbekenntnis verteilt: Die Schiiten trugen den Widerstand gegen die israelische Besatzung im Süden und die Sunniten kontrollierten die Wirtschaft. So durfte der damalige Premierminister Rafiq Hariri sein neoliberales Wirtschaftsprogramm durchziehen, sich aber nicht gegen den Widerstand der Hizbollah äußern. Umgekehrt durfte sich die Hizbollah nicht in die Wirtschaftspolitik der Regierung einmischen. Die Christen waren als Verlierer des Bürgerkriegs marginalisiert. Der eine ihrer Führer war im Gefängnis und der andere im Exil. Für die Syrer war es ein konfessionelles Spiel, in dem sie die Jobs aufteilten.

Als die Syrer das Land verließen, begannen die Konflikte. Einerseits wollte jede Gruppe ihren Anteil vergrößern und andererseits fehlte nun der Schiedsrichter. So forderte die Mustaqbal damals mehr oder weniger offen die Entwaffnung der Hizbollah und argumentierte mit einem staatlichen Gewaltmonopol. Die Hizbollah wollte ihrerseits ihre Position als Widerstandskraft verteidigen und begann, sich in die Wirtschaftspolitik einzumischen. Außerdem wollten die unter der syrischen Vorherrschaft marginalisierten Christen nun auch ihren Anteil.

Von einem anderen Gesichtspunkt aus steht im Vordergrund, dass wir hier im Libanon einen Widerstand haben, der im Stande war, das Land zu befreien, und den wir brauchen, um das Land zu verteidigen. Im anderen Lager sind Verbündete der USA, welche das US-amerikanische Programm im Nahen Osten umsetzen und auf dieses Programm setzen, um im Libanon einen größeren Anteil an der Macht zu erhalten. Dieser Kampf geht weiter und nimmt unterschiedliche Formen an. Derzeit geht es um das internationale Tribunal über die Ermordung von Premierminister Rafiq Hariri.

intifada: Die komplexe Realität des Libanon ist in Europa nur bruchstückhaft bekannt. Dadurch entsteht oft ein falsches Bild. Wie könnte man das ändern?

Saghyeh: Ich weiß nicht, was gut für Europa wäre, aber ich sehe, dass die meisten westlichen Medien sich vor allem mit der Hizbollah beschäftigen: Die Probleme des Libanon werden auf die Existenz einer bewaffneten Partei reduziert. In den westlichen Medien wird die Hizbollah als Hindernis für die Bildung eines modernen Staates dargestellt. Hier wäre ein Perspektivenwechsel wichtig. Es sollte dargestellt werden, was die Israelis im Libanon machen, warum die Hizbollah existiert, und dass die Hizbollah eine libanesische und nicht etwa eine iranische Partei ist.

Außerdem sind hier noch palästinensische Flüchtlingslager. Im Moment ist es in Mode, Hilfsgüter in den Gazastreifen zu schicken, als ob die Welt erst jetzt von der Existenz palästinensischer Flüchtlinge erfahren hätte. Die Flüchtlinge gibt es seit mehr als sechzig Jahren, und ihre Lage hat sich keineswegs verbessert.

intifada: Wie gehen Sie als Linke mit dem Dilemma um, einerseits die Hizbollah als Widerstandskraft zu unterstützen und sie andererseits als Teil des konfessionellen Systems und der liberalen Wirtschaftspolitik zu kritisieren?

Saghyeh: Eines der Hauptmerkmale der Hizbollah als islamische Kraft im Libanon ist die Tatsache, dass sie nie versucht hat, ein islamisches Programm durchzusetzen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Kräften in der Region versucht sie nicht, das Land zu islamisieren oder die Macht zu übernehmen. Sie verbreitet ihre Ideologie innerhalb ihrer Gemeinde, versucht aber nicht, sie in Gesetze zu gießen.

Die Hizbollah hat auch das neoliberale Programm nicht mitgetragen, weil sie nicht an der Regierung beteiligt war. Man kann sie dafür kritisieren, dass sie sich nicht dagegen gestellt hat. Was wir als Linke versuchen, ist, sie in ihrem Wirtschaftsprogramm nach links zu bewegen. Unter der jetzigen Aufteilung im Land ist die Hizbollah einerseits die Partei des Widerstands und andererseits die größte Partei der Schiiten. Als Vertretung eines religiösen Bekenntnisses kann sie kaum ein gesellschaftliches Programm haben, da sie die Interessen aller Klassen innerhalb ihrer Religionsgemeinschaft verteidigen muss.

Was wir in dieser Zeitung an der Hizbollah oft bemängelt haben, ist ihre Haltung zum Irak. Im Irak, wo ebenfalls eine konfessionelle Aufspaltung herrscht, waren es die Sunniten, die den Widerstand gegen die US-Besatzung trugen. Hizbollah vermied es aufgrund ihrer Verbindung zu den Schiiten im Irak, die Haltung der schiitischen Parteien dort zu kritisieren.

Das Interview führten Anna Maria Steiner und Mohammad Aburous im Rahmen des Freiwilligen-Einsatzes der europäischen Vereinigung SUMUD im August 2010 in Beirut.