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Solidarität, eine Waffe?
9. Juni 2011 - Sebastian Baryli

Die alte Formel, Solidarität sei eine Waffe, klingt – unter den heutigen Bedingungen ausgesprochen – mehr als vermessen. Aus antiimperialistischer Perspektive muss man zwar dem Internationalismus aus grundlegenden Überlegungen zur Struktur des Imperialismus einen außerordentlichen Stellenwert einräumen, doch drängt sich abseits der politischen Praxis durchaus die Frage nach dem strategischen Stellenwert auf. Infotische und Demonstrationen zum Nahen Osten, die Teilnahme an internationalen Konferenzen und die Schaffung eines Netzwerkes annähernd Gleichgesinnter, sind kaum Praxisformen, die den alten Anspruch einer revolutionären Perspektive des Internationalismus aufrecht erhalten können. Wenn Solidarität aber immer noch eine Waffe sein soll, wie können wir diese dann effizient einsetzen? Oder müssen wir uns von diesem Konzept der Solidarität unter den aktuellen historischen Bedingungen verabschieden?

In der kommunistischen Bewegung gibt es eine langwierige und sehr heftig geführte Debatte zu diesem Thema. Damit droht eine neuerliche Auseinandersetzung die alten Wunden aufzureißen und in einer bloßen Polemik zu enden. So war bis in die 1980er Jahre der Begriff Internationalismus ein klar definierter Code, dessen Bedeutung für die unterschiedlichen Strömungen je verschieden definiert war, der aber gleichzeitig zur Festigung der eigenen Identität diente. Denn wenn man in Moskau von Internationalismus sprach, hatte das eine ganz andere Bedeutung als wenn man in Peking darüber diskutierte.

Diese historischen Strömungen des Kommunismus gehören der Vergangenheit an. Dies kann auch als Chance begriffen werden, sich nun verschiedenen Fragestellungen von einer neuen Richtung her zu nähern. Denn neben der rein strategischen Bedeutung des Internationalismus, die in Moskau immer unter dem Begriff „Wissenschaftlicher Kommunismus“ abgehandelt wurde, stellt sich auch die Frage nach dessen kultureller Bedeutung. Insbesondere in Anbetracht des Kollaps der strategischen Kräfteverhältnisse in Westeuropa – oder anders formuliert in den Zentren des Imperialismus – erscheint letztere Fragestellung umso fruchtbarer.

Proletarischer Internationalismus

Obwohl die Referenz auf die historische Debatte zunächst als unfruchtbar beschrieben wurde, so scheint es dennoch notwendig, kurz auf die Geschichte dieser Diskussion einzugehen. Denn allein durch die kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen ergeben sich durchaus neue Perspektiven, die eine interessante Annäherung an das Konzept „Solidarität“ ermöglichen.

Der Begriff der Solidarität war schon in den Ursprüngen der kommunistischen Diskussion eng mit dem Konzept des Internationalismus verbunden, obwohl sich der konkrete Bedeutungszusammenhang je nach historischem Kontext verschoben hatte. Schon der junge Marx hatte in seinen philosophischen Studien einen bestimmten Begriff von Internationalismus, der natürlich in den damaligen Status seines Theorie-Entwurfs eingebettet war. „Das Proletariat ist Träger der Erneuerungsmission der Menschheit, weil es, als reine Negativität, allein fähig zum allgemeinen revolutionären Umsturz ist; der Proletarier ist in der Tat der völlig eigentumslose, allgemeingesetzte oder internationalisierte Mensch, da er ja, durch die Enteignung seiner Produktionsmittel von den Beschränkungen des Privateigentums entbunden, nichts zu verlieren hat und deshalb fähig ist, die Entfremdung zu überwinden.“ (Gallisot 1985, 566)

Mit den Studien zur Ökonomie und der Überarbeitung seiner Begrifflichkeit von Entfremdung und vom Wesen der Menschheit hat sich auch der Begriff des Internationalismus etwas gewandelt. Der französische Historiker René Gallisot hat dies als Gewinnung eines realistischen Gehalts im proletarischen Internationalismus angesehen (Gallisot 1985, 566). Doch diese Interpretationsweise steht noch unter dem Paradigma eines bloßen Wechsels von Idealismus zum Materialismus bei Marx, das selbst wieder in einer etwas naiven Realismus-Konzeption fundiert ist. Der Realismus beschränkt sich hier auf die Erkenntnis des rein Positiven, wie etwa in der Deutschen Ideologie ausgeführt wird. Damit leidet diese Interpretation an einem wesentlichen Mangel, der einer Überarbeitung bedarf.

Dennoch gab es eine wesentliche Verschiebung in der Begrifflichkeit von Internationalismus bei Marx, die zu berücksichtigen ist. Wesentliches Fundament des proletarischen Internationalismus ist nun nicht mehr die Entfremdung, sondern die Ausbeutung, die wiederum mit ökonomischen Kategorien wie notwendige Arbeitszeit und Mehrarbeit begründet wird. „… von daher kann die Aktion der Arbeiter den Abgrund überwinden, der sie in gegenseitige Konkurrenz und Aufsplitterung stürzt, und aus dem Proletariat eine klassenkämpferische Kraft machen, für die Zahl und Zusammenhalt sprechen und die fähig zu internationalen Verbindungen ist, auch wenn ihr Kampf in bezug auf den Staat in einem bestimmten Sinne ›noch national‹ ist.“ (Gallisot 1985, 566f.)

Marx geht also in der Analyse der Ökonomie, die letztendlich auch auf eine Analyse des Staates zusteuert, dazu über, auch dem nationalen Element eine größere Bedeutung einzuräumen. Diese Überlegungen schärft er noch zusätzlich in der Auseinandersetzung mit den politischen Fragen zu Polen, Irland und letztendlich auch Indien.

Die II. Internationale stellt wiederum eine wichtige Etappe in der Veränderung und Entwicklung des Begriffs Internationalismus dar. Denn in dem Zusammenschluss der Arbeiterparteien wurde der Begriff auf die Reproduktion zwischenstaatlicher Beziehungen reduziert. Solidarität bedeutete für die Arbeiterparteien vor allem das Hinwirken auf eine friedliche Außenpolitik der Heimatstaaten. Der Erste Weltkrieg hatte die Anfälligkeit dieser Konzeption bewiesen und der II. Internationale ihre eigene Unfähigkeit vor Augen geführt.

Antiimperialistische Solidarität

In der III. Internationale – der Kommunistischen – wurde das Thema Internationalismus wieder neu diskutiert, wobei eine grundlegende Neuinterpretation stattfand. Gerade die Kritik an der Politik der II. Internationale, insbesondere aufgrund ihrer Unterstützung des imperialistischen Weltkrieges, hatte die Debatte vorangetrieben. Dabei rückte erstmals der antikoloniale Kampf ins Zentrum des Interesses: „Der revolutionäre Internationalismus im Gegensatz zum Reformismus, der sich auf das Nationalinteresse beruft, definiert sich also als Antiimperialismus, der den nationalen Befreiungskampf der unterdrückten Völker (die Frage der Völker des Ostens) mit dem Wohl der sowjetischen Revolution verbindet, aber auch mit der Aktion der entwickelten Arbeiterbewegung.“ (Gallisot 1985, S. 569)

Lenin entwickelte vor allem auf dem zweiten und dritten Kongress der III. Internationale eine strategische Grundlage, die dem antikolonialen Kampf im Prozess der Weltrevolution eine besondere Rolle zusprach: „Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind in dieser Beziehung große Veränderungen eingetreten, nämlich: Millionen und Hunderte Millionen – faktisch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung unseres Erdballs – treten jetzt als selbständige aktive revolutionäre Faktoren auf. Und es ist absolut klar, daß in den kommenden entscheidenden Schlachten der Weltrevolution die ursprünglich auf die nationale Befreiung gerichtete Bewegung der Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs sich gegen den Kapitalismus und Imperialismus kehren und vielleicht eine viel größere revolutionäre Rolle spielen wird, als wir erwarten.“ (Lenin 1988, S.505) Das hier entwickelte Konzept war immer noch beseelt von einer gemeinsamen Grundlage des Emanzipationskampfes. Wobei Lenin die internationale Solidarität von einem zunächst philosophischen, später ökonomisch begründeten Begriff auf eine politische Strategie hin trimmte. Der Internationalismus bedeutet hier vor allem ein strategisches Zusammenspiel der revolutionären Kräfte.

Sowjetische Kanonisierung

Diese strategisch-taktischen Überlegungen Lenins wurden in der Folge von den moskautreuen Kommunistischen Parteien im sogenannten Wissenschaftlichen Kommunismus zur Drei-Kräfte-Theorie kanonisiert. Die drei Kräfte des weltrevolutionären Prozesses wären demnach das sozialistische System, das vor allem durch die Sowjetunion repräsentiert worden sei, die Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Staaten und die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt: „Jede der drei großen revolutionären Kräfte der Gegenwart – die Völker der sozialistischen Länder, die internationale Arbeiterklasse und die Völker, die gegen Kolonialismus und Neokolonialismus, für nationale Unabhängigkeit kämpfen – erfüllt ihre historische Rolle.“ Und weiter: „Der sich entwickelnde revolutionäre Weltprozeß nimmt alle revolutionären sozialistischen und demokratischen Kräfte und Abteilungen in sich auf und vereinigt sie zu einem einheitlichen Strom.“ (Fedossejew 1973, 110)

In der sowjetischen Konzeption wurde der Internationalismus weiterhin als strategisches Problem aufgefasst. Doch dabei gewann die Frage, welche dieser Komponenten den Hauptwiderspruch ausmache, eine entscheidende Bedeutung. „Der Grundwiderspruch der gegenwärtigen Epoche ist der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Er umfaßt die ganze Welt, ist allgemeingültig und berührt alle Bereiche der Gesellschaft: die Ökonomie, die Politik und die Ideologie.“ (Fedossejew 1973, 105) Damit gewann aber der proletarische Internationalismus in diesem Verständnis eine ganz eigene Bedeutung. Insbesondere prosowjetische Kommunistische Parteien verwendeten den Begriff proletarischer Internationalismus als Synonym für die Haltung zur Sowjetunion. Eine zu scharfe Kritik an der UdSSR hätte in der damaligen Argumentation das Prinzip des Internationalismus verletzt.

Insgesamt kristallisierten sich in den drei großen Strömungen des Marxismus unterschiedliche Konzepte des Internationalismus heraus, die René Gallisot kurz zusammenfasst: Neben dem prosowjetischen proletarische Internationalismus, der als Prüfstein für die Solidarität zur UdSSR galt, hatte sich ein tiersmondistischer Internationalismus im Maoismus etabliert, der sich an den nationalen Befreiungsbewegungen orientierte, und ein ouvrieristischer Internationalismus, der weiterhin auf die Solidarität des Proletariats pochte (Gallisot 1985, 570). Dies ist insofern vereinfachend, da es auch trotzkistische Strömungen gab, welche die nationalen Befreiungsbewegungen stärker betonten.

Die Auseinandersetzung zwischen Sowjet-Marxismus, Maoismus und Trotzkismus hatten in der Konzeption des Internationalismus ein geeignetes Terrain gefunden. Die Debatte wurde gewohnt scharf geführt: „Die in ihrem Wesen nationalistischen Behauptungen, daß sich das Zentrum der Weltrevolution in die Zone der nationalen Befreiungsbewegungen verlagert habe, sollen die Hegemonieansprüche derjenigen, die meinen, daß sich dieses Zentrum schon seit langem in Peking befinde, verschleiern. Vor allem soll damit die marxistische [sic!] Definition des Charakters der gegenwärtigen Epoche angefochten und der Hauptwiderspruch der Gegenwart – der Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus – ersetzt werden durch den Widerspruch zwischen den unterdrückten Völkern und dem Imperialismus, der häufig als Widerspruch zwischen ‚reichen‘ und ‚armen‘ Nationen, zwischen dem ‚reichen Norden‘ und dem ‚armen Süden‘ ausgelegt wird. Mit solchen Behauptungen wird der revolutionäre Kampf der Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft, des internationalen Proletariats und der anderen demokratischen Kräfte faktisch diskriminiert und an die zweite Stelle gesetzt.“ (Iskenderow 1972, 92)

Drei-Welten-Theorie

Die scharfe Kritik der prosowjetischen Strömung richtete sich vor allem gegen die maoistische Konzeption des Internationalismus. Dieser Ansatz war eng verflochten mit der Revolutionstheorie, die Mao für die Situation in China entwickelt hatte. Insbesondere in der Schrift „Über den Widerspruch“ wandte sich Mao auf einer quasi-philosophischen Ebene gegen seine innerparteilichen Gegner und auch gegen die Abgesandten der Kommunistischen Internationale, die vor allem die sowjetischen Erfahrungen auch für China als verbindlich ansahen.

Entscheidender Streitpunkt war die Frage, was denn nun eigentlich als Hauptwiderspruch der damaligen Epoche zu gelten habe. Mao entwickelt in seiner Konzeption die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen: „Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.“ (Mao 1968, 388) Und weiter: „Im Falle eines Aggressionskriegs der Imperialisten gegen ein solches [halbkoloniales, S. B.] Land können sich seine verschiedenen Klassen – mit Ausnahme einer Handvoll Verräter an der Nation – zeitweilig zu einem nationalen Krieg gegen den Imperialismus zusammenschließen. Dann wird der Widerspruch zwischen dem Imperialismus und dem betreffenden Land zum Hauptwiderspruch, während alle Widersprüche zwischen den verschiedenen Klassen innerhalb des Landes (einschließlich des Hauptwiderspruchs unter ihnen, nämlich des Widerspruchs zwischen dem Feudalsystem und den Volksmassen) vorübergehend auf den zweiten Platz verwiesen sind und eine untergeordnete Stellung einnehmen.“ (Mao 1968, 389)

Gerade diese Betrachtungen über die Besonderheit des Widerspruchs von Mao haben Althusser dazu veranlasst, einen wesentlichen Bruch zwischen der Hegelschen einfachen Dialektik und der Marxschen Dialektik als Überdeterminierung festzustellen. Entscheidend ist in der Herangehensweise, dass nun der Hauptwiderspruch keineswegs unmittelbar aus der ökonomischen Basis der Gesellschaft abgeleitet werden kann, sondern eben auch politische Widersprüche als Haupttriebkraft einer Epoche erscheinen können.

Doch auch Maos Überlegungen erlebten in Folge – ähnlich wie bei Lenin – eine Dogmatisierung und Kanonisierung. Die Kommunistische Partei propagierte die sogenannte Drei-Welten-Theorie, die mühevoll aus einzelnen Mao-Zitaten konstruiert wurde: „Die Dritte Welt ist zur Hauptkraft im weltweiten Kampf gegen Imperialismus, Kolonialismus und Hegemonismus geworden. Sie hat eine für die Menschheitsgeschichte völlig neue Lage geschaffen.“ (Redaktion der ‚Renmin Ribao‘ 1977, 43) Vor allem in der chinesischen Außenpolitik wurde die Drei-Welten-Theorie zu einer Richtschnur, mit katastrophalen Konsequenzen: Es wurden Bewegungen und Regierungen in der Dritten Welt unterstützt, die sich gegen die Sowjetunion oder gegen Verbündete der Sowjetunion stellten. China unterstützte aufgrund dieser Außenpolitik etwa den Schah von Persien, Joseph-Désiré Mobutu in Zaire – dem heutigen Kongo – und nicht zuletzt auch Augusto Pinochets Putsch gegen die Salvador-Allende-Regierung.

Solidarität schafft Identität

Wie kann sich nun unter den Vorzeichen einer solchen Debatte über den Internationalismus ein neues Konzept von Solidarität entwickeln? Wie könnten Bedingungen eines solchen neu verstandenen Internationalismus aussehen?

Unbestritten ist wohl, dass die Solidarität mit dem sozialistischen Lager keine Hauptreferenz des Internationalismus mehr sein kann. Nun könnte man annehmen, dass sich aktuell das strategische Gewicht in der Drei-Kräfte-Theorie der Weltrevolution einfach auf einen der übrig gebliebenen Pole verschoben hätte. Das würde konkret bedeuten, dass beispielsweise die Widerstandsbewegungen der Dritten Welt zur Hauptkraft eines – wenn auch abgeschwächten – weltrevolutionären Prozesses geworden wären.
Doch diese These würde in ihrer Neuausrichtung nicht weit genug gehen. Die Bedingungen für eine Neukonzeption erfordern tiefergehende Transformationen. Ein wesentliches Element dabei ist, dass der Internationalismus nicht mehr in der Kategorie einer strategischen Formierung der Kräfte eines weltrevolutionären Prozesses gedacht werden kann.

Allein der Blick auf die aktuelle historische Situation zeigt, dass wir nicht von einem solchen Prozess der Weltrevolution sprechen können. In dieser Kategorie griff Lenin zwar auf ganz allgemeine Konzepte von Marx und Engels zurück, namentlich auf die Internationalisierung der Produktion und der historischen Mission der Arbeiterklasse (Thiry 1989, 1414). Dennoch rückte bei Lenin immer mehr die politische Analyse der konkreten Situation im Ausgang des Ersten Weltkriegs in den Vordergrund. Er hatte in seinen Überlegungen zur Weltrevolution vor allem die Rätebewegung in Westeuropa vor Augen. Nach deren Zerschlagung rückten die antikolonialen Kämpfe zunehmend in den Mittelpunkt seines Interesses.

Dieser historische Zyklus, der 1917 seinen Ausgangspunkt hatte, endete 1989 mit dem Untergang des Sozialismus. Die Grundstruktur der darauf folgenden, aktuellen historischen Epoche gestattet derzeit nicht den Begriff „Weltrevolution“. Unsere Situation heute ist nicht vergleichbar mit jener, die für die Herausbildung dieses Begriffs ausschlaggebend war. Es herrscht ein absoluter Mangel an politischen Subjekten, die sich selbst als revolutionär begreifen. Dieser Mangel auf der subjektiven Seite ist Ausdruck eben dieser veränderten Grundstruktur. In einem mühevollen Prozess der Entwicklung müssen sich solche Subjekte erst konstituieren, damit sie dann wieder die Arena der Geschichte betreten können.

Die andere Lösung, sich auf abstrakte Kategorien, wie die historische Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, zurückzuziehen, ist ebenfalls keine befriedigende Lösung. Über eine solche Notwendigkeit kann intellektuell – bei einem gewissen gemeinsamen Grundverständnis der Welt – rasch Übereinkunft erzielt werden. Doch die Einsicht in die Notwendigkeit schafft noch nicht die Voraussetzung für die Heranreifung einer weltweiten Erschütterung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Doch die Verabschiedung vom Konzept der Weltrevolution ist nur ein Aspekt in Bezug auf den Entwurf eines neuen Internationalismus. Denn eine wesentliche Konsequenz daraus ist, dass wir uns beim Internationalismus vom Paradigma einer strategischen Allianz von politischen Kräften, von der Vorstellung eines strategischen Spiels überhaupt verabschieden müssen. Internationalismus ist zumindest nicht mehr ausschließlich eine Frage des Zusammenwirkens der politischen Bewegungen in Westeuropa mit dem antikolonialen Widerstand in Palästina, Irak oder Afghanistan. Diese Annahme wäre in Anbetracht der realen Kräfteverhältnisse allzu vermessen. Was uns aber bleibt – zumindest in der aktuellen historischen Epoche – ist der kulturelle Aspekt. Wir dürfen also in der Neukonzeption des Internationalismus unseren Blick nicht mehr auf das strategische Zusammenwirken der politischen Subjekte richten, sondern vielmehr auf jene Praxisformen, die dazu fähig sind, solche Subjekte zu produzieren.

Damit dringt man aber in grundlegende Fragen der Subjekt-Konstituierung vor. Tatsächlich können wir nicht mehr davon ausgehen, dass sich ein Subjekt aufgrund rationaler Einsicht in die Notwendigkeit der Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse auf ein revolutionäres Programm einschwört – sowohl auf einer individuellen als auch kollektiven Ebene. Vielmehr konstituieren sich Subjekte – und damit auch das revolutionäre Subjekt – aufgrund kultureller Praktiken. Es scheint daher ein fruchtbarer Weg zu sein, den Internationalismus und die Solidarität mit antiimperialistischen Kämpfen als konstituierende Praxis für die Entwicklung eines potenziell revolutionären Subjektes aufzufassen. Dies liegt aber weniger in den strategischen Kräfteverhältnissen begründet als vielmehr im Bruch mit der kulturellen Hegemonie in den imperialistischen Staaten.

Der alte Internationalismus hat sich überlebt, es gibt keinen Masterplan der weltweiten, revolutionären Erschütterung mehr. Von den früheren Diskussionssträngen aber wäre die Betonung des antiimperialistischen Kampfes in den Ländern der Peripherie wohl jener, bei dem es sinnvoll wäre, ihn weiter zu verfolgen. Damit könnte man vor allem an die Überlegungen Maos anknüpfen: Insbesondere die Betonung des antikolonialen Kampfes in der Dritten Welt als neue Hauptkraft hat sich auf fast zynische Weise realisiert: Sowohl der Sozialismus als auch die Arbeiterbewegung in Westeuropa sind zusammengebrochen.

Unser Vorschlag wäre, den Internationalismus unter dem Paradigma eines kulturellen Maoismus neu zu entwickeln. Der Fokus auf die antiimperialistischen Kämpfe in der Dritten Welt sollte gekoppelt werden mit einer Betonung des Internationalismus als Praxisform, die trotz ihrer strategischen Bedeutungslosigkeit eine notwendige Politik darstellt. Denn diese politische Praxis ist angehalten, den Ansatz eines Bruchs in der herrschenden Hegemonie herzustellen, auch wenn die Kräfteverhältnisse dagegen sprechen. Die hundertzwanzigste Solidaritätsveranstaltung zu Palästina wird die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten nicht einmal peripher tangieren. Dennoch kommt in solchen Veranstaltungen eine Verbundenheit mit antiimperialistischen Kräften zum Ausdruck, die der vorherrschenden Hegemonie zuwider läuft.

Literatur:

Fedossejew, P. N.; Afanasjew, W. G.; Brutenz, K. N. e. a. : Wissenschaftlicher Kommunismus, 2. Auflage, Berlin 1973.

Gallisot, René: Internationalismus, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3: Gattung bis Judenfrage, Berlin 1985, S. 565-571.

Iskenderow, Achmed A.: Die nationale Befreiungsbewegung. Probleme, Gesetzmäßigkeiten, Perspektiven, Berlin 1972.

Lenin, Wladimir Iljitsch: III. Kongreß der Kommunistischen Internationale. 22. Juni – 12.Juli 1921, in: Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke. Band 32: Dezember 1920 – August 1921. 8. Aufl, Berlin 1988, S. 473–519.

Mao Tse-tung: Über den Widerspruch, in: Ders.: Ausgewählte Werke, Peking 1968, S. 365–408.

Redaktion der ‚Renmin Ribao‘: Die Theorie des Vorsitzenden Mao über die Dreiteilung der Welt ist ein bedeutender Beitrag zum Marxismus-Leninismus, Peking 1977.

Thiry, Bruno: Weltrevolution, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 8: Überbau bis Zusammenbruchstheorie. Nachträge und Register, Berlin 1989, S. 1414–1417.