Als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, oft auch Montanunion genannt, (EGKS) (1951) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) (1957/58) entstand sie als regionaler superimperialistischer Pol zur Abwehr des damals für viele attraktiven Sowjetkommunismus. Nebenzweck war die Zähmung des deutschen Imperialismus. Die Politiker waren stärker am außenpolitischen-militärischen Aspekt interessiert. Die Zollunion war für sie ein Substitut – nicht unwichtig, aber nicht prioritär.
Imperium ist ein Begriff, der einer Klarstellung bedarf – war er doch als „Empire“ der Titel eines erfolgreichen Buchs von Michael Hardt und Antonio Negri. Ich verstehe unter Imperium das Ziel eines sozioökonomischen und politischen Prozesses, der
(a) den Staat als bürokratisches Herrschafts-Gebilde auf großregionaler, übernationaler Ebene aufbaut. Dieser Staat sucht seine Legitimität nicht mehr im Mythos der Volkssouveränität, sondern im Mythos der universalen Rationalität und des Sachzwangs.
(b) Er benennt gegenüber einer staatsskeptischen Bevölkerung als Grundlage für das angebli¬che Hauptziel Wohlfahrt eine Deregulierung der Kapitalaktivitäten und die Freizügigkeit des Finanz- und Banken-Kapitals über nationalen Grenzen hinweg. Der Freizügigkeit des Kapitals folgt die Freizügigkeit der Arbeitskräfte. Ziel ist die Große Schere in den Einkommen.
Zwei nationale Traditionen
Die französische „republikanische“ Tradition nationaldemokratischer Entwicklung baut auf der Idee einer rationalen Bürokratie auf. Sie soll von einer monolithischen Nation legitimiert werden. Theoretisch von unten nach oben, von der Nation zum Staat orientiert, ist sie praktisch ein top down Modell. Dies soll auch dem europäischen Imperium als Raster dienen. Die EWG war von vorneherein beladen mit den Ambitionen der Ideologen. Alexandre Kojève, der sich selbstironisch den letzten bürgerlichen Theoretiker des Stalinismus nannte, sah sie als wesentlichen Schritt zum platonischen Imperium. Über Gesinnungsgenossen wie Robert Marjolin, französischer Europapolitiker, erhielten sie unmittelbar Einfluss auf die Zentralbürokratie. Sie bestimmten die Rhetorik, welche die Politiker nicht, sie selbst aber ganz und gar ernst nahmen.
Die deutsche Ideologie ist strukturell realitätsnäher. Sie legte sich auf die Nutznießer, das deutsche Großkapital mit seinen globalen Ambitionen fest. Die „soziale Marktwirtschaft“ kam dem Misstrauen der deutschen Mittelschichten gegenüber dem Staat entgegen. Es gab ein Bedürfnis, den erdrückenden prussianischen Staat zurückzubauen. Die Ordo-Liberalen[fn]Der Ordoliberalismus ist ein Konzept für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der ein durch den Staat geschaffener Ordnungsrahmen den ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger auf dem Markt gewährleisten soll (http://de.wikipedia.org/wiki/Ordoliberalismus)[/fn] sprangen auf den Zug auf. Wie sehr dieses Bedürfnis auch in der sonstigen Bevölkerung verankert war, ist eine Frage – jedenfalls gewann die CDU damit Wahlen. Ludwig Erhardt wurde zum Gesicht dieser Strategie. Man machte damit Politik für die Oberschichten und verkaufte sie als Politik der Gegenmacht gegen den Staat.
Die EWG war als Zollunion konzipiert. Eine gemeinsame Währung war vorerst kein Ziel der Mitgliedsstaaten. Als Ziel der EWG-Kommission war sie präsent und wurde von Anfang an debattiert und von einigen propagiert. Die Art. 105 – 109 EWGV legen eine Koordinierung der Währungspolitik fest. Robert Triffin war hochgeschätzter und -bezahlter Berater der Kommission und vor allem Marjolins. Er meinte, die Währung spiele wirtschaftlich keine so große Rolle, der politische Aspekt sei viel wichtiger – erstaunlich für einen Ökonomen.
Die EWG damals und erst recht die Euro-Zone heute bilden keinen optimalen Währungsraum (OCA, optimal currency area). Heute, nach der „Eurokrise“, ist das in jeder Zeitung zu lesen. Der Begriff des „optimalen Währungsraums“ ist selbst fragwürdig: Er ist nicht zufällig mit der politischen Tendenz hin zur Einheitswährung entstanden. Dies ist gegenwärtig hauptsächlich ein Argument des Neoliberalismus gegen die Politik und war es immer. Das sollte uns hellhörig machen! Die OCA-These hat zwei Gesichter: Im einen sehen wir den Marktfundamentalismus der ökonomischen Dogmatiker: Man darf nicht in den Markt eingreifen, indem man politisch bestimmte Wechselkurse bzw. eine Einheitswährung durchsetzt. Das zweite Gesicht benennt die Einheitswährung in einem höchst inhomogenen Wirtschaftsgebiet als Realitätsverweigerung, vielmehr als brutale Umverteilungspolitik: Sie ist gewollt, verkleidet sich aber als Unwissen um die Wirkung einer solchen Politik.
Schließlich ist der Euro zwar eine regionale Währung. Aber sie war von den Zentralbanken und den von ihnen beeinflussten Formulierungen stets als internationale, als globale Strategie gedacht. Im Art. 110 des EWG-Vertrags liest man: „Durch die Schaffung einer Zollunion beabsichtigen die Mitgliedsstaaten, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, der schrittweisen Beseitigung im internationalen Handelsverkehr … beizutragen.“ Erst danach werden die „günstigen Auswirkungen … auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ der Mitgliedsstaaten angeführt. Das abstrakte ideologische Ziel ist global. Die EWG soll als regionalisierte Organisation imperialistischer Welt Politik funktionieren.
Die Entwicklung
Die gewählten Politiker, die Oberflächenpolitik, benutzten die Währungsunion als Dekor für Sonntagsreden. Die wichtigere Kategorie der Politiker, die Bürokraten, wünschten von Anfang weg konkrete Schritte. Im Aktionsprogramm für die zweite Stufe der EWG (1962-1965) vom 24./29. Oktober 1962 schlug Walter Hallstein, von Robert Marjolin (Vizepräsident der Kommission) getrieben, bereits eine Währungsunion als Ziel vor. Er stieß auf Widerstand nicht nur De Gaulles, sondern auch Ludwig Erhardts. Hallstein war Politiker genug, die Idee fallen zu lassen. Erhardt traute den Franzosen nicht: Er wollte den deutschen Weg mit der „Unabhängigkeit“ der Bundesbank oder keinen, auf keinem Fall eine Planung.
Die „Unabhängigkeit“ von Zentralbanken nach deutschem Muster ist die Unabhängigkeit einer machtvollen Finanzbürokratie von parlamentarischer Kontrolle. Der wichtigste Politikbereich entzieht sich damit jeder Einflussnahme seitens der Bevölkerung. Eine solche „Unabhängigkeit“ ist in einem demokratischen Gemeinwesen ein Skandal. Es sagt Einiges über die Qualität der Demokratie in Österreich und der BRD.
Bürokratie bedeutet nicht Übermaß an Beamten. Darum ist jeder Verweis auf die „vielen Brüsseler Beamte“ kontraproduktiv. Es ist kein Zufall, dass die seinerzeitige Sowjetunion eher „unterverwaltet“ war und doch zu Recht als Bürokratischer Kollektivismus gekennzeichnet wurde. Bürokratie heißt eine „rationale“ (formale) Funktionsweise ohne Legitimierung durch Rückbindung an parlamentarische oder sonstige Kontrollprozesse. In diesem Sinn ist auch das Europäische Parlament Teil der Bürokratie. Denn diese Abgeordneten sind in keiner Weise am Elektorat orientiert. Die einzige Funktion ihrer Wahl ist, nationalen Stimmungen Ausdruck zu geben.
Nach diesem ersten Misserfolg der Kommission war der nächste konkrete Anlauf bescheiden. Das Barre-Memorandum über die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Zusammenarbeit in Währungsfragen innerhalb der Gemeinschaft vom 12. Feber 1969 ist hauptsächlich seines Stils und seiner Argumentation wegen von Bedeutung: Wir müssen handeln, „vertiefen“, d. h. die Bürokratie stärken und zentrale Vorgaben machen. Ansonsten fällt „die Gemeinschaft“ auseinander. Dies wird zum Mantra bis in die Gegenwart, stets wiederholt, von quasi-religiöser Gewissheit und nicht begründet.
Die neue Instrumentalität der E(W)G
Mit der Zollunion war diese Phase um 1970 vorbei. Die politische Klasse entdeckte die Währungsunion als Hauptvehikel ihrer Absichten. Einige Politiker sahen die Möglichkeiten einer Fundamentalpolitik ohne Kontrolle, sprangen auf und zogen die anderen mit. Die ersten Versuche in den 1970er und 1980er Jahren waren allerdings ein jämmerlicher Misserfolg.
Parlamentarische Demokratie ist, gemessen an den Ansprüchen der normativen Demokratie-Theorien, keine befriedigende Form politischer Selbstbestimmung. Aber sie ist immerhin die einzig funktionierende, die Großgesellschaften bisher entwickelt haben, und hat mehr Potenzial als man gemeinhin annimmt. Die herrschenden Klassen fürchteten sie. In der Zwischenkriegszeit brachten sie diverse Faschismen dagegen in Stellung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stimmung anders. Aber erst nach einer Generation wurden die realen Auswirkungen auf die Lebenswelt der Unter- und unteren Mittelschichten sichtbar. Folge der neuen Politik des europäischen Sozialstaats war ein sehr kontrolliertes Ansteigen des Anspruchs-Niveaus. Mit dem Abtreten der älteren Generation mit ihren zaghaften Bedürfnissen änderte sich dies. Der Staat wurde nunmehr als Produzent und Lieferant meritorischer[fn]Ein meritorisches Gut (meritorisch – veraltet für „verdienstvoll“) ist in den Wirtschaftswissenschaften ein Gut, bei dem die Nachfrage der Privaten hinter dem gesellschaftlich gewünschten Ausmaß zurückbleibt (http://de.wikipedia.org/wiki/Meritorisches_Gut)[/fn] öffentlicher Güter gesehen. Das war nicht vorgesehen gewesen.
Die politischen Eliten antworteten mit einem Strategie-Wechsel. Der Grundgedanke war einfach: Man muss die politischen Entscheidungen dem Druck steigender Ansprüche entziehen, man muss die Orte der Entscheidung weit vom Demos, vom Volk, wegbringen. Das parlamentarische System sollte erhalten bleiben. Die Grundsatzentscheidungen aber sollten nicht mehr auf nationaler Ebene und somit beeinflussbar vom Demos fallen. Dort durfte – „Subsidiaritätsprinzip“ – noch die Ausführung verbleiben.
Die EG / EU hatte die nötige Distanz. Sie wurde als übernationales Instrument des europäischen Kapitals gegründet. Als die Zollunion stand, wurde ab 1970 ihre Kapazität frei. So ist es keineswegs zufällig, dass um diese Zeit die ersten realistischen Planungen für die Währungsunion auftraten.
Der „Werner-Plan“ und der Tindemans-Bericht
Mit der Pfundabwertung 1967 und den Problemen des US-Dollars kamen die fixen Wechselkurse des Bretton Woods-Systems in die Krise. Dazu gesellte sich die unverschämte Art, wie die USA ihre Stellung einsetzten, um die Rüstung (Vietnam) zu finanzieren. Der luxemburgische Minister-Präsident Pierre Werner wurde 1969/1970 von der Konferenz der Staatschefs bzw. vom Rat beauftragt, den Plan „einer vollständige Wirtschafts- und Währungsunion“ zu entwerfen (Werner-Bericht 1970).
Der Werner-Bericht ist der Plan für ein Wirtschaftspolitisches Direktorat. Im Gegensatz zur Oberflächenpolitik ist die Bürokratie langfristig orientiert. Sie greift bei ihrem Vorgehen immer wieder auf ältere Entwürfe zurück. In der EU ist dies ausgeprägt. Das Wirtschaftspolitische Direktorat blieb als Institution unvollständig. Vor wenigen Monaten griff die Kommission auf den alten Plan zurück: Sie wird die nationalen Budgets kontrollieren. Das ist jener Kern demokratischer Prozesse, an dem sich der Parlamentarismus als Politik entwickelt hat.
Der heutige „EU -Stil“ ist voll entwickelt. Die Sprache ist der Diplomatie entlehnt, aber für bürokratische Vorgänge adaptiert. Im Vergleich zu später wird offen gesprochen. In der einleitenden Diagnose kommt als negatives Code-Wort „wirtschaftliches Ungleichgewicht“ vor. Damit sind mehrere Aussagen verknüpft: (a) Die EWG funktioniert für die Nutznießer, z. B. das deutsche Großkapital, nicht zufrieden stellend. – (b) Aber auch Frankreich und Italien haben Grund zur Beschwerde. Die Transferunion (Gemeinsamen Agrarpolitik, heute stärker die Regionalpolitik) als Anliegen der Franzosen und Italiener ist kein echter Ersatz für mangelnden industriellen und Finanz-Erfolg.
Dem „Ungleichgewicht“ setzt man Harmonisierung entgegen; das bedeutet einen Verwaltungsföderalismus – Brüssel gibt vor, die Mitgliedsländer zu administrieren. Es geht um die Kontrolle der Wirtschaftspolitik. Die Zollunion hat zu einem gewissen Kontrollverlust geführt. Außerdem entziehen sich die Nationalstaaten den „Empfehlungen … in ganz allgemeiner Form“ oft durch „Austrittsklauseln“. Es gilt also, eine irreversible – das Wort kommt oft – Zentralisierung durchzusetzen. Ein Mittel dazu ist eine zentrale Budget-Politik mit einer „vollständigen Unterdrückung von fiskalischen Grenzen“ (Festlegung von indirekten und direkten Steuern sowie Kontrolle der Haushaltsbeschlussfassung) durch den Rat. Gegenwärtig steht dies wieder auf dem Programm, jetzt aber durch die Kommission, eine völlig unverantwortliche Institution.
Das andere Mittel aber ist die Währungsunion. Das deutsche Kapital erwies sich als stärker als das französische, weil in Frankreich die Gewerkschaften weniger unter Kontrolle waren. Also wollte die Bürokratie eingreifen. Die „Befreiung“ der Kapitalbewegungen war das Ziel, ohne regionale oder strukturelle „Verzerrungen“. Verzerrung ist alles, was die Machtverhältnisse zwischen den nationalen Gesamtkapitalien politisch beeinflussen will.
Da ein Superstaat geschaffen werden soll, braucht man auch das Dekorum eines solchen (National-) Staats. Das ist der Parlamentarismus, das Europäischen Parlament (EP). Zuerst ist man verwundert: Die Kommission handelt sich damit Scherereien ein. Doch das EP ist Teil der Bürokratie. Es ist ein Scheinparlament, weil es keinen Demos, vertritt. Es repräsentiert einen Verbund von Oberen Mittelschichten und Intellektuellen – so wie Parlamente des 19. Jahrhunderts „Besitz und Bildung“ vertraten.
Die faktische Entwicklung verlief etwas anders
Im Gegensatz zum Werner-Bericht und seinem nüchternen, technokratischen Stil prägt hohler politischer Pathos den Tindemans-Bericht. Er pflegt eine Katastrophen-Rhetorik: „Verwundbarkeit“, „Ohnmacht“, „besorgte Erwartung“, usf. Er versucht eine Krise herbeizureden, um Ausnahme-Maßnahmen zu rechtfertigen. Hier wird das Pathos des Staats angestrebt. Die „Europäische Union“ soll ein supranationaler Staat werden. Im Werner-Bericht zeigt sich die Hand der Technokraten am umfangreichen technischen Teil der Arbeitsgruppe aus Zentralbank-Leuten. Im Tindemans-Bericht kehren die Oberflächen-Politiker zurück. Die Währungsunion soll das eigentliche Ziel, das Imperium und seine Bürokratie, irreversibel machen, in einem notwendigen „großen Schritt“, der in den 1990er Jahren so entscheidend werden wird. Die „politische Union“ wird Selbstzweck; die „europäische Identität“ ist der Wunsch, „nach außen vereint aufzutreten“.
Unter den „konkreten Sofortmaßnahmen“ des Abschnitts C werden die wesentlichen Ziele aufgezählt:
(a) Erste Priorität ist das Auftreten als einheitliche imperialistische Macht vis-à-vis der Dritten Welt („neue Weltwirtschaftsordnung“).
(b) Dazu bedarf es der Klärung der innerimperialistischen Konkurrenz zu den USA, „zugleich unser Verbündeter … und … gelegentlich unser Rivale“, die „Führungsmacht“.
(c) Denn noch existiert das sowjetische Lager, und die Alternative des „Realsozialismus“ wird ernst genommen. Aber in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hat man sich ihm gegenüber als Einheit konstituiert.
(d) In Zeiten der Ölkrise hat der arabische Nahe Osten (noch hat die USA den Iran in der Hand) plötzlich viel Geld und damit viel Macht. Man muss ihm also geeint gegenüber treten.
„Imperialism is over“, behaupten Hardt und Negri. Liest man diese Berichte, so begreift man, wie lächerlich diese Aussage ist. Das Imperium ist eine supra-imperialistische Einheit. Imperiumsbildung ist ein globaler Prozess, der sich auf regionaler Ebene abspielt. Die Währungsunion war das wichtigste Instrument dabei. Das ist ein Lehrbuch-Beispiel für das Paradigma bürokratischer Herrschaft.
Es waren Willy Brandt und Helmut Schmidt, welche auf diesem Weg weiter drängten. Das Europäische Währungssystem (EWS) entstand 1978. Der erste Versuch ohne eine formale Einheitswährung erwies sich rundum als Fehlschlag. Es kam in den nächsten Jahren zu zwölf „Anpassungsrunden“, Auf- und Abwertungen. Die Teilnehmer am EWS traten nach Belieben ein und aus. Anfang der 1990er Jahre gab es nahezu einen Zusammenbruch. Nach dieser Erfahrung war es Leichtfertigkeit und zynische Brutalität, eine volle Währungsunion zu planen. Doch man wollte um jeden Preis das „Friedensprojekt EU“, den einzig bisher gelungenen Ansatz zu einem Supra-Imperialismus! Wirtschaftliche Systeme können nur durch politische Absicherung funktionieren.
In einer entscheidenden Wende setzte sich nach der kleinen Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre in den USA Reagan und in Großbritannien Thatcher durch. In Frankreich zogen Mitterand und Delors nach. Der Regierungswechsel in der BRD von Schmidt zu Kohl spielte keine Rolle: Beide vertraten dieselbe Politik. Man wandte sich vom Keynesianismus ab und dem Monetarismus zu. Der Keynesianismus der 1960er und 1970er Jahre war eine Mischung mehrerer politischer Tendenzen. Ein hohes Beschäftigungsniveau war wichtig. Man fürchtete Arbeitslosigkeit. Aber die Vorgangsweise war eine Politik der leichten Hand – weil man die Erfahrung wachsender Staatseinnahmen gemacht hatte. Auch politische Entscheidungsunfähigkeit insbesondere der Sozialdemokraten spielte eine Rolle: Sie wollten eine gewisse politische Verschiebung erreichen, wagten aber nicht, die alten politischen Präferenzen über Bord zu werfen. Monetarismus ist ein Marktfundamentalismus, der bewusst staatliche Interventionen vermeidet, um den Stärkeren nicht in die Quere zu kommen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich ungehindert durchzusetzen.
Die neue Strategie: Der Delors-Plan
Diese Wende sowie der Zusammenbruch des „Realsozialismus“ machte die Währungsunion erst möglich. Die europäische Nachkriegspolitik hatte über einen inklusiven Sozialstaat die Unterschichten erfolgreich integriert. Dazu hatte man in den Markt interveniert und massive staatliche Mittel eingesetzt. Darauf verzichtete man nun langsam: Die marktfundamentalistische Politik des Monetarismus wurde zum Credo der EG. Der „U-turn“, Verteilung nach oben, stellte kein politisches Problem mehr dar. Man musste nicht mehr gegensteuern; dazu wären flexible Kurse ein Hauptmittel, wenn kein einheitlich kompetitives Gebiet vorhanden ist. Die Geburt des neuen Imperiums in Brüssel stellte die Krönung dar, und die wollte man mit der Währungsunion irreversibel machen.
Dieser Paradigmenwechsel ging in mehreren Schritten vor sich. Die zwei wichtigsten Etappen waren die „Süderweiterung“ (1981 – 1986) sowie der Zusammenbruch des Sowjetsystems. Das Zerbröseln der Diktaturen im Olivengürtel war die Gelegenheit. Die Süderweiterung steckte die Claims des entwickelten nordwestlichen Zentrums ab und bot ein Experimentierfeld für die neue Politik der Disziplinierung. Der Zusammenbruch des „Realsozialismus“ bot schließlich die Gelegenheit zu einem „Ende der Geschichte“ nach konservativem Geschmack. Nun war es möglich, die Politik der akzentuierten Ungleichheit und des übernational-bürokratischen Staats zu verwirklichen. Man konnte die Beuteareale im Osten einsammeln.
Der Europäischen Rat gab einen Bericht über die Wirtschafts- und Währungsunion in Auftrag: Die Währungsunion ist das Mittel, die Beteiligten zu einer harten Wirtschaftspolitik zu zwingen. Äußere Zwänge („constraints“) sind unerlässlich. Es soll eine Politik nach deutschem Muster geführt werden; die einzige Währung, die genannt wird, ist die „Deutschmark“. Das machte für die „Starken“ – die BRD – Sinn und war im Interesse ihrer dominanten Kräfte, ob Helmut Schmidt oder Helmut Kohl. Auf sie schauten Delors und Mitterand neidvoll hin, und mit dem Eifer von Konvertiten machten sie sich ans Werk.
Die Regierung der BRD war skeptisch. Sie wollte nur eine Währungsunion, wenn das „role model“ Bundesbank für die Europäische Zentralbank (EZB) gelte. Ausgerechnet in dieser Zeit kam sie unter Druck. Sie brauchte die Zustimmung des Westens zur Einvernahme der DDR. Die hausbackene deutsche Ideologie gewann Oberhand über monetaristisch-technokratische Interessen. Der Regierung war dieses Ziel wichtiger als die unumschränkte Macht über die EZB. So bestand sie auf den Konvergenz-Kriterien, die mit einer Einheitswährung nicht mehr zu tun haben wie jedes beliebige andere Kriterium auch. Die Konservativen wurden abgewählt. Sie haben ihr Ziel jedoch erreicht. Sozialdemokraten und Grüne führten ihre Politik in einer Härte durch, welche die CDU nicht gewagt hatte und sie auch heute nicht wieder wagt.
Die Länder, die sich aus ihrer Wettbewerbsfähigkeit heraus die Einheitswährung mittelfristig leisten konnten (der alte D-Mark-Block und Frankreich), zögerten. Die Bürger leisteten Widerstand und blieben z. T. draußen (Dänemark). Der Widerstand kam aus der konservativen Ecke. Er erreichte kurzfristig nicht viel. Die Motive sind teilweise in konservativer Dogmatik zu finden, im Bestehen auf den „optimalen Wirtschaftsraum“; teilweise zeigt sich aber, dass der Konservativismus in seiner Gebundenheit an kleinere nationale Einheiten auch bereit ist, einige Interessen des Finanzkapitals in Frage zu stellen, während Neoliberale sie rückhaltslos unterstützen. Altkonservative Kräfte, auch offen reaktionäre Positionen konnten dies nutzen und sind gegenwärtig im Aufwind.
Aber die wirtschaftliche Peripherie, Italien, Iberien, Griechenland, Osteuropa, die drängten aus symbolischen Gründen in die Union. Das Finanz- und Großkapital wusste, was sich ihnen da freiwillig zum Fraß darbot. Eine Krise war nur eine Frage der Zeit.
Der Euro ist eine Strategie der Kernländer in der heutigen EU. Er soll dem Ausbau ihrer ökonomischen und politischen Dominanz dienen. Als solcher ist er eine Strategie der zwei Geschwindigkeiten. Er hat allerdings einen strategischen Wandel durchgemacht. Als man den Werner-Bericht schrieb, bestand die EWG aus sechs Kernländern. Die „Westerweiterung“ brachte zwei hoch entwickelte Länder hinzu (UK, Dänemark) und eines (Irland), das wegen seiner geringen Größe nicht zählte und überdies britische Peripherie war.
Mit dem Olivengürtel kamen in den 1980er Jahren drei schlecht entwickelte Länder dazu. Die EWG betrachtete sie als ihre Domäne. Das war schon das Modell der „Osterweiterung“: Ziel war politische und ökonomische Disziplinierung, der Aufbau eines süd- und osteuropäischen Protektorats. Daneben hatten sich in der „Norderweiterung“ kleine hoch entwickelte Wirtschaften angeschlossen (Österreich, Schweden, Finnland). Sie wollten die Beute mit teilen und waren bereit, dafür zu zahlen. Die Norderweiterung scheiterte zur Hälfte, weil die Bevölkerung zweier Kandidaten (Schweiz, Norwegen) ihre Regierungen desavouierten.
Durch die Süderweiterung hatte die EG eine Zwei-Kreis-Struktur angenommen, besteht aus Zentrum und Peripherie. Was man in Südeuropa erfolgreich und noch mit einer gewissen Schonung durchexerziert hatte, wurde in den 1990ern mit aller denkbaren Brutalität in Osteuropa wiederholt: Die ganze Region wurde nun auf eine neue Weise zur „Zweiten Welt“.
Die Konsequenzen
Der Euro ist pures Gift für die beteiligten Wirtschaften. Die BRD und Österreich könnten mit einem hohen Kurs gut leben und zogen gewisse Vorteile aus der Hartwährungspolitik, dieser „Produktivitätspeitsche“. Sie fällt jetzt weg: Das bringt den Exporteuren hohe Gewinne und den Konsumenten hohe Preise. Das System hat eine positive Leistungsbilanz. Für Griechenland, Portugal und Spanien ist der Kurs dagegen viel zu hoch.
Umgekehrt waren und sind die Zinssätze völlig inkongruent. Diesmal verhält es sich umgekehrt: Die österreichische und die deutsche Entwicklung werden durch die zu hohen Zinsen gebremst. Gebremst wurde das Wachstum auch durch die gleichzeitigen Ansätze einer Austeritätspolitik vor der Etablierung des Euro. Für den Oliven-Gürtel aber waren die im Vergleich zu vorher niedrigen Zinsen ein Anreiz, sich hoch zu verschulden.
Die Entwicklung hat einen etwas anderen Weg genommen, als man es sich erwarten konnte. Die schlecht entwickelten Länder profitierten kurzfristig von der Aussicht auf die Euro-Einführung. Die Zinssätze sanken bereits in den 1990er Jahren. Auch die Inflation sank in diesen Hoch-Inflationsländern nach einem ersten Teuerungsschub. Sie bekamen so mehr Kredite zu besseren Bedingungen. Diese Jahre beschleunigte das Wirtschaftswachstum für eine Reihe von Jahren (Griechenland 2000 – 2007 im Schnitt: 4,27 %; Spanien: 3,61 %; Portugal nur 1,48 %; gegenüber BRD 1,53 %; Österreich 2,36 % und der Euro-15-Raum 2,15 %). Aber es war eine Blase: Mit den niedrigen Zinsen und der bail out-Erwartung seitens der Kreditgeber konnte man, privat wie staatlich, wesentlich mehr Kredite aufnehmen.
Die Befürworter der Währungsunion (WU) hatten argumentiert: Innerhalb einer WU kommt es zu stärkeren Handelsströmen, zur Finanzmarkt-Integration. Damit entstehe ein „Versicherungs-Mechanismus“ gegen „externe Schocks“. Sie schienen recht zu behalten – kurzfristig! Allerdings ging es nicht um „Schocks“, sondern um kurzfristig günstigere Bedingungen bei der Finanzierung von Investitionen und staatlichen Defiziten. Als der „Schock“ kam, die Finanz- und Industriekrise 2008, erwies sich die WU als Falle. Sie lud in der Vergangenheit zu verfehlten Investitionen sowie zur Überschuldung ein. Sie ist in der Gegenwart eine Falle, weil sie nur mehr die Wahl zwischen Pest und Cholera zulässt: zwischen enorm aufgeblasenen Schulden durch neue Kurse im Falle eines Austritts; und einer vom Vereinigten Wirtschafts-Direktorat EU – IMF verordneten enormen Deflations-Krise. Der Austritt ist unvermeidlich, wenn die Wirtschaften wieder auf die Füße kommen wollen. Für die Bevölkerungen der starken Länder aber wird dies zur Rosskur. In Kürze werden die französischen, britischen und … Banken von ihren Regierungen neuerlich „gerettet“ werden – auf Kosten der Bevölkerung.
In den starken Ländern erwies sich der Euro als eine veritable Wachstumsbremse. In Österreich sanken die Zuwachsraten auf die Hälfte von vorher. Die BRD oder vielmehr der größere Teil der arbeitenden Menschen kam auch zum Handkuss. Der Anschluss der DDR erzeugte eine schleichende Krise, und die BRD hat jetzt ihr eigenes „Mezzogiorno“-Problem. Dazu kommt die Umverteilung nach oben durch die Zahlungsbilanz-Überschüsse.
Die Vorteile der Währungsunion aber sind fiktiv: „Preistransparenz“ ist ein Witz. Niemand fährt von Wien nach Kreta, um billiges Gemüse einzukaufen. Aber es geht noch trivialer: Ich erinnere mich an die Zeitschrift „Profil“ vor einem Jahrzehnt. Da meinte ein Journalist, wie großartig doch die Währungsunion sei – als Journalist müsse man doch oft reisen, und da erspare man sich jetzt das lästige Wechseln…
Griechenland, Portugal und Irland, auch Spanien und Italien haben die Wirkung des Euro zu spüren bekommen. Der ESM (European Stability Mechanism) als Folgeprogramm des EFSF (European Financial Stability Facility – der „Rettungsschirm“) ist ein Programm zur vollen Entmündigung der Mitgliedsstaaten. In Hinkunft wird systematisch bail out stattfinden, verknüpft mit „stringenten Programmen ökonomischer und fiskalischer Anpassung“ im Rahmen „strikter Konditionalität“ bei „strenger ökonomischer Überwachung“ („Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats zur Änderung der Verordnung (EG) 1466/97“ sowie mehrere vergleichbare Verordnungsentwürfe). Die heutigen „Problemstaaten“ sind die Versuchskaninchen. Gerichtet ist die Übung noch stärker gegen größere Wirtschaften, die vorweg diszipliniert werden sollen: mit der Drohung der Entmündigung.
Was hat sich gegenüber ähnlichen Programmen des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Osmanischen Reich oder Ägypten oder des 20. Jahrhunderts gegenüber Entwicklungsländern geändert? Inhaltlich wenig, aber es richtet sich jetzt an die Adresse des eigenen Clubs. Weiters wird es stärker formalisiert. Die CACs (collective action clauses), international seit 2003 üblich als Teil von Kreditverträgen, hat es faktisch auch bisher schon gegeben („Pariser Klub“; „Londoner Klub“): Durch Mehrheitsbeschluss können auch gegen den Willen einzelner Schuldner Umschuldungen durchgeführt werden. Der ESM, die EZB und die EU treten formell als europäischer Gesamtkapitalist auf.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Der Euro verkörpert zwei konservative Revolutionen: Die eine besteht in der monetaristischen Reaktion gegen die keynesianische Politik der zwei Jahrzehnte von 1955 – 1975. Die andere, wesentlich weit- und folgenreichere, ist der Aufbau eines bürokratischen Imperiums, strukturiert nach Zentrum und Peripherie. Der Aufbau des europäischen Imperiums war für das europäische Zentrum aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen, Liberalen und „Grünen“ die logische Folge des sowjetischen Zusammenbruchs. Der neidvoll beachtete kurzfristige Erfolg des Reaganismus in seiner vermenschlichten Version als Clintonismus war ein zweiter Impuls („Lissabon-Strategie“). Gegenwärtig sind die sonst in den Vordergrund geschobenen ökonomischen Ziele, Wachstum vor allem, nicht mehr prioritär. Politische Ziele dominieren, globale Interventionen, die Aufrechterhaltung und Ausweitung des Besitzstands, usf. Es geht um den Aufbau des politischen Apparats, des nachnationalen bürokratischen Staats.
Und die politischen Konsequenzen?
Die Euro-Krise ist eine politische Krise. Es ist eine Krise des politischen Modells der EU. Das supra-nationale bürokratische Imperium will den Euro als eiserne Faust einsetzen, um neoliberale Disziplin im Zentrum und im ersten Kreis der Peripherie, im Mittelmeer-Raum und im europäischen Osten, zu erzwingen.
Die Krise im Olivengürtel ist aber eine riskante Angelegenheit geworden: Es gibt keinen geschlossenen Block des Kapitals und noch weniger der Handlungsträger in der Politik. Das harte Finanzkapital will schlicht „sein Geld“ und ist dafür bereit, selbst einen Aufstand in Kauf zu nehmen. Derzeit überwiegt diese Tendenz, mehr noch in der Politik (EZB und Europäischer Rat) als in der Wirtschaft. Dort allerdings haben die Rating-Agenturen mit ihrer kompromisslosen Verteidigung der Banken das Sagen.
Die politische Klasse in Europa versucht, ihr politisches Projekt, das EU- und Euro-Imperium zu retten: Und sie versucht, die Krise der Staatsverschuldung in der Peripherie zu nutzen, um das Imperium auszubauen und seine bürokratische Struktur unumkehrbar zu machen. Ihre Chancen stehen nicht schlecht. Sie hatte aber auch schon einen besseren Stand. Sie versucht gleichzeitig, möglichst viel vom Kleingeld des Finanzkapitals, zu retten. Was in der letzten Zeit passierte, ist eine Umschuldung, die beim kommenden Schuldenschnitt die Gläubiger-Banken vollkommen entlastet und den Gesamtverlust auf die öffentlichen Hände überwälzt. Dieses Ziel kommt dem strategischen in die Quere. Damit bringt die europäische politische Elite einen großen Teil der Bevölkerung massiv gegen sich auf.
Die europäische Linke ist marginalisiert. Gegenwärtig werden nur mehr Rechtspopulisten als effiziente Gegner dieser EU-Politik wahrgenommen. Das allerdings ist ein allgemeineres Problem. Die Linke war stets und ist heute noch mehr eine Intellektuellen-Bewegung. Der EU-Widerstand aber ist plebeischer Widerstand und anti-intellektuell. Das ist die eigentliche Dialektik der modernen Geschichte.
In einigen Gruppen der Linken gibt es die Illusion, das Imperium quasi schmerzlos in die seinerzeit von Lenin oder Trotzki gewünschten „Vereinigten Staaten von Europa“ umwandeln zu können. Wenn man sich schon auf Lenin beruft, sollte man ihn auch lesen. Vor der Oktober-Revolution setzte er sich gründlich mit dem Staat auseinander. Und dabei legte er – in gewohnt dogmatischer Weise – den allergrößten Wert auf den Marx’schen Gedanken: Man kann den Staat nicht einfach in den Dienst der neuen Politik nehmen: Man muss den alten Staatsapparat zerschlagen.
Man kann die EU nicht einfach in den Dienst einer gegensätzlichen Politik nehmen. Man muss sie „zerschlagen“. Das ist eine nicht veraltete Idee. Die Konkretisierung liegt nahe: Die EU ist ein übernationaler Staat, also ist (in gewissem Ausmaß) Renationalisierung eine Strategie-Variante. Natürlich ist dieses „Zerschlagen“ der EU für eine politische Praxis kein konkreter Hinweis. Wie dies praktisch aussehen sollte, liegt jenseits dieser Überlegungen.