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Kein Frühlingserwachen
2. November 2011 - Margarethe Berger

Die unerwarteten und spontanen Erhebungen in Tunesien und Ägypten, später auch in anderen arabischen Ländern, führten in Palästina zunächst zu einer Aufbruchstimmung. Die Intifada selbst war an einem Tiefpunkt angelangt: Der Gazastreifen ist seit Jahren von der Außenwelt abgeriegelt. Die Westbank befindet sich unverändert unter israelischer Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) ist bereit, die Ziele eines jahrzehntelangen Befreiungskampfes aufzugeben und zur offenen Kollaboration mit Israel und den USA überzugehen. In der Westbank hat die Massenbewegung ihre Dynamik verloren und ist gerade dabei, sich in eine von westlichen Fördergeldern abhängige NGO-Szene zu verwandeln.

Zurück zur Einheit

In dieser Situation schwappte die Aufbruchstimmung v.a. aus Ägypten über und führte zunächst dazu, die Wiederherstellung der Einheit der palästinensischen Führung zu fordern. Fatah und Hamas traten in Verhandlungen ein, was zweifellos als Zeichen gestärkten Selbstbewusstseins gegenüber dem Westen gewertet werden kann. Denn dieser hatte die beiden großen Fraktionen der palästinensischen Befreiungsbewegung nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 in einen Bürgerkrieg getrieben. Seit damals war es die Politik des Westens, Hamas zu ächten und die Fatah als „verantwortungsvollen Partner“ aufzubauen. Diesen Spaltungsforderungen die Einheit entgegen zu stellen, bedeutet, die dienerische Haltung ein Stück weit aufzugeben.

Die kurze „dritte Intifada“

Danach folgte die so genannte Dritte Intifada, eine Form der Mobilisierung nach dem Vorbild der arabischen Aufstände. Im Internet, über Facebook und andere virtuelle Medien, wurde dazu aufgerufen, den Jahrestag der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser/innen am 15. Mai 1948, mit Massendemonstrationen zu begehen. Es ging darum, an diese Katastrophe (arab. Nakba) zu erinnern und das Recht auf Rückkehr, eine der historischen Forderungen der palästinensischen Befreiungsbewegung, symbolisch in die Tat umzusetzen.

Das Ergebnis dieser Mobilisierung ist weitgehend bekannt. Als an praktisch allen Grenzen des israelischen Staates, zu Syrien am Golan, zum Libanon im Norden, am Eretz Checkpoint des Gazastreifens und an den Checkpoints des Westjordanlands, unerwartet viele und entschlossene Menschen demonstrierten und im Begriff waren, die Grenze zu durchbrechen, schoss die israelische Armee in die Menge und tötete insgesamt 22 Demonstrant/innen. Die meisten Opfer waren am Golan und an der libanesischen Grenze zu beklagen, während die Demonstrant/innen in der Westbank schon von der Polizei der PNA daran gehindert worden waren, bis an die Grenze vorzudringen. In Gaza beschoss die israelische Armee den Protestzug bereits weit vor dem Checkpoint mit Mörsergranaten und verhinderte so, dass dieser die Grenze erreichte. Ähnliches geschah in Jordanien.

Niemand hatte mit einer derartigen Brutalität der israelischen Armee gerechnet, zumal die Demonstrant/innen unbewaffnet waren. Das Medienecho war auch im Westen groß, weshalb viele die Aktion, trotz der hohen Opferzahl, als Erfolg betrachteten und von ihrer mobilisierenden Wirkung überzeugt waren.

Im Gegensatz dazu wurden die ganz ähnlichen Ereignisse des 5. Juni von den Medien weitgehend verschwiegen. Wieder war, im Gedenken an den Sechs-Tage-Krieg 1967, über Internet zu spontanen Demonstrationen an den Grenzen zum historischen Palästina aufgerufen worden. Wieder schoss die israelische Armee in die Menge, vor allem an der Grenze zu Syrien, und tötete dort mehr als zwanzig Personen.

Diesmal ging niemand mehr von einer mobilisierenden Kraft der Ereignisse aus. Ganz im Gegenteil, was auf diesen Tag im Yarmuk-Lager in Damaskus folgte, mag symbolisch für die Verwirrung und Enttäuschung stehen, welche die Aktion auslöste. Empörte Angehörige der Opfer gingen auf Führer der Organisationen los und machten sie für den Tod ihrer Kinder verantwortlich. Dem Tumult fielen weitere Personen zum Opfer. Damit war erst mal der Weg der Basismobilisierungen ohne politische Parteien mit klaren Programmen an seinem Ende angelangt.

Abbas’ Gang vor die UNO

Die zunächst vielversprechende Aufbruchstimmung in Palästina ist somit wieder zum Erliegen gekommen. Da die Veränderungsprozesse in den arabischen Ländern stocken, hat auch der Druck auf die PNA abgenommen. Der Prozess der nationalen Einheit liegt auf Eis, nachdem die Fatah darauf bestand, Salam Fayyad, den allseits bekannten Mann der USA, zum Premierminister einer Einheitsregierung zu machen. Unannehmbar für die Hamas, hat diese die Verhandlungen abgebrochen. Bezeichnend ist es, dass auch die Massenmobilisierungen für die Einheit sofort abflauten, nachdem die großen Organisationen ihr Interesse daran verloren hatten.

So hat Abbas Zeit für ein politisches Projekt ganz anderer Art: die Bemühungen um die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die UNO. Was beim ersten Hinsehen eine zielführende Initiative scheinen mag, verliert diesen politischen Kredit in einem breiteren Kontext. Die Idee der Zweistaatenlösung würde dadurch gegenüber dem Konzept eines demokratischen Staates für alle seine Bewohner/innen an Stärke gewinnen. Viele der historischen Forderungen der Palästinenser/innen, wie das Recht auf Rückkehr, könnten jedoch in einer Zweistaatlösung nicht eingelöst werden. Zudem würde Israel von all jenen Staaten anerkannt werden, die dies jetzt nicht tun.

Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass 1988, als Arafat die Gründung eines palästinensischen Staates erklärte, dieser von mehr Staaten anerkannt wurde als damals Beziehungen zu Israel unterhielten. Damit ist klar, dass auch im Falle einer Anerkennung durch die UNO heute, die Initiative im Sicherheitsrat blockiert würde und faktisch keine Auswirkungen hätte – mit Ausnahme der völkerrechtlich-moralischen Genugtuung, die aber seit Jahrzehnten gegeben ist (vgl. die UN-Resolution 3379 von 1975, die Zionismus und Rassismus gleichsetzt) und den Palästinenser/innen keine Veränderung ihrer Situation eingebracht hat.

Israel araberfrei?

Derweil verschärft der israelische Staat die Gangart gegen die arabische Minderheit innerhalb der eigenen Grenzen. Der arabischen Sprache wurde vor Kurzem der Status einer offiziellen Sprache aberkannt. Mit dem Herem Law wird jedwede Aktivität im Sinne von Boykott-Maßnahmen gegen Israel unter Strafe gestellt. Und selbst die jüngste soziale Bewegung, die ebenfalls in Anlehnung an die arabischen Revolten die israelische Regierung durch Massenmobilisierungen und Besetzung öffentlicher Plätze zur Verbesserung der sozialen Situation zwingen will, entbehrt nicht der Absurdität: Um der Wohnungskrise Herr zu werden verspricht die israelische Regierung neue Wohnungen zu bauen – in den Siedlungen in der Westbank und in dem noch zu einem großen Teil von Palästinenser/innen bewohnten Galiläa.

Facebook reicht nicht

In Palästina wird das deutlich, was auch allgemein für den arabischen Frühling gilt: So sehr die Form der Revolten, die spontanen, weitgehend führungs- und strukturlosen Massenmobilisierungen, das Wachsen und Fortbestehen der Bewegungen erst möglich gemacht haben, so sehr stellt sie ab einem gewissen Zeitpunkt eine Hürde dar. Facebook reicht nicht aus, um Antworten auf die schwierigen politischen Herausforderungen zu geben, die sich in den arabischen Ländern und in Palästina den Bewegungen stellen. Es bedarf politischer Strukturen, die in der Lage sind, strategisch und perspektivisch zu denken. Der arabische Frühling hat die politisch-sozialen Verkrustungen in der Region gehörig durcheinander gebracht und somit die Voraussetzungen für die Herausbildung solcher Strukturen geschaffen. Palästina mag sich in diesen Prozess einreihen. Wahrscheinlich werden jedoch die treibenden Impulse in der nächsten Zeit aus anderen arabischen Ländern kommen.