Grund für die unterschiedlichen Herangehensweisen sind die direkte militärische Intervention der NATO in Libyen und die Dynamiken, die einen ähnlichen Ausgang in Syrien herbeiführen könnten. Das syrische Regime unterliegt dem westlichen Diktat nicht zu hundert Prozent. Vielmehr verteidigt es seine Souveränität durch kalkulierte Unterstützung des palästinensischen und libanesischen Widerstands sowie durch die Allianz mit dem Iran. Die Volksrevolte richtet sich nicht gegen diese Haltung des Staates, sie hat zwar sozialen Charakter, jedoch bringt sie das Regime ins Visier des Westens, der sein bestes tut, um den Aufstand als Erpressungsmittel gegen Bashar al-Assad zu instrumentalisieren. In einem historischen Moment, in dem die syrische und die gesamte arabische Linke erneut eine Chance hätte, gesellschaftliche Relevanz zu erlangen, wird sie von den Ereignissen überrumpelt und durch dieses Dilemma mehr geschwächt als durch den Volksaufstand gestärkt.
Komparsen in der Bernard Henry Levi-Show
Wie aus einer Einmischung des Westens zugunsten von Demokratie in einem arabischen Land der gewohnte koloniale und pro-zionistische Diskurs wird, das zeigte am 4. Juli die Solidaritätskonferenz mit der syrischen Opposition, die von der Zeitschrift Règles de Jeu [Spielregeln] des französischen Denkers Bernard-Henry Levy organisiert wurde. Der Charakter der Organisatoren sowie die Prominenz der Teilnehmer aus der französischen Elite warfen Fragen über die syrischen Teilnehmer und ihre Verbindung zu westlichen und zionistischen Interessen auf.
Unter den Teilnehmern befanden sich prominente Figuren der Sarkozy-Elite und alte Ideologen des Kalten Krieges vom Kaliber eines Glucksman. Der Ton der Konferenz drückte die westliche und zionistische Herangehensweise an die Frage der Demokratie im Arabischen Raum aus. Zwei junge Aktivisten der syrischen Opposition wurden sofort des Konferenzraums verwiesen, als sie den zionistischen Charakter der Organisatoren und ihre Rolle bei der Unterstützung Israels sowie dessen Verbrechen an den Palästinensern kritisierten. Zur Gewährleistung der Sicherheit im Saal waren prozionistische Aktivisten bereit gestellt.
In Paris lebende Führer der syrischen Opposition, wie etwa Haytham Manna and Subhi Hadidi warnten vor dem politischen Charakter der Konferenz, der die Tür für eine Auslandsintervention à la Libyienne öffnen würde.
Sieben Konferenzen und eine tiefe Spaltung
Die Pariser Konferenz war das dritte Treffen der syrischen Auslandsopposition nach den Parallelkonferenzen von Brüssel und Antalya im Juni. Die Brüsseler Konferenz erhielt viel mediale Aufmerksamkeit und vermittelte den Eindruck, es formiere sich eine Oppositionsfront gegen das Regime, die auch den Forderungen der Aufständischen im Land eine politische Stimme verleiht.
Während die Brüsseler Konferenz nur Reformforderungen stellte und im Schatten der Antalya-Konferenz stattfand, war letztere von der Moslembrüderschaft dominiert und vom türkischen Staat stark beeinflusst. Sie forderte als erste den Sturz des Regimes (und verwendete auch die Fahne Syriens statt der offiziellen panarabischen Fahne). Der mediale und politische Erfolg der Antalya-Konferenz spaltete die Gruppe um die Damaskus-Erklärung, die bekannteste sy-rische Oppositionsgruppe. Die Führer der Damaskus-Erklärung kritisierten die Konferenz aufgrund der islamistischen und türkischen Vereinnahmung. Sie wurden im Gegenzug von einigen Konferenzteilnehmern als stalinistisch bezeichnet. Das Regime selbst nützte den antagonistischen Charakter der Konferenz, um seine Repression gegen die moderatere Opposition im Inland zu rechtfertigen.
Angesichts der zunehmenden westlichen Einmischung und des warnenden Beispiels Libyen ist die syrische Opposition in ihrer Haltung zu einer ausländischen Intervention und zum Ausmaß, das eine solche annehmen sollte, gespalten. Zwar begrüßt keine Gruppe offen eine Militärintervention der NATO, jedoch unterscheiden sich die Positionen zu einer möglichen Intervention der „moslemischen“ Türkei. Die Moslembruderschaft, kurdische und liberale Gruppen befürworten eine türkische Intervention. Hingegen berichtete der syrische Oppositionelle Burhan Ghalyun in einem Artikel, die Türkei habe eine Massenflucht über die Grenze provoziert, damit ein Flüchtlingsproblem entstehe und der Weg für eine türkische Militäroperation bereitet werde, deren Ziel es sei, eine Sicherheitszone auf syrischem Boden zu errichten.
Andererseits ist es auch die Haltung des Regimes, die dem pro-westlichen (und pro-türkischen) Teil der Opposition ermöglicht, die Oberhand zu erlangen. Die meisten Oppositionsführer im Land wurden verhaftet. Denn gerade, als nach der Pariser Konferenz die Auslandsopposition leicht diskreditiert war und eine Oppositionskonferenz in Damaskus stattfand und das Regime zu einem Dialog mit den Oppositionskräften im Land aufrief, eskalierte der Staatsapparat die Gewalt gegen die Demonstranten. Als in Istanbul zu einer neuen Konferenz der Opposition für den 17. Juli aufgerufen wurde, geschah dies gleichzeitig in Damaskus. Nur wurde die Konferenz in Damaskus gewaltsam aufgelöst, was praktisch die Initiative wieder an die Auslandsopposition übertrug. Mit seiner bisher letzten Eskalation beendete das Regime jede Möglichkeit zum Dialog und setzte nunmehr auf die Keule.
Auf der Seite der Opposition hat wiederum die Konferenz von Istanbul die Unfähigkeit der Auslandsopposition, einen Konsens gegen das Regime zu finden, gezeigt. Mehrere Teilnehmer berichteten über die hegemoniale Position der Moslembruderschaft. Der Versuch, eine Exilregierung zu bilden, artete in einen Kampf um die Sitze aus. Kurdische Teilnehmer forderten die Streichung des Wortes „Arabisch“ aus dem offiziellen Namen Syriens („Arabische Syrische Republik“), was für alle anderen Teilnehmer inakzeptabel war. Sie zogen sich (bis auf jene aus islamischen Milieus) von der Konferenz zurück. Nach der Konferenz von Istanbul herrschte Funkstille seitens der Auslandsopposition. Das islamistische Milieu veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Türkei eine Konferenz von Religionsgelehrten, die dem Regime Assad aus religiöser Sicht die Legitimität entzog.
Ende August kündigten die in Istanbul versammelten Oppositionskräfte einen Übergangsrat an. Die Erklärung einer Auslandsführung der Opposition wurde von einigen Exponenten der Bewegung als einseitig und nicht-repräsentativ kritisiert. Beispielsweise hatten schon einige Tage zuvor andere Gruppen einen Koordinationsrat ausgerufen. Eine Woche später riefen Aktivisten der Jugend der Syrischen Revolution erneut einen Übergangsrat aus. Dessen 94 Mitglieder sollen einen repräsentativen Querschnitt durch die syrische Gesellschaft darstellen. Inwieweit dieser Übergangsrat tatsächlich repräsentativ ist und wie die unterschiedlichen politischen Kräfte darauf reagieren werden, ist derzeit noch nicht abzusehen.
Im Inland entwickelte die Bewegung während der großen Offensive des Regimes im Juli und August allmählich ihre lokalen Führungen und Koordinationen. Vergebens durchquerte die vierte Division, eine aus den loyalsten Elitetruppen zusammengesetzte Einheit der Armee, das Land und stürmte eine Stadt nach der anderen. Das Ausmaß an Tod und Zerstörung ist umstritten und wird erst durch unabhängige Untersuchungen festgestellt werden können. Kaum verließ die Armee jedoch einen Ort, entflammten die Massenproteste erneut und in größerer Zahl als zuvor.
Regime verabsäumt Dialog
Die vom Regime angekündigten Reformen kommen nach dem Blutbad zu spät und es stößt nunmehr sowohl im In- als auch im Ausland auf taube Ohren. Auch in der Annahme, dass Präsident Assad an einer Versöhnung interessiert wäre, bleibt es zweifelhaft, ob er diese seinem Staatsapparat aufzwingen könnte. Assad selbst war als schwache Person der Kompromiss zwischen den Machtzentren des syrischen Regimes. Jeder Kompromiss mit der Opposition wäre jedoch für die Führenden im Staatsapparat ein Machtverlust. Sie würden daher versuchen, jede Deeskalation zu torpedieren.
In diesem Sinne ähnelt die Taktik des syrischen Regimes bei seiner Offensive jener der anderen Regime in der Region: Gewaltsame Beendigung der Revolte und gleichzeitig Ankündigung von Reformen. Die Tendenz der Opposition, vermehrt zu Waffen zu greifen, macht die militärische Lösung für das Regime politisch vertretbar. Im Unterschied zu anderen Staaten wie Bahrain oder Jordanien kann sich das Regime nicht der vollen Unterstützung des Westens sicher sein. Möglicherweise sieht der Westen in Assad einen angenehmen und berechenbaren „Feind“, aber je schwächer das Regime wird, desto bereiter ist der Westen, die Regimegegner zu unterstützen. Das Regime befindet sich daher in einem Rennen mit der Zeit. Es muss die Revolte schnell genug ersticken: Wackelt Assad, so wird nach dem Nächstbesten gesucht und diesen versucht die Moslembruderschaft (nicht nur in Syrien) anzubieten. Wenn dabei noch die syrische Armee durch NATO-Angriffe dezimiert wird, ist das auch aus israelischer Sicht begrüßungswert.
Auf der anderen Seite steht eine Auslandsopposition, die zunehmend von der Moslembruderschaft dominiert wird. Sie hat eine offene Rechnung mit dem Regime, das 1983 ihren bewaffneten Aufstand blutig niederschlug. Auch wenn das Regime versuchen sollte zu deeskalieren, würden die Brüder danach trachten, Kanonenfutter auf den Straßen zu mobilisieren, das das Regime mit hoher Wahrscheinlichkeit auch opfern würde.
Die Interessen der Auslandsopposition, die syrisch-iranische Achse zu brechen und ein sunnitisches Bündnis gegen die Schiiten aufzubauen, treffen sich aktuell mit jenen des Westens und seiner Alliierten in der Region. Im August verurteilte die Arabische Liga das Vorgehen des Regimes, und mehrere arabische Staaten zogen ihre Botschafter aus Damaskus ab. Im Westen wurden die Sanktionen gegen Syrien verschärft. Für den Westen muss das syrische Regime unter Druck gesetzt werden, um bestimmte Forderungen zu erfüllen: Die Grenzen zum Staat Israel effizient zu sichern, die Beziehung zu den Widerstandsbewegungen in der Region und zum Iran abzubrechen und sich in der westlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnung in der Region zu integrieren.
Das grundlegende Dilemma
Der allmähliche Umstieg der Aufständischen auf den bewaffneten Kampf hat seine Gründe in der exzessiven Gewaltanwendung seitens des Regimes. Der Staat ist vermehrt auf treue konfessionelle (alewitische) Elemente angewiesen, während die Opposition (vor allem im Ausland) vermehrt einen sunnitischen Charakter annimmt. Die Militarisierung, begleitet von einer Horizontalisierung der Konfrontation, kann jedoch eine schnellere Desintegration des Staates beziehungsweise eine ausländische Intervention herbeiführen.
Anders als in anderen arabischen Staaten ist die Massenbewegung mit einer Diktatur konfrontiert, die nicht vollständig prowestlich ist. Die Demokratiebewegung hat mit einem Regime zu tun, das offiziell Widerstandsbewegungen in der Region unterstützt und eine strategische Allianz mit dem Iran eingegangen ist. Diese Linie machte bislang die real existierende Widerstandsachse in der Region aus. Daher ist eine westliche Intervention zu erwarten, bei der die Bewegung instrumentalisiert wird, um die regionalen Verhältnisse zugunsten des Westens zu verschieben. Das erklärt die Reaktionen von Diktaturen wie Saudi Arabien oder Bahrain, die im Einklang mit der westlichen Eskalation ihre Botschafter aus Damaskus abzogen.
Wie in anderen arabischen Staaten ist diese Bewegung sozial motiviert und ein Ergebnis der starken Liberalisierung der Wirtschaft in den letzten zehn Jahren. Die Aufstände brachen gerade in den ländlichen Gebieten aus, in denen das Regime früher die größte Unterstützung genoss. Anfangs beschränkten sie sich auf lokale soziale Forderungen und verbreiteten sich durch die Brutalität des Regimes langsam, aber stetig im Land. Erst spät wurde der Sturz des Regimes zu einer politischen Forderung der Massen, zu einem Zeitpunkt, als das Regime seine Inflexibilität gegenüber den politischen Reformforderungen bewies.
Historisch hatte das syrische Regime sozialistische Elemente. Landreform, freier Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Beschäftigungspolitik sicherten ihm die Unterstützung in den ärmeren ländlichen Gebieten. Hingegen war die Opposition eher städtisch und verbreitete sich in den Mittelschichten. Sie war entweder kulturell motiviert (islamistische Opposition) oder ihre Hauptanliegen waren die Frage der Demokratie und der politischen Freiheiten (Linke und Liberale). Deswegen gestaltet es sich für die existierenden Oppositionsgruppen schwierig, den ausgebrochenen Volksaufstand politisch und sozial zu artikulieren. Die westliche Einmischung machte es die Regime leicht, Oppositionsgruppen als Auslandsagenten zu bezeichnen, während ausschlaggebende Exponenten der Opposition in ihrem liberalen Diskurs sowohl die soziale Frage als auch die nationale Souveränität völlig außer Acht ließen. Diese Kluft erklärt die mangelnde Verankerung der Auslandsopposition in den aufständischen Gruppen und die Tendenz der islamischen Gruppen, den Konflikt durch aus dem Ausland eingeschleuste Gruppen zu militarisieren.
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Geist des Aufstands, der durch den Arabischen Raum geht, dem authentischen Volkswillen entspringt und eine natürliche Folge der jahrelangen Herrschaft von Regimen ist, die einander trotz politischer Unterschiede in ihrem mafiösen und repressiven Charakter stark ähneln. Der spontane Charakter der Aufstände lässt alle Türen für jegliche Intervention offen, sei es durch nationale politische Kräfte oder durch das Ausland. Durch den Ausfall der Linken, der nur teilweise durch jahrelange Repression zu erklären ist, mangelt es bei den Massenaufständen an politischer Artikulation. Dadurch wird es für demagogische Kräfte, sei es seitens des Regimes oder der Moslembruderschaft, leichter, den Aufstand zu diffamieren beziehungsweise zu instrumentalisieren. Anstatt durch die historische Chance eines Volksaufstands mit sozialem Charakter zu wachsen, steht die von den Ereignissen überrumpele Linke gespalten und machtlos da und verliert das Feld an die besser organisierte Moslembruderschaft und an andere islamistische Milieus. Ändert sich nichts daran, so kann der „Arabische Frühling“ in einer Neuauflage des imperialistischen Regimes enden, die bestenfalls grün angestrichen ist.