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„Human-Kapital“
21. Dezember 2012 - Albert Reiterer

I. Globale Einkommensdifferenzen und ihre Schatten in Österreich
In den Jahren 1761–1766 unternahm der Friese Carsten Niebuhr eine groß angelegte Orient-Reise, die ihn bis nach Indien führte. Sein Hauptinteresse galt dem Nahen Osten. Er brachte u. a. eine sorgfältige Dokumentation aus Persepolis mit, die einige Jahrzehnte später die Entzifferung der Keilschrift ermöglichte. Niebuhr kam durch den Libanon und lernte dort die unterschiedlichen Bevölkerungen kennen. „Kein reicher Maronit lässt seinen Sohn in Europa erziehen, dies würde einem jungen Mann, so nimmt man an, nur schaden. … Auch würde ein Maronit mit dem, was er in Europa gelernt hat, in seinem Vaterland verhungern müssen.“ Wie das? Das wertvolle Humankapital des damals zwar noch nicht ganz so hoch entwickelten Europa wäre im Libanon ein Schaden?

Unlängst flammte in Österreich eine kurze Debatte auf, die aber auch gleich wieder verstummte. Immigranten kommen nicht nur als Hilfsarbeiter nach Österreich. Tatsächlich haben nicht wenige auch in ihrem Heimatland eine beachtliche formale Ausbildung erhalten. Aber in Österreich bzw. im Westen überhaupt nutzt ihnen dies meist nicht viel. Die formale Ausbildung der Tschechen, Ungarn und erst recht der Asiaten und Afrikaner hat nicht denselben Wert wie jene der Einheimischen. Diese Abkoppelung der Ausbildung vom Einkommen und auch das plötzliche Interesse daran sind theoretisch wie politisch von höchstem Interesse, und es ist eine hochkomplexe Diskussion.

Tatsächlich sind die Zahlen interessant. Wir müssen noch auf die Daten der Volkszählung von 2001 zurückgreifen, weil wir (noch) keine späteren in derselben Detailliertheit und Fülle haben. Akademiker, die in Österreich geboren sind, sind zu 81,8 % in den beiden obersten ISCO-„Berufshauptgruppen“ aktiv (15,0 % Führungskräfte und 66,8 % Berufe wissenschaftlicher Art), und nur zu 1,8 % in den untersten vier (Landwirtschaft, ausgebildete manuelle Arbeiter, Handwerker, Hilfsarbeiter). Kommen Akademiker dagegen aus dem Geburtsland Serbien oder Montenegro, dann gehören sie beruflich zu 51,7 % (Führungskräfte 14,8 %; „Wissenschaftler“ 36,9 %) zu den obersten Gruppen, aber zu beachtlichen 23,7 % – also dreizehn Mal häufiger als gebürtige Österreicher – in die untersten. Bei Menschen aus dem Geburtsland Türkei ist es ähnlich; bei solchen aus Polen und Rumänien deutlich abgemildert.

Man zog daraus kurz und bündig den Schluss, dass hier „Humankapital“ in großem Ausmaß vergeudet würde.

Aber der Begriff „Human-Kapital“ ist ein hoch­ideologisches Konzept. Das könnte man übrigens bei jenem Soziologen nachlesen, der – leicht variiert – das „kulturelle Kapital“ zum Schlagwort gemacht hat: bei Pierre Bourdieu. „Wert“ ist nicht nur – wie im marxistischen Denken – eine technische, sondern nicht zuletzt eine politische Größenbestimmung. Es kommt darauf an, woher man kommt, ob aus Österreich oder Afrika – und damit erhält das geflügelte Wort vom „kulturellen Kapital“ plötzlich einen multikulturellen Beiklang, der nicht beabsichtigt war und tatsächlich multikulturell ist, im Gegensatz zum häufigen Missbrauch des Worts.

Es geht vor allem um Akademiker aus den neuen, östlichen EU-Staaten. Es geht also darum, diesen Raum politisch so zu homogenisieren, dass die in der Ausbildung weitergegebenen pseudo-meritokratischen Klassenstrukturen an die Stelle bisheriger nationaler oder auch kultureller Zugehörigkeiten treten. Denn – und jetzt müssen wir nochmals etwas theoretischer werden – die riesigen Einkommensunterschiede pro Kopf sind jenen ein Rätsel, die sich auf die Mainstream-Ökonomie stützen.

Diese behauptet ja, die Arbeitenden würden nach ihrem „Grenzprodukt“ bezahlt, also danach, was der zuletzt hinzukommende Arbeiter in einem Betrieb mit gegebener Kapitalausstattung und in einer Volkswirtschaft mit einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion erzeugt: Man nimmt an, dass Arbeit und Kapital nicht komplementär sind, also in technisch und wertmäßig festen Verhältnissen zueinander stehen, sondern durch einander ersetzbar sind: Zwei Einheiten Kapital ersetzen also z. B. einen Arbeiter. Dabei gibt es abnehmende Erträge: Jede neu hinzu kommende Arbeitskraft erzeugt technisch weniger. Diese Grenzproduktivitätstheorie des Lohns ist in der Regel empirisch ganz unzutreffend – aber nicht immer. Man denke an Branchen mit starken Renten-Elementen, etwa die Energie-Erzeugung. Die Preise sind hoch, die Gewinne dementsprechend auch. Daher leistet es sich die Elite, die Arbeitenden gut zu bezahlen, damit sie privilegiert und zufrieden sind. Das kommt auch in anderen Branchen vor. Der Chef bei Volkswagen erhält 17 Millionen Euro, doch fällt für die Arbeiter immerhin auch ein wenig ab. Es ist eine ausgeprägte sektorale Arbeiter-Aristokratie.

Das Argument ist zirkulär: Die Verkaufspreise (der „Output“) hängen im Wesentlichen vom Faktor­einsatz ab, d. h. von den Faktorkosten, und diese werden wiederum durch das „Grenzprodukt“ erklärt, d. h. die Preise. Der physische Output, also z. B. Stahl, kommt gar nicht vor. Nur am physischen Output ließe sich aber technische Produktivitätsveränderung unzweifelhaft erkennen. Alles Andere muss erst einmal belegt werden. Insbesondere stellen „Erziehung“ und „Bildung“ im Wesentlichen den Klassenaspekt der Produktionsverhältnisse dar. Die wenigsten Bildungs­elemente sind in der Produktion von Nutzen (daher „pseudo-meritokratisch“). Akademische Bildung wird von der geschichteten Gesellschaft der Gegenwart höher bewertet. Dass sie physisch produktiver ist, müsste erst einmal bewiesen werden. Das ist in einer hoch vernetzten und total komplementären Gesellschaft bzw. Wirtschaft praktisch und theoretisch unmöglich. Humankapital ist also die sprachlich-technokratische Verkleidung eines Klassen-Verhältnisses. Es ist der Ausdruck eines herrschaftlichen Verhältnisses in einer global hierarchisch geordneten Welt. Herkunft zählt, nicht weil sie technisch bedeutsam ist, sondern weil sie den kleinen Unterschied ermöglicht. Und Herkunft muss man sehr „intersektional“ denken, um in den postmodernen Jargon zu verfallen: Verweiblicht ein Beruf, dann sinkt das Einkommen daraus, auch wenn sich technisch nichts ändert. Das ist strukturell dasselbe wie die Abwanderung vieler Produktionen in die Dritte Welt.

„Humankapital“ ist ein kulturabhängiger Komplex von schichtspezifischen Verhaltens- und Denkweisen. Kulturspezifisch waren denn auch bis vor historisch kurzer Zeit die unterschiedlichen Produktionsweisen. „Spuren“ davon, nämlich wesentliche Produktivitätsunterschiede zwischen verschiedenen Regionen, haben sich bis in die Gegenwart erhalten. Das Humankapital der Tradition war wesentlich auf die sozialen Beziehungen ausgerichtet. Das gilt natürlich auch für die westlich-europäische Welt heute. Eine quasi asoziale Technik ist ein Konzept, welches nur aus der absoluten sozial-politischen Dominanz der okzidentalen Kultur entstehen konnte. Das heißt nicht, dass unsere Technik keine Rolle spielt. Wohl aber heißt es, dass die Bewertung sowohl der Produktion als auch der zu ihr hinführenden Technik nicht zuletzt auch eine Frage der Bewertung ist, der westlichen Hegemonie. Das aber gilt es bei jeder Analyse mit zu bedenken.

Die plötzliche Sorge um die Integration von Zuwanderern aus einigen Ländern und die Vergeudung deren „Human-Kapitals“ ist im Wesentlichen ein Versuch, die pseudo-meritokratische Struktur unserer Klassengesellschaft zu stärken und die irgendwie altmodische erkennbare Diskriminierung auf Grund von Herkunft einzugrenzen auf Fälle, die man leichter rechtfertigen kann.

II. Globale Einkommensdifferenzen: Dort, wo sie zählen
Der Unterschied zwischen dem Output pro Arbeitskraft – man kann auch mit vertrauterem Klang sagen: des BIP pro Kopf – zwischen den USA und den schlecht entwickelten Ländern ist riesig. Er macht z. B. zu Äthiopien das 132fache aus, wenn man in Wechselkursen (Äthiopien 2010: $ 361), und immer noch das 48fache, wenn man zu Kaufkraftparität rechnet (Äthiopien: 1.003; USA: $ 47 700 sowohl für Wechselkurse als auch für Kaufkraftparität, da sie das „switch-Land“ sind). Aber weder die Kapital­ausstattung noch der Unterschied in der Bildung – die für die USA notorisch überschätzt wird – „erklärt“ rechnerisch mehr als einen kleinen Teil dieses Unterschieds. Rund 80 % bleiben „unerklärt“.

Nun könnte man die einzelnen Komponenten näher ansehen. Die Kapitalausstattung zeigt riesige Unterschiede. Der Kapitalkoeffizient K/Y wurde z. B. für Äthiopien auf 0,5 geschätzt, für Ägypten auf 0,4, für Österreich dagegen auf 3,0 [fn]McGrattan, Ellen R. / Schmitz, James R. (1008), Explaining Cross-Country Income Differences. Federal Reserve Bank Research Staff Report.[/fn] (die österreichische Statistik hat dagegen wenige Jahre später den Kapitalkoeffizienten mit 3,7 berechnet). Diese Schätzung beruht auf globalen Preisen bzw. Werten. Würde man sie (z. B. mit einem I-O-Modell) in nationalen Arbeitswerten schätzen, dann würden für die Dritte Welt mit Sicherheit wesentlich höhere Werte, etwa dasselbe wie für uns, heraus kommen. Das ist theoretisch absolut fundamental, doch können wir die Thematik hier nicht weiter verfolgen.

US-amerikanische Untersuchungen [fn]Hendricks, Lutz (2002), How Important is Human Capital for Development? Evidence from Immigrant Earnings. In: AER 92, 198 – 219.[/fn] kamen zum Schluss, dass die Unterschiede zwischen den Ländern im Output pro Kopf weder durch Technikausstattung noch durch Humankapital noch durch TFP (Total Factor Productivity; Gesamtfaktor-Produktivität) erklärt werden können. Das ist ein überaus wichtiges Ergebnis. Aber diese Untersuchungen erklären den Unterschied durch den Unterschied. TFP ist eine Residualgröße, der nicht erklärbare Rest der Produktivitätsunterschiede, das „Solow-Residuum“. Man muss es also interpretieren. Das Konzept wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert erfunden. Rein quantitative Kapitalakkumulation (Modell Harrod-Domar) kann den stetigen Produktivitätszuwachs nicht erklären. Man hat damals technischen Fortschritt als deus ex machina herangezogen. Heute packt man Alles hinein, von der Infrastruktur bis zu staatlichen Institutionen.

Diese Faktoren dürften alle eine ziemlich hohe Bedeutung haben – aber anders, als in der mainstream-Ökonomie behauptet. Bislang wurde dies aber nur angenommen, nicht bewiesen. Sehen wir uns nun die Argumentation an.

Trotz all dem ist das entscheidende Ergebnis: „Die Einkommen sind bestimmt vom Land, wo die Personen arbeiten, nicht von dem, aus welchen sie [z. B. als Immigranten] kommen. … Physisches und Humankapital können die Unterschiede in den Einkommen zwischen den Ländern zum größten Teil nicht erklären“.[fn]Hendricks, Lutz (2002), How Important is Human Capital for Development? Evidence from Immigrant Earnings. In: AER 92, 198 – 219.[/fn]

Das Unvermögen, die Wohlstandsunterschiede zu erklären, hängt von den Grundannahmen der mainstream-Ökonomie ab. Wechselt man von der neoklassischen Ideologie in eine Kostenwert-Auffassung (z. B. in eine Arbeitswerttheorie), dann wird das Bild klarer. Wir dürfen allerdings diese Kosten- oder Arbeitswert-Auffassung nicht zu orthodox marxianisch sehen. Es kommt auf die Lohnbestimmung an. Und die ist keineswegs technisch vorgegeben. Es ist eine essenziell politische Angelegenheit, und zwar in doppelter Weise: einmal hängt sie von der Zugehörigkeit zum politischen System eines Kern- bzw. eines Peripherie-Lands ab; und einmal von der Frage nach den politischen Möglichkeiten der Arbeitenden innerhalb des betreffenden Lands und seines globalen bzw. regionalen Kontexts.

Beginnen wir mit Letzterem. Sind die Arbeitenden in der Lage, ihren Wert, ihren Lohn in einem bestimmten Umfang durchzusetzen, dann wirkt dies auf die Bewertung des Produkts zurück. Das kann ein materielle Produkt sein, oder ein Dienst. „Gehobene Dienste“ sind solche, die in der Regel von gut bezahlten Akademikern geleistet werden und daher teuer sind. Das ist ein Klassenaspekt. Die meisten dieser Dienste könnten auch von formal weniger gebildeten Menschen angeboten werde. Aber das ist oft nicht erlaubt. Die VerkäuferInnen in Apotheken müssen nun einmal akademisch gebildet sein. Und vergessen wir nicht: Die VGR nimmt die öffentlichen Dienste, und diese Dienste machen mittlerweile ein Drittel des BIP aus, mit den Faktorkosten in die Entstehungsrechnung.

Gehen wir zu einem beliebigen materiellen Produkt der Ersten Welt. Dies wird nach einer Kostenrechnung nicht zuletzt nach den Marktaussichten im Inland verkauft; aber es geht auch in den Export. Und hier sind wir schon beim zweiten politischen Faktor. Hier wiederum ist es auch eine Frage der Hegemonie, welchen Preis man auf dem Weltmarkt durchsetzen kann. „Inca Cola“ in Peru schmeckt wie „Red Bull“. Aber es ist seit Jahrzehnten eine belächelte lokale Marke. Red Bull dagegen, in irgend einer obskuren Quetsche in Österreich erzeugt, jedoch aus einem Land des hoch entwickelten Kerns, wurde mit viel Geschick und Aufwand auf dem Weltmarkt gepusht und dort angenommen. Nun ist es plötzlich ein Hochwert-Produkt und hat dem Herrn Mateschitz ein riesiges Vermögen verschafft. Ähnlich hatte die „Praktika“ aus der seinerzeitigen DDR trotz ihrer hervorragenden Optik gegen die modische „Canon“ oder sogar die „Yashika“ im Westen keine Chance; und editorisch und drucktechnisch (leider nicht im Papier) mustergültigen DDR-Ausgaben literarischer Klassiker wurden in Österreich um ein Bruchteil des Preises der hiesigen Ausgaben verkauft. Die Beispiele sind aufschlussreich: Es geht häufig keineswegs um irgendwelche Hightech-Produkte. Es geht vielmehr darum, dass die Herkunft aus einem Land des Kerns, welches an der Definition von Hegemonie mitwirkt, dem Produkt Prestige und Erfolg verschafft, wie es einem Produkt der Dritten Welt kaum einmal gelingt. Der „Wert“ der Produkte aus der Dritten Welt und damit das Einkommen in diesen Ländern hängen in quantitativ hohem Maß von der politischen Stellung des Lands und von der kulturellen Hegemonie des Westens ab.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Die weitere Analyse ist theoretisch und empirisch hochkomplex, und alle Zusammenhänge sind damit keineswegs schon klar. Wohl aber heißt es: Die technokratische Rechtfertigung westlicher Dominanz ist eine Ideologie.

Die globale Klassenstruktur ist nur in bescheidenem Ausmaß in dem Sinn (pseudo-)meritokratisch, wie es unser eigenes westliches System zu sein vorgibt. Sie baut auf ganz anderen, weitaus diffuseren Kriterien auf und ist im Wesentlichen kulturalistisch. Hier fand die Globalisierung des westlichen Modells bis jetzt eine ziemlich scharfe Grenze, wenn man sie als Replik des westlichen Modells auf Weltebene verstehen will. Die globale Klassenstruktur ist wesentlich von regionalen Zugehörigkeiten abhängig. Die wiederum spiegeln kulturelle Dimensionen wieder. Der „Entwicklungsstand“ ist u. a. auch eine solche kulturelle Dimension. Man sie wieder in mehrere Faktoren zerlegen: das Sozialsystem; die politische Struktur; die Erwerbsmentalität, usf. Inwieweit die materielle Infrastruktur (Kommunikation; Verkehr; Bildungseinrichtungen; usf.) auch dazu zählt, ist von der Fragestellung abhängig.