Nach dem Sturz von Mubarak hat die Muslimbruderschaft einen instabilen Block mit dem Obersten Militärrat (Supreme Council of the Armed Forces, SCAF) gebildet. Was ist der Grund dafür und wird sie ihn erhalten können?
Der Block wird vor allem durch den Einfluss der USA in der Region bestimmt. Wir reden hier nicht von einem Block zwischen Militärrat und Muslimbrüdern, sondern zwischen dem Militärrat, den Muslimbrüdern und den USA.
Beginnen wir mit der Armee. Ihre Anführer waren mit der Revolution einverstanden, weil sie Mubarak und seinen Sohn loswerden wollten, da diese versucht hatten, den Einfluss der Armee einzuschränken. Sie waren gegen die Übertragung von Mubaraks Macht auf seinen Sohn.
Das war ein sehr gefährliches und schwieriges Unterfangen, da es eine gewaltige, revolutionäre Bewegung auf der Straße gab und gleichzeitig die mächtige Organisation der Muslimbruderschaft. Also versuchte die Armee, einen Deal mit den Muslimbrüdern auszuhandeln, um die Macht zu teilen – ein Arrangement, in das die USA involviert waren. Washington hatte aus seinen Fehlern im Irak gelernt und versuchte, mit lokalen Stellvertretern zu spielen, wofür die Muslimbrüder mit ihren über das ganze Land verteilten Zweigstellen ein idealer Kandidat waren. Das Beispiel der türkischen Islamisten vor Augen, gestützt auf saudisches Kapital und auf die Idee einer regionalen sunnitischen Koalition sah es nach einer durchführbaren Möglichkeit aus. Die Verhandlungen begannen bereits vor der Revolution und wir glauben, dass sich Mubarak dessen bewusst war. Das ist der Grund dafür, dass er die Muslimbrüder nach der letzten Wahl 2010 alle aus dem Parlament warf. Wir haben uns immer bemüht, diesen dummen Fehler zu verstehen, da Mubarak ihnen zuvor immer einen bestimmten Anteil an Sitzen überlassen hatte. Dieser Schachzug, sie aus dem Parlament zu entfernen, verärgerte die Leute und war ein Grund dafür, dass die Revolution ausbrach. Aber jetzt können wir diese Episode verstehen. Er wusste, dass die Amerikaner auf die Muslimbrüder setzen würden, also warf er sie hinaus.
Nach dem Sturz von Mubarak entstand die Bewegung in der gesamten Region. Die Muslimbruderschaft ist überall und besonders in Syrien setzten die USA auf sie. Die meisten der Bewaffneten sind Islamisten, entweder Muslimbrüder oder Salafiten. Aber dieses Setzen der USA auf die Muslimbruderschaft bringt auch eine Schwäche zum Ausdruck: Sie haben keine andere Option. Doch auf der anderen Seite können die USA die Muslimbrüder erpressen, da sie ihre diversen Projekte in den verschiedenen Ländern jederzeit torpedieren können, wenn sie wollen.
In einem gewissen Sinne haben also die USA dem Militär die Muslimbrüder aufgezwungen, was Probleme verursachte. Laut Washingtons Plan soll die Muslimbruderschaft regieren und die Armee soll sie in Schach halten. Aber für die Generäle ist das nicht genug. Sie wollen mehr, und darum senden sie wütende Signale in Richtung Washington, wie etwa die Gerichtsverfahren gegen US-amerikanische NGOs.
Der Konflikt schafft zunehmend eine instabile Situation, die uns alle verwirrt. Die Mitglieder des Trios jedenfalls benötigen die jeweils anderen, während sie sich gleichzeitig schaden. Je länger dieser Konflikt andauert, umso mehr wird er uns stärken.
Der Tahrir und die Linke kämpfen gegen den Militärrat und diesen Machtblock. Gibt es Chancen, diese Allianz zu brechen? Oder ist es sogar unangebracht, von der Linken zu sprechen?
Letzten Endes ist es eine linke Bewegung. Und ein großer Teil davon ist sehr radikal. Sie hat gegen den Militärrat gekämpft und nur indirekt gegen den Block. Erst in letzter Zeit hat sie die Muslimbruderschaft zu ihren Feinden hinzugefügt. Die Bewegung hat beinahe ein Jahr gebraucht, um zu verstehen, dass die Muslimbrüder ein Teil dieses Blockes ist. Für einige Leute war die Idee, dass die Muslimbrüder ein US-Agent sein könnten, unvorstellbar. Aber es wird offensichtlicher, je mehr Zeit vergeht.
Wenn der Konflikt zwischen Militärrat und Muslimbruderschaft noch längere Zeit anhält, wird er beiden ernste Probleme bereiten. Aber sie beginnen zu verstehen, dass sie sich gegenseitig schaden. Wenn also ihr Konflikt schnell endet und es ihnen gelingt sich zu einigen, dann haben sie eine Chance.
Die Linke und der Tahrir sind immer noch nicht stark genug, um es mit diesem Block aufzunehmen. Wir müssen auf ihre internen Gegensätze setzen, ihre Beziehungen zu den USA und zu den Salafiten. Gleichzeitig benötigen wir eine wesentlich breitere Perspektive im Kampf gegen die Herrschaft der Armee und für eine zivile Herrschaft.
Die wichtigen Errungenschaften der Muslimbrüder sind die Wahlen, die eine Möglichkeit darstellen, der Bewegung auf der Straße Einhalt zu gebieten. Ist das nicht eine Falle für die Linke?
Ja und nein. Wir haben wegen den Wahlen, dem Parlament viel verloren. Aber letzten Endes hat das Parlament viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil die Muslimbrüder es in Richtung Marionette des Militärrats steuern, da sie eine Vereinbarung haben. Der Militärrat versucht, die Muslimbrüder unter Druck zu setzen, und umgekehrt. Aber sie sind sehr darauf bedacht, sich gegenseitig nicht zu sehr zu delegitimieren. Das hat der Glaubwürdigkeit des Parlaments geschadet.
Natürlich ist die Mehrheit mit dem Parlament, aber die Mehrheit hat auch nicht an der Revolution teilgenommen. Revolutionen sind das Unternehmen einer fortgeschrittenen Minderheit. Was wir brauchen, ist, dass das Parlament bei jenen an Glaubwürdigkeit verliert, die die Revolution unternommen haben. Ich würde sagen, dass etwa die Hälfte von ihnen bereits jetzt zu dem Schluss gekommen ist, dass das Parlament nichts getan hat, außer jene zu attackieren, die dem Militärrat entgegentreten. Es hat die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse genauso wenig verändert wie die Privilegien der Eliten, die sie vom Mubarak-Regime geerbt haben. Sie versuchen, dasselbe Regime zu reproduzieren, gegen das wir revoltiert haben. Momentan können wir sagen, dass ein Viertel der Bevölkerung gegen den Militärrat ist, aber nicht alle von ihnen sind gegen die Muslimbruderschaft oder das Parlament. Die Menschen haben ihre Hoffnung verloren und diese Hoffnung verlagert sich auf die Präsidentschaft. Wenn die Dinge so weitergehen wie bisher, wird das Parlament mehr und mehr zu einer Kopie von Mubaraks altem Parlament.
Führt die Blockbildung Militärrat–Muslimbruderschaft zu Problemen innerhalb des islamischen Milieus? Gibt es eine Möglichkeit, einen Teil des islamischen Umfelds vom Militärrat zu distanzieren und in eine Allianz mit dem Tahrir bzw. der Linken zu bringen?
Ich denke nicht, dass so etwas möglich ist. Der islamistische Block wird überleben. Die Islamisten werden gehorchen. Die Salafiten vom Tahrir sind eine sehr, sehr kleine Minderheit des Blocks. Und in der momentanen Situation ist auch der linke Flügel der Muslimbrüder, der hinausgeworfen wurde, eine sehr kleine Minderheit. Der Hauptblock wird aus dieser Situation intakt herauskommen, aber Wählerstimmen verlieren. Die meisten Menschen, die ihnen ihre Stimme gaben, haben das getan, weil sie das für ihre Pflicht als gute Muslime hielten. Und sie haben es für die Stabilität getan, denn dafür sind die Muslimbrüder seit Jahren gestanden, auch gegen Streiks und Umbrüche. Die Mehrheit sehnt sich nach Stabilität.
Versucht der Militärrat, die Anti-USA-Karte zu spielen, um die Muslimbrüder in das pro-imperialistische Eck zu stellen?
Der Kampf zwischen den USA und dem Militärrat ist real. Aber er ist nicht tiefgreifend, beide sind im selben Lager. Sie haben gegensätzliche Meinungen, wie sie mit den Angelegenheiten in Ägypten umgehen sollen und wieviel Autorität der Militärrat erhalten soll. Dieser Konflikt bedeutet jedenfalls nicht, dass die Muslimbruderschaft in das pro-imperialistische Lager gedrängt wird – sie sind bereits dort. Sie glauben, sie könnten mit den Amerikanern arbeiten, mit ihnen spielen, das Maximum an Profit herausschlagen und sich dann ihrer entledigen. Das ist ein gewaltiger Fehler. Die Muslimbruderschaft hatte einiges an Legitimität im Volk und ein anständiges Wahlergebnis. Sie haben das alles benutzt, um ein Abkommen mit den Amerikanern auszuhandeln, und nicht, um das Land auf Vordermann zu bringen. Und sie werden so weitermachen. Ihr Programm ist neoliberal, sie wollen die Multis hereinholen und sie verlassen sich mehr und mehr auf Saudi-Arabien. Sie sind mit den Amerikanern im Bett, egal was der Militärrat macht. Mehr und mehr regionale Projekte der Muslimbrüder brodeln und entwickeln sich und je mehr es werden, umso mehr werden sie von Washington und dem Militärrat abhängig sein: Trotz des internen Kampfes werden sie letztlich einen Kompromiss finden, denn am Ende sind sie aufeinander angewiesen.
Was ist Ihre Position zu den Präsidentschaftswahlen?
Genau wie bei den Parlamentswahlen wissen wir nicht, wofür wir eigentlich abstimmen. Wir kennen die Befugnisse des Parlaments nicht und wir wissen nicht, worum es bei der Präsidentschaft geht. Die Beschreibung dieser Aufgabe sollte in der Verfassung festgehalten werden, die bisher nicht geschrieben wurde. Das gilt für alle Funktionen des Staates, wie der Legislative, der Judikative und der Exekutive. Aber bei der Präsidentschaft ist das noch einmal schlimmer, da es hier viele verschiedene Modelle gibt. Es gibt die parlamentarische Variante, bei der die Präsidentschaft eher eine repräsentative Funktion hat, wie in den meisten europäischen Ländern, oder einen sehr starken Präsidenten wie in den USA oder wie in Ägypten während Mubaraks Herrschaft. Wir entscheiden uns aber zuerst dafür, wer es sein wird, und erst dann entscheiden wir, was seine Vorrechte sein werden – das ist natürlich Unsinn. Sie machen das, um all ihre Figuren in Position zu bringen, damit der Militärrat seine Autorität festigen kann, bevor er die Regierung verlässt und eine Marionette hinterlässt.