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Niederlage der revolutionären Mehrheit
14. Januar 2013 - Mohammad Aburous

Zwischen den beiden Wahlrunden lösten die Militärs das Parlament auf und schränkten die Kompetenzen des kommenden Präsidenten stark ein, was einem Militärputsch ähnelt. Das lange Zurückhalten der Ergebnisse der Stichwahlen und die jeweiligen Mobilisierungen der Muslimbrüder und der Regimeanhänger deuten auf eine Krise hin, die hinter den Kulissen gelaufen sein muss, bevor die Wahlkommission den Kandidaten der Muslimbrüder Mursi zum Wahlsieger eines inzwischen ausgehöhlten Amtes erklären konnte.

Der erste Wahldurchgang
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erhielt Mursi 26 % der Stimmen, gefolgt vom Kandidaten des Regimes Schafiq, der in der Lage war, 25 % der Stimmen für sich zu gewinnen. An der dritten und vierten Stelle lagen der Panarabist Hamdin Sabahi und der Muslimbrüder-Abgänger Abu-Futuh mit 18–20 %.

Sieht man von einer möglichen Wahlfälschung ab, so führte die Spaltung der revolutionären Stimmen zwischen Sabahi und Abu-Futuh dazu, dass die Stichwahlen zwischen dem Kandidaten des alten Regimes und jenem der traditionellen Muslimbrüder-Führung stattfinden mussten. Die Tatsache, dass die Wahlen unter den vom Militär diktierten Bedingungen stattfanden (ohne Verfassung und mit einem regierenden Militärrat), sowie der Wahlausgang selbst stellten einen Sieg für das alte Regime dar.

Die erste Überraschung
Das Verhalten der Muslimbrüder zu den Präsidentschaftswahlen war von Anfang an widersprüchlich. Anfangs betonten sie, sie würden keinen eigenen Kandidaten stellen.

Als Abu-Futuh seine Bereitschaft bekanntgab, als Unabhängiger zu kandidieren, wurde er von den Muslimbrüdern ausgeschlossen. Indem sie sich auf ihre parlamentarische Mehrheit und die Hoffnung auf Machtbeteiligung konzentrierten, entfernten sich die Muslimbrüder von der Tahrir-Bewegung. Mehrere politische Manöver, in denen sie näher zum Militärrat standen als zur Protestbewegung, kosteten sie viel an Glaubwürdigkeit und Popularität. Revolutionäre Elemente (vor allem die Tahrir-Jugend) wurden sogar von ihnen ausgeschlossen und gingen zu Abu-Futuh über, und kurzfristig schien es, als ob dieser sich als der Träger einer neuen, modernen islamischen Bewegung etablieren könnte.

Die Kandidatur des ehemaligen Geheimdienstchefs Omar Suleiman und die anfängliche Ablehnung der Militärs, ein Politikverbotgesetz für Mubarak-Männer zu akzeptieren, lockte die Muslimbrüder zur Präsidentschaftskandidatur. Ihr erster Kandidat, Schahhat, wurde ausgeschlossen, da er vorbestraft war und die Islamisten im Parlament es verabsäumt hatten, unter Mubarak bestrafte Aktivisten zu rehabilitieren.

Der Ersatzkandidat, Mursi, galt als schwache Figur, die praktisch keine pro-revolutionäre Vorgeschichte hatte. Mursi ist so uncharismatisch, dass er auch als „Ersatzreifen“ bezeichnet wurde. Trotzdem waren die Muslimbrüder in der Lage, mit den traditionellen Methoden (religiöse Mobilisierung, Stimmenkauf) ihre Wähler zu mobilisieren und mit einer schwachen Figur eine gute Mehrheit zu gewinnen. Muslimbrüder-Parlamentschef Katatni schrieb auf Twitter: „Selbst wenn wir einen Hund als Kandidaten aufgestellt hätten, hätte er gewonnen.”

Nichtsdestotrotz waren die Muslimbrüder in den großen Städten nicht die dominierende Kraft. Sie verloren im Vergleich zu den Parlamentswahlen etwa die Hälfte der Wählerstimmen an Kandidaten, die für einen demokratischen, praktisch säkularen Staat auftreten (Schafiq, Dabahi, Abu-Futuh und Mussa).

Die zweite Überraschung
Sieht man von der Möglichkeit einer Wahlfälschung ab, so ist der zweite Platz für Schafiq im ersten Wahldurchgang die zweite Überraschung. Sie deutet auf die Tatsache hin, dass das Regime ebenfalls mit traditionellen Methoden (Stimmenkauf, Erpressung von Angestellten, Kirche) mit einer fast nicht ernst zu nehmenden politischen Figur wie Schafiq in der Lage war, an zweiter Stelle zu landen und „revolutionäre“ Kandidaten zu überholen. Überraschend ist hier auch, dass der andere Kandidat des Regimes, Amr Mussa, mit 10 % weit zurückliegt, da er offensichtlich nicht die Gunst der Militärs genießt.

Ein weiterer Faktor ist die Angst vieler Bevölkerungsgruppen vor einer Machtübernahme der Islamisten. Die koptische Kirche unterstützte Schafiq, was aus dem Wahlverhalten der Christen in den Armenvierteln und vor allem auf dem Land abzulesen ist.

Ein Sprecher des Wahlkampfteams von Schafiq konnte sich angesichts der Ergebnisse nicht zurückhalten, das „Ende der Revolution“ zu erklären. Die Tatsache, dass Schafiq den Einzug in die zweite Wahlrunde geschafft hat, hat große Teile der Opposition hinter dem (wenn auch nicht revolutionären) Muslimbrüder-Kandidaten versammelt.

Kandidat der Linken an dritter Stelle
Eine weitere Überraschung waren die guten Ergebnisse des säkularen, nasseristischen (pan­arabistischen) Kandidaten Hamdin Sabahi. Er lag im ersten Wahldurchgang an dritter Stelle knapp hinter Schafiq und überholte den Islamisten Abu-Futuh um einige Prozentpunkte. Abu-Futuh erhielt vor allem die Stimmen der Salafiten, deren Kandidat Hazem Ismail aus formalen Gründen von den Wahlen ausgeschlossen worden war. Er bekam auch die Stimmen von großen Teilen des revolutionären Lagers ( Muslimbrüder-Jugend, Linke und selbst Nasseristen). Sie hatten in Abu-Futuh einen Konsenskandidaten gesehen, der in der Lage wäre, auch pro-islamische Stimmen aus dem Umfeld der Muslimbrüder zu bekommen. Sabahi, der von allen Kandidaten über die geringsten Mittel verfügte, kam jedoch an dritter Stelle. In Alexandria und in mehreren Vierteln Kairos lag er sogar in Führung.

Diese Fehleinschätzung der Linken kostete Sabahi wertvolle Stimmen, die ihn in die zweite Runde hätten bringen können. Das Bedürfnis großer Teile der Bevölkerung nach einer nichtreligiösen Opposition zum Regime wurde unterschätzt.

Abu-Futuh konnte das Muslimbrüder-Lager nicht spalten
Sabahi hat auch Abu-Futuh um wertvolle Stimmen gebracht. Die Summe der Stimmen beider Kandidaten des revolutionären Lagers hätte einen Kandidaten theoretisch in die Stichwahl befördert.

Auch wenn Abu-Futuh einen großen Teil der pro-revolutionären Stimmen erhielt, so blieb die Kernwählerschaft der Muslimbrüder unbeeinflusst. Sogar Nasseristen haben ihn gewählt, weil er als der sicherere Kandidat galt, der Stimmen aus dem islamistischen Lager holen würde.

Mit etwa 40 % der Wählerstimmen gelten jedoch Sabahi und Abu-Futuh als die Anführer des revolutionären Lagers. Mit einer offiziellen Politik, die traditionell das Regime und die Muslimbrüder als zwei Pole sieht, ist die Angst der Wähler vor dem Verlust ihrer Stimmen dominierend. Es werden daher die „sichereren“ Kandidaten gewählt. Viele Christen und Nichtreligiöse wählten Schafiq aus Angst vor den Islamisten. Viele RevolutionärInnen wählten Abu-Futuh als den vermeintlich sichereren Kandidaten. Kandidaten links von Sabahi bzw. moderate Islamisten schnitten bei diesen Wahlen sehr schlecht ab.

Signifikanter Wahlboykott
Die Wahlbeteiligung lag weit unter jener der Parlamentswahlen im Herbst 2011. Ein wichtiger Teil der AktivistInnen boykottierte die Wahlen, weil diese ohne Verfassung und unter einem Militärregime stattfanden. Dazu kam eine zunehmende Passivität der Bevölkerung, da die Machtlosigkeit des Parlaments dunkle Schatten über die Perspektive eines Machtwechsels mit Hilfe von Wahlen wirft. Obwohl er signifikante Ausmaße annahm, konnte der Wahlboykott angesichts dieser Ergebnisse seine politische Botschaft nicht vermitteln. In Kairo herrscht heute Frustration. Die Bewegung zahlt derzeit den Preis für ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame politische Linie bzw. eine konsensuelle Führung zu bestimmen.

Die bitteren Optionen
In die zweite Wahlrunde kamen ein nicht-revolutionärer Kandidat der Muslimbrüder und der konterrevolutionäre Kandidat des Regimes. Diese Konstellation war sowohl für Muslimbrüder als auch für das Regime am günstigsten, weil sie nicht gegen einen Kandidaten der revolutionären Kräfte antreten mussten. Die Mobilisierung konnte daher auf einer anderen Ebene stattfinden: Die Muslimbrüder erpressten praktisch die Massen mit der Möglichkeit einer „demokratischen“ Wiederherstellung des Mubarak-Regimes. Schafiq hat sich auch bei Versprechungen, „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen, nicht zurückgehalten. Jedoch verabsäumten die Muslimbrüder deutlich die Chance, ein breiteres politisches Spektrum hinter sich zu mobilisieren und die Führung der Opposition zu übernehmen. In den anderen Gruppen der Opposition gab es weniger Begeisterung darüber, dass die Muslimbrüder sowohl das Parlament als auch das Präsidentenamt unter ihrer Kontrolle haben würden.

Das Regime hatte auf der anderen Seite einen „günstigen Gegner“ und war daher erneut in der Lage, die Ängste vieler Gruppen vor einem islamistischen Präsidenten zu nützen.

Sowohl für das Regime als auch für die Muslimbrüder war diese Konstellation angenehm. Beide mussten nicht gegen revolutionäre Kräfte antreten. Die Wahlkampagnen der Kandidaten in der zweiten Runde erweckten vielmehr den Eindruck, dass weder Regime noch Muslimbrüder an diesem Amt interessiert waren. Die Muslimbrüder-nahe Partei genoss eine absolute Mehrheit im Parlament, die sie, um einen Konflikt mit den Militärs zu vermeiden, kaum für grundlegende Veränderung genützt hat. Ein weiteres Amt würde sie stärker in eine Konfrontation mit den Militärs bringen. Die Militärs und ihr Kandidat Schafiq gingen die Sache ebenfalls locker an. Im Falle einer Niederlage gegen Mursi würden sie Wege finden, die Machtübergabe unendlich hinauszuzögern. Im Falle eines Sieges wäre die gesamte Demokratiebewegung in Frage gestellt.

Konstitutioneller Putsch der Militärs
Die Verhältnisse veränderten sich dramatisch, als noch vor der zweiten Runde ein Urteil des Obersten Gerichtshofes ein Gesetz als verfassungswidrig annullierte, auf dessen Basis etwa ein Drittel der Parlamentsabgeordneten kandidiert hatte. Die Militärs lösten das Parlament schließlich ganz auf und kündigten neue Wahlen an. In derselben Woche ließen sie eine zweite Bombe platzen: Der Militärrat gab eine „Erklärung zur Ergänzung der Verfassung“ heraus, in der die wichtigsten Kompetenzen des Präsidenten aufgehoben und bis zur Wahl eines neuen Parlaments an den Militärrat übergeben wurden.

Diese beiden Schritte kommen einem Militärputsch gleich. Sie wurden von einer dritten, weniger auffälligen Erklärung ergänzt, in welcher der Militärpolizei zivilpolizeiliche Befugnisse eingeräumt werden. Somit zogen die Militärs sowohl die exekutiven als auch die legislativen Kompetenzen an sich. Es wurden für diesen Putsch exakt jene konstitutionellen Lücken genutzt, vor denen die Revolutionäre gewarnt hatten und welche die Muslimbrüder in ihrer Machtgier nicht sehen wollten. Dass die Stichwahl dadurch zu einer Farce wurde, hielt Mursi nicht davon ab, sich an der Wahl zu beteiligen. Vorschläge, sich aus den Wahlen zurückzuziehen und einen revolutionären Präsidentschaftsrat unter der Führung Mursis zu gründen, wurden von den Muslimbrüdern abgelehnt.

Wahlergebnisse als Druckmittel
Zu dieser Zeit füllte sich der Tahrir-Platz von Neuem. Revolutionäre Kräfte demonstrierten gegen den konstitutionellen Putsch der Militärs. Die Muslimbrüder folgten schüchtern den Protesten und arbeiteten daran, die Forderungen der Demonstranten auf die Anerkennung der Wahl von Mursi zu beschränken.

Die Massenbewegung nahm die Auflösung des Parlaments lockerer auf als die Präsidentschaft, denn niemand wollte ein Parlament verteidigen, das noch vor kurzem ein Demonstrationsverbot erwogen hatte. Auch die Muslimbrüder akzeptierten das Urteil.

Eine Gegenmobilisierung brachte hunderttausende Regimeanhänger nach Nasr City. Sie wurden symbolisch rund um jene Bühne angeordnet, auf welcher der ehemalige Präsident Anwar Sadat erschossen worden war, was für Spannungen sorgte. Eine große Militärpräsenz vor der Bekanntgabe der Wahlergebnisse deutete auf eine mögliche Verfälschung zugunsten Schafiqs hin, dessen Anhänger bereits den Sieg feierten.

Da Tage vergingen, bis die Wahlergebnisse verkündet wurden, kann man davon ausgehen, dass es hinter den Kulissen geheime Verhandlungen zwischen den Militärs und den Muslimbrüdern gab. Mursi erhielt schließlich das Präsidentenamt und die Muslimbrüder akzeptierten die „Erklärung in Ergänzung der Verfassung“. Beide Seiten übten Druck aufeinander aus.

Dass trotzdem Mursi zum Wahlsieger erklärt wurde, kann auf die Angst der Militärs vor einem neuen Ausbruch des Aufstands (unter Beteiligung der Muslimbrüder) zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund war ein Wahlsieg Mursis für das Regime das kleinere Übel, denn das Präsidentenamt war zuvor seiner wichtigsten Kompetenzen beraubt worden und auf ein symbolisches Amt ohne wesentliche Befugnisse zurückgestutzt worden. Zudem möchten die Militärs in der neuen Regierung die vier wichtigsten Ministerien behalten, nämlich das Verteidigungs-, das Außen-, das Innen- und das Finanzministerium. Die Muslimbrüder beteiligen sich zwar weiterhin an der Tahrir-Bewegung, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Sie sind jedoch an die Spielregeln gebunden, die von den Militärs bestimmt werden. Die Opposition bleibt weiterhin zwischen den opportunistischen Muslimbrüdern und dem konsensunfähigem Rest gespalten.

Da das Parlament aufgelöst wurde, musste Mursi den Eid vor dem Verfassungsgerichtshof ablegen. Mit dieser Handlung hat er die Maßnahmen des Militärrats praktisch anerkannt. Um sich einen Zugang zur einfachen Bevölkerung zu erhalten, legte er in einer symbolischen Geste den Eid vor den Massen auf dem Tahrir-Platz ab, einen Tag, bevor er zum Verfassungsgerichtshof ging.

Es ist offensichtlich, dass der Militärrat nicht gewillt ist, die Macht abzugeben. Er ist in der Lage, sie mit Hilfe mehrerer konstitutioneller und politischer Hürden zu verteidigen und die heterogenen Kräfte der Opposition gegeneinander auszuspielen. Die Muslimbrüder wiederum verbünden sich mit den revolutionären Gruppen nur dann, wenn die Militärs versuchen, sich von Abmachungen mit den Muslimbrüdern loszulösen. Die Tahrir-Kräfte hingegen waren bisher nicht in der Lage, eine gemeinsame politische Führung zu bilden. Zwar können Sabahi und Abu-Futuh nach den Wahlen die Rolle von Konsensfiguren spielen, jedoch tendieren beide dazu, sich auch an die Spielregeln der Militärs und der Muslimbrüder zu halten. Abu-Futuh bekennt sich zwar zur Tahrir-Bewegung, unterscheidet sich jedoch programmatisch kaum von Mursi und bestreitet heute noch, sich gänzlich von den Muslimbrüdern getrennt zu haben. Sabahi präsentierte zwar ein revolutionäres Wahlprogramm, doch er tendiert dazu, die Einschränkung der Kompetenzen gewählter Institutionen zugunsten der Militärs zu akzeptieren, um die Muslimbrüder zu schwächen.

Nach der Vereidigung Mursis scheinen die Sieger letztendlich das Regime und der rechte Flügel der Muslimbrüder zu sein.

Allein die Tatsache, dass diese Wahlen unter den Bedingungen des Militärs und mit Beteiligung der meisten politischen Kräfte stattfanden, ist ein politischer Sieg für das Regime.

Der Kampf um Ägypten ist noch lange nicht entschieden. Weder sind die Militärs in der Lage, mit oder ohne die Muslimbrüder das alte Regime gänzlich oder mit leichten Veränderungen wiederherzustellen, noch sind die revolutionäre Kräfte in der Lage, politische Initiativen zu ergreifen, die ohne Beteiligung der Muslimbrüder Erfolgschancen hätten. Die akuten Fragen von Politik, Wirtschaft und der Menschenrechte werden die Ereignisse beschleunigen.