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“Angst rechtfertigt nicht die Auslöschung”
5. Juni 2009 - Avigail Abarbanel, Elisabeth Lindner-Riegler

Vor kurzem konnte ich bei einem von einer australischen pro-palästinensischen Aktivistengruppe organisierten Abendessen Ali Abunimah sprechen hören. Abunimah, ein Autor und Mitbegründer der “Electronic Intifada”, tritt für die Ein-Staat-Lösung in Palästina/Israel ein – so wie ich das auch tue. Die einzige gerechte Lösung für den nun schon lange andauernden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist ein demokratischer und säkularer Staat für beide Völker einschließlich des Rechts auf Rückkehr für die palästinensischen Flüchtlinge. Abunimah sieht optimistisch in diese mögliche Zukunft. Ich wünschte ich könnte seinen Optimismus teilen, aber es gelingt mir nicht so recht.

Ich bin in Israel aufgewachsen und dadurch ist mir die israelisch-jüdische Psyche sehr vertraut. Teil meiner frühesten Erinnerungen ist es, dass uns in Israel immer gesagt wurde, dass Juden nirgendwo anders hingehen könnten, weil sie nirgends sonst auf der Welt willkommen seien. Als mein früherer Mann und ich vor siebzehn Jahren nach Australien emigrieren wollten, waren die meisten unserer Bekannten bestürzt über unsere Entscheidung. Viele sagten mir, das wäre ein großer Fehler. Der Herzchirurg meines Vaters beispielsweise war geschockt, als er die Nachricht über die Emigration hörte und sagte, dass er nicht verstehe, wie ich nur diesen Gedanken fassen konnte, und dass er nie irgendwo leben könnte, wo auch nur ein Antisemit sein könnte. So wie viele andere glaubte er, dass Juden nur in Israel in Sicherheit leben könnten.
Diese Vorstellung, dass Israel der einzig sichere Ort für Juden ist, ist entscheidend für ein Verständnis der Wurzeln des palästinensisch-israelischen Konflikts als auch der gegenwärtigen israelischen Politik und Perspektiven. In der Frage des Zusammenlebens misstraut die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Nichtjuden. Seit jeher ist die Botschaft ihrer Erfahrungen und ihres kulturellen Verständnisses, dass Herrscher, Regierungen und Bevölkerungen sich ohne Vorwarnung Juden gegenüber feindlich verhalten können. Es gehört zum jüdischen Selbstverständnis, dass sich die Verhältnisse über Nacht gegen die Juden wenden können, unabhängig davon, wie lange sie irgendwo lebten oder wie unauffällig und wohl integriert sie waren oder wie viel sie zur Entwicklung einer Gesellschaft beitrugen.

Angesichts der Geschichte von Verfolgungen in Europa, Pogromen, diskriminierenden Gesetzen, Vertreibungen, Ghettos und schließlich des systematischen Plans der totalen Auslöschung kann man es Menschen nicht verdenken, dass sie sich unsicher fühlen.

Israel ist nicht erst 1948 oder wegen des Holocaust entstanden. Seine Wurzeln sind der Zionismus, die jüdische nationale Bewegung, die im späten 19. Jahrhundert geboren wurde. Das Projekt des Zionismus sollte der prekären Situation der europäischen Juden durch die Schaffung eines ausschließlich jüdischen Staates ein Ende setzen. Die Logik war einfach: Wenn es für die Juden in den Ländern, in denen sie lebten, nicht möglich war sicher zu leben oder bedingungslos willkommen zu sein, dann brauchten sie ihren eigenen Staat. Das bedeutet einen Staat, der ausschließlich von Juden regiert wird und Nichtjuden möglichst ausschließt. Zuerst wurde debattiert, wo diese “jüdische nationale Heimstätte” sein sollte, aber dann einigte sich die gesamte zionistische Bewegung auf Palästina wegen seiner spirituellen Bedeutung für die Juden. Es war bekannt, dass Palästina besiedelt war, und wurde von den Führern der zionistischen Bewegung auch offen gesagt. Dies wurde zwar bedauert, änderte aber nichts an dem Plan eine nationale Heimstätte für die jüdischen Menschen zu schaffen, weil sie diese bitter nötig hätten.

Im zionistischen Projekt rechtfertigen die schon beschriebenen Ängste ethnische Säuberung. Ideen bezüglich eines Transfers der ansässigen nichtjüdischen Bevölkerung von Palästina – also der Palästinenser – irgendwo anders hin, um Raum für einen exklusiv jüdischen Staat zu schaffen, existierten lange vor 1948. Das Wort “Transfer” ist im modernen Hebräisch ein Euphemismus für “ethnische Säuberung”, für die Idee oder den Plan, die Palästinenser massenweise und so weit weg wie möglich von den Grenzen Israels zu vertreiben.

Der Prozess der ethnischen Säuberung Palästinas begann 1948 unter dem Vorwand des Krieges, wurde jedoch nicht abgeschlossen. Er findet noch ständig statt und israelische Gelehrte wie Ilan Pappe glauben, dass die Situation eskaliert. Die zionistische Ideologie ist die Charta, an der sich das heutige Israel orientiert. Dies zu verstehen ist essentiell für das Verständnis der Dynamik des palästinensisch-israelischen Konflikts und für die Analyse des Verhaltens Israels.

Israels Charta ist einfach, da sie von der grundlegenden Überzeugung ausgeht, dass Juden nur in einem exklusiv jüdischen Staat sicher leben können und folglich muss Israel so aufrecht erhalten werden, dass es der sichere Hafen für alle jüdischen Menschen bleibt. Ausgehend von ihren Erfahrungen und ihrem nationalen und religiösen Kontext sind sie fest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann sich die Verhältnisse wieder gegen die Juden wenden werden. Dass es passieren wird, steht außer Frage und dann wird es den Staat Israel geben, der sie aufnimmt und rettet. Ich spreche von “sie” und nicht von “wir”, denn ich persönlich habe diesen Vorstellungen den Rücken gekehrt und bin nicht bereit, mein Leben im Schatten dieses Konzeptes zu leben. Viele Israelis sehen dies als naiv oder sogar verrückt an. Ich habe jedoch für mich beschlossen, aus diesem Gedankengefängnis auszubrechen und meine Chancen in der Welt zu ergreifen, denn ich glaube nicht, dass ich in einem permanenten Zustand der Angst ein lebenswertes Leben führen und meinen Beitrag in der Welt leisten kann.

Die Entwicklung des Staates Israels und sein Agieren in der Region entsprechen voll und ganz seinen grundlegenden Satzungen. Israel geht davon aus, dass es möglichst viel Land und natürliche Ressourcen (wie zum Beispiel Wasser, das in der Region knapp ist) an sich reißen muss, um für die 13 Millionen Juden, die unter den Bedingungen neuerlicher Judenverfolgungen aus allen Teilen der Welt nach Israel strömen werden, Zufluchtsort zu sein. Israel müsste eine funktionierende Wirtschaft, Infrastruktur und Wohnraum bieten können. Es müsste ein moderner Staat sein, in dem sich die Juden aus der westlichen Welt – gewöhnt an Technologie, Kapitalismus und Wohlstand – wohl fühlen könnten.

Wenn man also die grundlegenden Aspekte des israelischen Staates versteht, wird einem klar, dass die israelische Politik gegenüber den Palästinensern eine logische Folge der Charta ist. Es überrascht mich, dass ich keine politische Analyse kenne, wo dies offen diskutiert wird.

Im Wesentlichen geht es bei dem palästinensisch-israelischen Konflikt also nicht um Wirtschaftliches, nicht um Öl oder den “Kampf gegen den Terror”, nicht um religiöse oder regionale Loyalitäten, sondern es geht um eine uralte Geschichte von Verfolgungen und den Kampf ums Überleben. Dieser werden alle anderen Überlegungen untergeordnet. Israels Loyalitäten sind praktischer Natur und lassen kaum Raum für Sympathien mit anderen Völkern oder Ländern. Die Sichtweise der Israelis orientiert sich daran, was für Juden gut oder schlecht ist, und aus diesem Blickwinkel wird die Welt rundherum genauestens beobachtet. So wie ich mit dieser Sichtweise aufwuchs, tun es alle israelischen Kinder – die Welt wird aus diesem engen Blickwinkel beurteilt.

Wenn wir dieses Konzept verstehen, können wir begreifen, warum Verhandlungen mit Israel so wenig bedeuten, warum Israel den Siedlungsbau auf palästinensischem Land nie aufgegeben hat und sein Territorium ständig erweitert, warum es das Leben der Palästinenser innerhalb und außerhalb Israels so unendlich schwer macht, warum es die Palästinenser so brutal auf immer kleiner werdende Gebiete zurück drängt und warum es auf den palästinensischen Widerstand mit solch unverhältnismäßiger Gewalt reagiert. Für Israel ist es entscheidend den palästinensischen Widerstand zu brechen, nicht nur wegen des Leidens, das der bewaffnete Widerstand in Israel verursacht, sondern um jegliche Bestrebungen und Hoffnungen der Palästinenser auf Rückkehr in ihr Heimatland zunichte zu machen. Das ist für das Bestehen eines exklusiv jüdischen Staates notwendig.

Wegen seiner Charta und der Art und Weise wie es entstand, ist Israel ein Land, das auf rassistischen Prinzipien aufgebaut ist. Die Ein-Staat-Lösung würde Israel in ein Land wie viele andere verwandeln, wo Juden mit Nichtjuden zusammen leben. Das würde bedeuten, das Konzept der sicheren Heimstätte für Juden aufzugeben und es gäbe keine Garantie, dass der neue pluralistische Staat Juden, die Sicherheit vor Verfolgung bräuchten, aufnehmen würde. Israelische Juden und viele Zionisten in der ganzen Welt sind der Ansicht, dass das Ansinnen mit dem palästinensischen Volk zusammen zu leben gleichbedeutend wäre mit der Aufforderung sich wieder in einen Zustand der Unsicherheit und der potentiellen Opferrolle zu begeben. Das ist für sie einfach unvernünftig und sie würden nie freiwillig einer Lösung zustimmen, die die Idee ihrer sicheren Heimat aufs Spiel setzen würde. Das ist einer der Gründe, warum die Zionisten jede Art von Kritik an Israel mit den ständigen Vorwürfen, dies sei Antisemitismus, abschmettern. Sie glauben wirklich daran, dass mit der Aufgabe eines exklusiv jüdischen Staates alle Juden in der ganzen Welt einem neuen möglichen Holocaust ausgeliefert wären.

Für mich ist klar, dass diese auf Angst gegründete, rassistische und unmoralische Ideologie überwunden werden muss, wenn Gerechtigkeit für die Palästinenser erreicht werden soll, denn die Angst eines Volkes rechtfertigt in keinster Weise die Auslöschung eines anderen. Ich glaube aber nicht, dass die Palästinenser warten können, bis sich die jüdische Psyche ändert und sich die Juden so sicher in der Welt fühlen, dass sie die Idee eines exklusiv jüdischen Staates fallen lassen.

Ich glaube, dass starker internationaler Druck auf Israel notwendig sein wird (oder es findet tatsächlich ein Gesinnungswandel auf der Seite der Israelis statt), damit eine Ein-Staat-Lösung Realität werden kann. Ich wäre gern optimistisch und würde gern an den Gesinnungswandel glauben, aber es fällt mir schwer. Meine Zweifel sind in meinen Erfahrungen begründet – letztendlich war das ja mein ideologischer Hintergrund. So muss also die Weltöffentlichkeit in diesem Konflikt entschieden auftreten – so wie es auch in der Frage Südafrika der Fall war – um das palästinensische Volk zu retten. Andernfalls geht der Prozess weiter, wo ein Volk für ein anderes geopfert wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Lindner-Riegler. Erstmals erschienen auf electronicintifada.net.